75 Jahre Alters- und Hinterlassenenversicherung

Fast auf den Tag genau vor 75 Jahren hat das Schweizer Stimmvolk die Einführung der AHV beschlossen. Die Frauen waren schon damals ein grosses Thema. Und ein Bundesrat teilte mächtig aus.

Die Jungen sorgen für die Alten: das legendäre Plakat von Hans Erni für die Abstimmung über die Einführung der AHV im Juli 1947.

Schweizerisches Sozialarchiv

Man stelle sich vor: Das Volk stimmt über die AHV ab, und alle sind sich einig. Was heute klingt wie ein naiver Wunschtraum, ist bei der Gründung des Sozialwerks tatsächlich der Fall, jedenfalls beinahe. Am 6. Juli 1947, fast auf den Tag genau vor 75 Jahren, entscheidet das Schweizer Stimmvolk – also die Männer – über das «Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung». Das epochale Werk, das im Bundesblatt 58 Seiten umfasst, ist von Bundesrat und Parlament kurz zuvor in einem wahren Kraftakt zu Papier gebracht worden.

Alle grossen Parteien unterstützen die Vorlage, vom Freisinn über die SP bis zur BGB, der heutigen SVP. Im Parlament gibt es praktisch keine Gegenstimmen (acht im Nationalrat, eine im Ständerat). Gewerbe und Bauern stehen ebenso dahinter wie die Gewerkschaften. Die Arbeitgeber und der Vorläuferverband der heutigen Economiesuisse sind zwar skeptisch, verzichten aber auf eine Parole.

Einzig die Liberalen, die damals noch nicht zum Freisinn gehören, kämpfen offen gegen die AHV, vor allem in der Westschweiz. Unterstützung erhalten sie nur von Splittergruppen aus der Wirtschaft und dem katholisch-konservativen Milieu, die die Kosten für zu hoch halten oder die Verstaatlichung der Vorsorge ablehnen. Bekannte Namen sucht man bei den Gegnern vergebens.

Die Warnung des Gottlieb Duttweiler

Welcher Kontrast zu heute. Am 25. September kommt die Reform «AHV 21» an die Urne, sie soll die Renten für die nächsten knapp zehn Jahre sichern. Um die AHV im Lot zu halten, sollen die Mehrwertsteuer und das Rentenalter der Frauen erhöht werden. Ein heftiger, emotionaler Abstimmungskampf bahnt sich an. Das geschlossene linke Lager um SP, Grüne und Gewerkschaften bekämpft die Vorlage. Alle anderen Parteien von GLP bis SVP stehen dahinter, die Wirtschaft ebenso.

Der Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler musste sich manch böses Wort anhören, als er im Nationalrat die Rückweisung der AHV-Vorlage verlangte.

Der Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler musste sich manch böses Wort anhören, als er im Nationalrat die Rückweisung der AHV-Vorlage verlangte.

Photopress-Archiv / Keystone

Auch vor 75 Jahren scheint der Ausgang der Abstimmung ungewiss. Kein Geringerer als Gottlieb Duttweiler, der Gründer der Migros und des Landesrings der Unabhängigen, warnt im Nationalrat eindringlich vor einer Niederlage. Er zieht Zorn und Spott auf sich, als er deswegen die Rückweisung und Überarbeitung der Vorlage verlangt. Die Renten seien zu knausrig, findet «Dutti», ein Nein liege in der Luft.

Er irrt, und wie. Mit 80 Prozent Ja-Stimmen fällt der Entscheid über die Einführung der AHV geradezu fulminant aus, und dies bei einer Stimmbeteiligung von ebenfalls 80 Prozent.

Freudig schreibt die NZZ tags darauf von einer «Bewährung der Referendumsdemokratie». Spürbar euphorisiert notiert der Bundeshauskorrespondent auf der ersten Seite der Abendausgabe: «In unvergleichlichem Schwung hat sich der Souverän zur Bejahung entschlossen. Die rekordhafte Stimmbeteiligung beweist, welchen starken Rückhalt der Solidaritäts- und Sozialgedanke in allen Bevölkerungsschichten besitzt.» Nicht minder gross ist der Jubel in der linken Presse.

