Am Samstag setzen sich zum 29. Mal phantasievoll dekorierte und mit riesigen Lautsprechern bestückte Love-Mobiles in Bewegung.
Es ist Juni 1992, als der Zürcher Mathematikstudent Marek Krynski bei der Stadtpolizei Zürich ein Gesuch für eine Demonstration einreicht. Das Thema der Kundgebung: «Liebe, Friede, Freiheit, Grosszügigkeit und Toleranz».
Am 5. September dann findet der erste «Demo-Umzug der Schweizer Party-Szene» statt, wie die SDA damals schreibt. 1000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer tanzen unter den ungläubigen Blicken der Passanten auf der Bahnhofstrasse zu Techno-Beats.
«Tausende liessen sich zu Zuckungen hinreissen», beschreibt ein SRF-Kommentator das Geschehen. Es ist die Geburtsstunde der Street Parade, des heute grössten Techno-Festivals der Welt.
Von den sieben Love Mobiles funktioniert an der ersten Street Parade nur eines: das von She-DJ Viola. Trotzdem ist der Anlass ein Erfolg – ein so grosser, dass dafür im nächsten Jahr 10 000 Personen nach Zürich reisen. Unter ihnen ist auch Dr. Motte, der Gründer der Love Parade in Berlin und das Vorbild des Zürchers Marek Krynski.
Die zweite Street Parade verschafft Zürich zwar einen Platz auf der Techno-Landkarte. Für den «Sonntagsblick» ist Techno aber noch nicht wirklich ein Begriff. Er titelt: «8000 Hip-Hopper legten Zürich lahm».
Mit dem Erfolg kommen die Probleme. Der damalige Zürcher Polizeivorsteher Robert Neukomm (SP) kann mit den Ravern nichts anfangen. Er will die Street Parade verbieten, sie ist ihm zu gross, zu laut und sie verschmutze die Strassen, begründet er seinen Entscheid. Auch die Drogen werden zum Streitthema. Die offene Drogenszene hat sich nach der Räumung des Platzspitzes auf das Lettenareal verschoben. Die Stadtregierung will erneute Ausschweifungen in der Innenstadt verhindern.
Marek Krynski holt sich einen Anwalt, legt Rekurs ein und sammelt mit den anderen Organisatoren 4500 Unterschriften. Auch die NZZ kritisiert den Entscheid: Dieser sei ein Symptom für eine «Haltung der Kleinlichkeit und Engstirnigkeit». Man wolle der reinen Unterhaltung und einer apolitischen Lebensfreude keinen Raum lassen.
Unter Druck lenkt Neukomm schliesslich ein, und die dritte Street Parade kann am 13. August mit 30 000 Ravern und 10 000 Schaulustigen stattfinden.
1995 wird die Street Parade dann nochmals um einiges grösser: 60 000 Raverinnen und Raver erwarten die Organisatoren. Tatsächlich aber kommen doppelt so viele. Der Rave-Tourismus sei Realität geworden, schreibt die NZZ.
In den nächsten Jahren wächst die Techno-Parade weiter. Am 16. August 1997 zählt sie bereits 475 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Der NZZ-Redaktor kann sich kaum einkriegen: « Der schräge, schrille und grelle fünfstündige Umzug hat alle Erwartungen übertroffen und Rekorde gebrochen», schreibt er. Nach der Berliner Love Parade ist die Street Parade die zweitgrösste Technoparty der Welt.
An der 10. Street Parade am 11. August 2001 wird erstmals die Millionen-Besucher-Marke geknackt. Das Motto «Love, Freedom, Tolerance» soll an die Anfänge der Party-Demo erinnern. «Am Techno-Karneval ist jeder ein Star», titelt die NZZ. «Ob sich das Können in erratischem Kopfschütteln erschöpft oder komplizierte Bewegungsabläufe enthält, macht kaum einen Unterschied, jede Performance wird bejubelt.»
Drei Jahre später, am 7. August 2004, titelt der Blick: «Zürich ist das neue Berlin». Weil die Love Parade in Berlin nicht stattfinde, stürmten die «teutonischen Raver» die Street Parade. Bis zu 300 000 Deutsche werden am Zürcher Seebecken erwartet.
Auch bei den Einheimischen hat das Techno-Festival inzwischen einen festen Platz im Veranstaltungskalender. «Ein zünftiges Hoch auf die Zürcher Strassenparaden!», kommentiert ein Redaktor der NZZ am Sonntag und zieht Parallelen zum Sechseläuten. «An diesen Festen riecht Zürich anders.»
Doch nicht alles läuft 2004 reibungslos. Die Stimmung an der sonst so friedlichen Street Parade ist gereizt und aggressiv. Die Polizei muss mehrfach wegen Schlägereien ausrücken. Ein möglicher Grund: Am Umzug wird erstmals an Ständen Alkohol verkauft.