Photopress-Archiv / Keystone

Photopress-Archiv / Keystone

Die AHV-Abstimmung setzte die Massen in Bewegung, im Juli 1947 fand eine grosse Kundgebung vor dem Bundeshaus statt. Am Ende fiel der Entscheid unerwartet deutlich aus (im Bild rechts: in der Bundeskanzlei werden Stimmen zusammengezählt).

Photopress-Archiv / Keystone

Heute reibt man sich die Augen. Wie ist es möglich, in einer solch schwierigen Frage einen derart breiten Konsens zu erreichen?

Durchbruch dank Notrecht

Vorab: Die Not ist offenkundig in dieser Zeit, die Altersarmut überfordert die Systeme der Fürsorge. Viele arbeiten bis zum Tod, und manche Frau verarmt, wenn ihr Mann stirbt. Andere Länder in Europa kennen bereits Rentenversicherungen, in der Schweiz jedoch gibt es solche nur in wenigen Kantonen, vorab in Glarus. Der Bund tut sich schwer mit dem Thema. 1925 hat das Volk zwar einen Verfassungsartikel angenommen, der den Bund zur Einführung einer AHV verpflichtet. Die Umsetzung aber lässt auf sich warten. Ein erster Versuch ist 1931 an der Urne gescheitert.

Am Ende hilft Notrecht. Im Zuge des verpönten Vollmachtenregimes während des Zweiten Weltkriegs hat der Bundesrat viele weitreichende Entscheide in eigener Kompetenz gefällt. Einer davon betrifft die Einführung einer «Lohnersatzordnung für Wehrmänner», die das Einkommen der Soldaten im Aktivdienst abdeckt. Nach den schlechten Erfahrungen im Ersten Weltkrieg wollte der Bundesrat verhindern, dass der Aktivdienst wieder soziale Probleme und Unruhen nach sich zieht.

Das ist ein Steilpass für die AHV. Der Gewerkschaftsbund lanciert noch während des Kriegs die Idee, das populäre System des Lohnersatzes in eine AHV umzubauen. 1942 folgt eine Initiative, in deren Komitee sich Exponenten der SP, der Gewerkschaften und des Freisinns engagieren.

Plötzlich geht es schnell. Der Bundesrat setzt eine Expertenkommission ein, die weniger als ein Jahr benötigt, um einen Bericht mitsamt präzisem Bauplan für die AHV vorzulegen. Im Juni 1946 überweist der Bundesrat seine Botschaft an das Parlament. Was dann geschieht, ist heute kaum vorstellbar: Am 20. Dezember desselben Jahres ist die Vorlage bereits unter Dach und Fach, ohne grössere Veränderungen gegenüber dem Expertenbericht. National- und Ständerat haben im August eigens eine zusätzliche Session inklusive Nachtsitzungen eingeschoben, um das Projekt in Windeseile zu Ende zu beraten. Woher dieser plötzliche Eifer, dieses Tempo?

Eine Naturgewalt als Bundesrat

Es gibt sachliche Gründe: Der Lohnersatz für Wehrmänner lässt sich nach dem Kriegsende nicht endlos lange weiterführen. Und man möchte die AHV gern auf den 1. Januar 1948 einführen, zum 100-Jahr-Jubiläum des Bundesstaats.

Daneben gibt es aber auch einen personellen Grund: Walther Stampfli. Der Solothurner FDP-Politiker und frühere Industriekapitän ist seit 1940 Bundesrat, er führt das Volkswirtschaftsdepartement, in dessen Bereich seinerzeit die Sozialversicherungen fallen. Er ist die prägende Figur im Kriegsbundesrat, wie der Historiker Urs Altermatt schreibt.

Belehren, schimpfen, spotten: Der freisinnige Bundesrat Walther Stampfli war die überragende Figur in den Debatten um die Einführung der AHV.

Belehren, schimpfen, spotten: Der freisinnige Bundesrat Walther Stampfli war die überragende Figur in den Debatten um die Einführung der AHV.

Photopress-Archiv / Keystone

Für die AHV erweist sich Stampfli als Idealbesetzung. In Altermatts Worten: «Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges nahm sich Bundesrat Stampfli energisch der jahrelang blockierten AHV an, die der gesetzlichen Verwirklichung harrte. (. . .) Er erkannte die Zeichen der Zeit. Der ursprünglich vom rechten Flügel des Freisinns stammende Bundesrat war der richtige Mann, um die letzten Widerstände rechtsbürgerlicher und ultrakonservativer Kreise zu überwinden.»

Stampfli ist eine Naturgewalt. Die Protokolle der AHV-Diskussionen im Parlament lassen keine Zweifel: Der Solothurner dominiert die Debatten nach Lust und Laune, hält lange und fundierte Voten, mal ist er witzig, mal gnadenlos. Kritiker kanzelt er ab, sein Hang zum Autoritären ist nicht zu übersehen. Als ein Nationalrat unpassende Fragen stellt, bescheidet ihm Stampfli, er möge bitte zuerst die fraglichen Ausführungen nachlesen, «da das bis heute offenbar unterblieben ist».

Ein anderer hat die Frechheit, eigene Vorschläge zu präsentieren. Stampfli: «Ich habe darin gar nichts gefunden als den blühenden Dilettantismus eines Mannes, der sich vielleicht erst seit einigen Monaten mit der AHV beschäftigt.»

«Polenta und dünner Kaffee»

Zu Hochform animiert ihn ein aus heutiger Sicht befremdliches Thema: Die AHV-Vorlage sieht regional abgestufte Renten vor. Städter erhalten höhere Leistungen als Bewohner von «halbstädtischen» oder «ländlichen» Gebieten. Prompt stimmen im Parlament Vertreter abgelegener Regionen das grosse Klagelied an.

Die Walliser treiben es besonders bunt und berichten von Bauern, die sich von «Polenta und dünnem Kaffee» ernähren müssten und in ihren abgelegenen Hütten «nur ein bisschen Stroh und eine oder zwei verlöcherte Decken» hätten. Einer der Walliser, Nationalrat Karl Dellberg, meint, der Herr Bundesrat Stampfli solle nur einmal ins Wallis kommen, um zu sehen, wie es dort wirklich sei.

Da gerät er an den Falschen. Zuerst stellt ihn Stampfli in den Senkel, weil er falsche Prozentrechnungen angestellt hat («Lassen Sie sich das von einem guten Dorfschullehrer aus dem Kanton Wallis bestätigen»). Und dann: «Ich bedaure sehr, der Einladung, einmal der Arbeit der armen geplagten Bergbauern zusehen zu wollen, nicht Folge leisten zu können. Mein Amt und die Belastung desselben gestatten es mir nicht, zuzusehen, wie andere arbeiten. Das überlasse ich Herrn Nationalrat Dellberg, der wahrscheinlich dazu die nötige Zeit zur Verfügung hat.» – «Heiterkeit», vermeldet das Protokoll.

Der «Standpunkt der Galanterie»

Stampfli beherrscht alle Genres, von Spott bis Pathos. Im Ständerat spricht er einmal ausufernd von der im Krieg verschonten Schweiz, die jetzt nicht zaghaft und kleinmütig sein dürfe. Sie möge nun endlich «die Versicherung verwirklichen und die Sehnsucht von Hunderttausenden und Aberhunderttausenden nach diesem grossen Werk stillen». Als sein Sermon irgendwann ein Ende findet, bekundet der Ständeratspräsident: «Ich möchte Herrn Bundesrat Stampfli versichern, dass uns seine Ausführungen einen tiefen Eindruck gemacht haben.»

Galant ist er auch, der Bundesrat. Als die Rede auf die Frauen kommt, deren Position in der AHV bereits damals ein grosses Thema ist, versichert Stampfli, er sei «ein Freund der Frauenwelt». Dennoch spricht er sich dagegen aus, das Rentenalter für erwerbstätige Frauen tiefer anzusetzen als für Männer, wie dies linke und bürgerliche Parlamentarier verlangen.

Bald wurde die AHV zum nationalen Symbol – und sie ist es bis heute: Rentenübergabe durch den Pöstler im Jahre 1980.

Bald wurde die AHV zum nationalen Symbol – und sie ist es bis heute: Rentenübergabe durch den Pöstler im Jahre 1980.

Photopress-Archiv / Keystone

Statt 65 Jahre sollen es bei den Frauen nur 62 oder 63 sein, finden sie. «Aus physiologischen Gründen» sei die Frau in der Fabrik, im Büro oder im Gewerbe «früher verbraucht als wir Männer», argumentiert einer. Gerade für die ledigen Frauen müsse sich das Parlament stärker einsetzen, sagt ein anderer – «für die andern Frauen sorgen wir ja als Ehemänner in reichlichem Masse». Und ein weiterer sekundiert: «Wir als die ‹Stärkeren› sollten doch dem schwächeren Geschlechte gegenüber eben noch eine Geste machen.»