«Today is Tomorrow», lautet 2005 das kryptische Motto der Street Parade. Im Interview mit dem Tagblatt der Stadt Zürich sagt Marek Krynski, der 1996 aus dem Organisationskomitee ausgestiegen ist: «Auch dank der Street Parade hat sich Zürich zu einer offenen, trendigen Stadt entwickelt.»
Die kleine Parade hat sich zu einem internationalen Mega-Event entwickelt. Von den 33 Love Mobiles kommt ein halbes Dutzend aus dem Ausland. Wer auf einer der fahrenden Bühnen tanzen will, kann sich einen Platz erkaufen. Die fortschreitende Kommerzialisierung ruft auch kritische Stimmen hervor. Krynski sagt: «Die Parade ist grösser und bunter geworden. Geblieben ist die spezielle Stimmung. Eine Freundlichkeit wie an der Parade in Zürich habe ich nirgends erlebt.»
2011 feiert die Street Parade ihr 20-jähriges Bestehen. Mittlerweile hat sich die Techno-Party von einem Anlass für Jugendliche zum Familienfest entwickelt. Und auch hinter den Plattentellern lässt sich ein Generationenwechsel beobachten. Am Bürkliplatz legt der junge Deutsche «Boys Noize» auf und Avicii, der am besagten Tag ebenfalls in Zürich auftritt, steht erst vor dem grossen Durchbruch.
2012 ist die Street Parade dann sogar in China angekommen. Am 11. August ist fährt erstmals ein chinesisches Love Mobile um das Zürcher Seebecken. Der Tag markiert auch das Jubiläum der Drogenteststelle, die zum 10. Mal an der Technoparty betrieben wird.
Während die Teilnehmerzahl auch 2013 bei etwa einer Million liegt, steigt der Abfallberg, den die Raver hinterlassen: von 91 auf 98 Tonnen. «Die schmucke Zürcher Innenstadt ist ein Schlachtfeld. Urin-Wolken wabern durch die Gassen. Abfallberge liegen teils bis Mittag auf den Trottoirs», resümiert der Blick. Mit einem Anti-Urin-Konzentrat gehen die Reinigungsteams gegen die Hinterlassenschaften vor. Der Kostenpunkt für Entsorgungsarbeiten: 100 000 Franken, die der Verein Street Parade zu tragen hat.
2014 muss die Street Parade verschoben werden. Der Grund ist die Leichtathletik-Europameisterschaft, die ebenfalls in Zürich stattfindet. Statt wie gewohnt am 2. Augustwochenende findet die Street Parade bereits am 2. August statt. Trotz stürmischem Wetter kommen 950 000 Raverinnen und Raver nach Zürich.
Nach den riesigen Abfallschlachten der Vorjahre zeigt sich die Street Parade 2017 umweltbewusster: Mit dem «Umwelt-Franken» wird von jedem verkauften Getränk ein Franken in die Umwelt und in lokale Hilfsorganisationen investiert. Der Abfall wird nach Wertstoffen wie Glas, Alu und PET getrennt und recycelt. 100 zusätzliche WC-Anlagen in der Altstadt sollen nicht nur den Besuchern, sondern auch den Anwohnern zu Gute kommen.
Auch 2017 vertrauen nicht alle Raver der euphorisierenden Wirkung der Musik. Calvin Klein, Nike, Dolce & Gabbana und Chanel gehören zu den zahlreichen Brands, die auf Ecstasy-Pillen vorkommen.
2018 kommt der Berliner Paul Kalkbrenner nach Zürich und der Sechseläuten-Platz ist schon vor dem ersten Beat voll. Mit dem Supermarket, Bellevue, Klaus stellen nach Jahren der Absenz namhafte Zürcher Clubs ein eigenes Love Mobile.
Im Gedränge kommt es auch zu unschönen Szenen – vor allem für Frauen. Nach der Street Parade berichten die Medien von Grabschattacken und mutmasslichen Sexualdelikten. Auch hochdosierte Ecstasy-Pillen bereiten den Veranstaltern und Behörden an der 27. Street Parade Sorgen.
Für zusätzliche Anspannung sorgt am 10. August 2019 ein roter Rucksack am Utoquai. Die Polizei setzt einen Bombenroboter ein, um den Gegenstand unschädlich zu machen. Zwei Tage später stellt sich heraus, dass sich im Rucksack Attrappen von Rohrbomben befanden.
Die meisten der 850 000 Besucherinnen und Besucher bekommen vom Zwischenfall nichts mit. Was zu diesem Zeitpunkt noch niemand weiss: Das grosse Unglück steht der Street Parade erst noch bevor.
Nach 28 Jahren muss die grösste Technoparty der Welt 2020 erstmals abgesagt werden. Und auch ein Jahr später kann der Grossanlass wegen Corona nicht stattfinden. Nach der dreijährigen Zwangspause dürfte der Nachholbedarf bei den Raverinnen und Ravern gross sein.