Nicht mit Stampfli. «Es besteht im gesamten genommen eine sehr weitgehende Solidarität der Männerwelt mit dem schöneren Geschlecht, denn die Frauen bedeuten mit ihrer längeren Lebensdauer eine Belastung der Versicherung.» Die Frauen könnten sich nicht beklagen, bilanziert Stampfli – «und deshalb dürfen wir auch vom Standpunkt der Galanterie aus diesen Antrag ablehnen».

Er setzt sich damit durch, wie fast immer. Das Rentenalter liegt anfänglich für beide Geschlechter bei 65 Jahren. Erst Jahre später, als Stampfli längst zurückgetreten ist, gewinnen jene die Oberhand, die in den Frauen das schwächere Geschlecht sehen. Ihr Rentenalter wird reduziert, ab 1964 liegt es bei 62 Jahren. Seit 2005 liegt es bei 64 Jahren.

Und in Zukunft?

Die AHV von 1947 ist ein grosser Wurf

Mit Ausnahme des Rentenalters ist bei der AHV seit ihrer erstaunlichen Gründung praktisch alles erhöht worden, und zwar massiv: die Renten, die Lohnbeiträge, die Zuschüsse aus Steuern und anderen Abgaben. Dass die Zustimmung 1947 im bürgerlichen Lager so gross war, lag wohl auch daran, dass das Sozialwerk recht bescheiden startete. Die Renten waren mit 40 bis 120 Franken im Monat karg. Stark erhöht wurden sie vor allem ab Ende der 1960er Jahre unter dem SP-Bundesrat Hans-Peter Tschudi, der deswegen oft als «Vater der AHV» bezeichnet wird. Tschudi wies diesen Titel stets zurück – mit Verweis auf Bundesrat Stampfli.

Unter dem SP-Bundesrat Hans-Peter Tschudi wurde die AHV stark ausgebaut, als Vater des Sozialwerks sieht er sich selber aber nicht (im Bild: Eröffnung der Olma 1973).

Unter dem SP-Bundesrat Hans-Peter Tschudi wurde die AHV stark ausgebaut, als Vater des Sozialwerks sieht er sich selber aber nicht (im Bild: Eröffnung der Olma 1973).

Photopress-Archiv / Keystone

Tatsächlich ist das «Kind» AHV seit der Geburt zwar deutlich grösser geworden. Wesentliche Merkmale aber sind heute noch so, wie sie 1947 unter Stampfli festgelegt wurden: zum Beispiel das Prinzip, dass man im Unterschied zu den Steuern auf dem gesamten Lohn – ohne Abzüge oder Ausnahmen – seinen Anteil in Prozent leisten muss. Das ist nicht selbstverständlich; die erste Vorlage, die 1931 gescheitert ist, sah fixe Frankenbeträge vor, unabhängig von der Höhe des Lohns.

Eine weitere wichtige Regel gilt ebenfalls seit 1947: Die Lohnbeiträge sind nach oben unbegrenzt, bei den Renten aber gibt es einen Deckel (die Maximalrente). Wer mehr einzahlt, subventioniert den Rest. Gleichzeitig erhalten alle eine Rente, auch die, die sie nicht nötig haben. Der Millionär brauche die AHV nicht, die AHV aber den Millionär, pflegte Bundesrat Tschudi zu sagen. Umgekehrt bekommen auch jene, die sehr wenig einzahlen, eine Minimalrente.

Diese Prinzipien prägen die AHV seit 1947, seit diesem bemerkenswerten Expressverfahren im Bundeshaus, in dem das Parlament schnell mal eine der wichtigsten Institutionen der Schweiz geschaffen hat. 75 Jahre später hingegen stellt sich die Frage, ob nicht auch langsam das Rentenalter angehoben werden soll. Es ist letztlich eine Frage der Ansprüche. Bei der Gründung der AHV gönnte man jenen, die ihre Pensionierung erlebten, einen Ruhestand von durchschnittlich 13 Jahren. Nach dieser Massgabe müsste das Rentenalter heute bei 72 Jahren liegen.

Literatur: Swissvotes, «Hist. Lexikon der Schweiz», NZZ Archiv, Urs Altermatt in der «Solothurner Zeitung».

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