Am 25. Januar beginnt der Strafprozess gegen den früheren Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz und seinen engsten Mitarbeiter Beat Stocker. Es ist der grösste Wirtschaftsstrafprozess des letzten Jahrzehnts. Worum geht es? Was sind die Vorwürfe? Wie geht es jetzt weiter? Ein Überblick.

Pierin Vincenz muss sich ab dem 25. Januar vor dem Bezirksgericht Zürich verantworten.
Manche Medien müssen draussen bleiben
Zahlreiche Journalisten, die sich für den ab Dienstag (25.1.) stattfindenden Strafprozess gegen Pierin Vincenz und sechs Mitangeklagte akkreditiert haben, können voraussichtlich nicht der ganzen Verhandlung beiwohnen. Dies, weil an gewissen Tagen nur kleine Säle zur Verfügung stehen. Die Durchführung des Prozesses, so viel war längst klar, würde eine logistische Herausforderung sein. Einerseits wegen des Ortes: Die Verhandlung führt das Bezirksgericht Zürich nicht in den eigenen Gerichtssälen, sondern im nahe gelegenen Volkshaus durch. Dort sollten im Theatersaal rund 60 Medienschaffende Platz finden, um über den Prozess berichten zu können.
Dem Grundsatz der Gerichtsöffentlichkeit würde damit Genüge getan, auch wenn keine weiteren Besucher dem Prozess beiwohnen können. Dieser Setup sollte auch der Covid-19-Pandemie Rechnung tragen. Die akkreditierten Journalisten erhielten Zugang zum Saal, wenn sie 2G-Zertifikat vorweisen könnten.
Am Freitagnachmittag (21.1.) hat die Gerichtsorganisation den Medienschaffenden indes mitgeteilt, dass der dritte und der vierte Prozesstag in einem deutlich kleineren Saal stattfinden werden. An diesen Tagen sollen nun nur rund 15 respektive 25 Journalisten zugelassen werden; erst am fünften Prozesstag vom 9. Februar könnten wiederum alle 60 angemeldeten Journalisten teilnehmen. Zahlreiche kleinere Medien – auch solche, die sich im Vorfeld ausgiebig mit dem Fall befasst haben – würden somit einen Teil des Prozesses verpassen.
Darüber hinaus bereitet auch der Zeitplan Herausforderungen: Zunächst wurden vom zuständigen Richter für die Hauptverhandlung vier Prozesstage Ende Januar eingeplant, dazu der Ersatztermin am 9. Februar. Da am Prozess indes sieben Angeklagte mit ihren Anwaltsteams beteiligt sind, die befragt werden müssen und Plädoyers halten, äusserten Beobachter schon früh Zweifel, ob dies ausreichen würde. Die Verteidigung müsste sich bei der Länge ihrer Plädoyers vermutlich einschränken.
Die neusten Entwicklungen:
- Am 25. Januar wird Richter Sebastian Aeppli vom Bezirksgericht Zürich den Strafprozess gegen den früheren Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz und seinen engsten Mitarbeiter Beat Stocker sowie weitere fünf Mitangeklagte eröffnen. Ihnen wird in erster Linie Betrug vorgeworfen. Zudem sollen sich beide über Spesen bereichert haben. Das Gericht hat fünf Verhandlungstage angesetzt. Den Hauptbeschuldigten Pierin Vincenz und Beat Stocker drohen Haftstrafen von mehreren Jahren. Das Urteil kann ans Obergericht weitergezogen werden.
- Wenige Wochen vor der Gerichtsverhandlung wagt sich Beat Stocker an die Öffentlichkeit. Am 2. Januar 2022 wies der zweite Hauptangeklagte im Fall Vincenz in der «NZZ am Sonntag» sämtliche Vorwürfe der Zürcher Justiz von sich. «Vier Jahre habe ich versucht, der Staatsanwaltschaft zu erklären, wie ich ticke, wie ich Geschäfte mache und dass der Vorwurf, Pierin und ich hätten uns verschworen, um die Raiffeisen und die Aduno zu betrügen, keine Basis hat», erklärte er. Mit der versuchten Einflussnahme dürfte er die Richter wenig beeindrucken.
- Pierin Vincenz hat nicht nur juristische, sondern auch finanzielle Probleme. Eigentlich würde man annehmen, dass Vincenz finanziell ausgesorgt hat. Immerhin hat er als langjähriger Raiffeisen-Chef über 40 Mio. Fr. verdient. Trotz dem üppigen Lohn geriet er in finanzielle Engpässe, wie Dokumente aus dem Strafverfahren zeigen. Demnach gewährte ihm der Unternehmer Peter Spuhler Anfang 2019 einen Kredit in der Höhe von 6,5 Millionen Franken. Das Geld diente zur Ablösung einer Hypothek, um eine Villa im ausserrhodischen Teufen zu finanzieren. Vincenz schuldet offenbar auch seinem früheren Partner Stocker fast 6 Millionen Franken, wie dieser gegenüber der NZZ am Sonntag erklärte. Offenbar plant Vincenz nun einen Verkauf von Liegenschaften, um Schulden zurückzuzahlen.
- Die frühere Raiffeisen-Rechtschefin Nadja Ceregato soll ihrem damaligen Ehemann, dem früheren Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz, im Januar 2018 geheime Strategie-Dokumente weitergegeben haben. Die Staatsanwaltschaft kann dies offenbar mit WhatsApp-Nachrichten beweisen. Nun wurde sie dafür per Strafbefehl verurteilt, wie im November 2021 bekannt wurde.
- Thomas A. Müller ist neuer Verwaltungsratspräsident von Raiffeisen Schweiz. Er erhielt an einer ausserordentlichen Generalversammlung vom 4. Dezember 2021 nur rund 76 Prozent der Stimmen. Müllers nicht unumstrittene Wahl macht seine bevorstehende Aufgabe noch ein bisschen schwieriger, als sie ohnehin schon ist: Er muss als Präsident den Ausgleich finden zwischen den lokal stark verankerten, auf ihre Autonomie bedachten Einzelbanken einerseits und den von Markt und Aufsichtsbehörde vorgegebenen Rahmenbedingungen andererseits.
- Die Basler Staatsanwaltschaft hat am 2. 11. das Verfahren gegen den Ex-Raiffeisen-Präsidenten Guy Lachappelle eingestellt. Die einstige Geliebte hatte eine Strafanzeige wegen angeblicher Wirtschafts- und Börsendelikte aus seiner früheren Zeit bei der Basler Kantonalbank eingereicht. Die Liebesbeziehung war Lachappelle zum Verhängnis geworden: Er trat per Ende Juli 2021 zurück.
Am 3. November 2020 hat die Staatsanwaltschaft Zürich III nach fast dreijährigen Untersuchungen Anklage in der Causa Pierin Vincenz erhoben. Ende Januar 2022 soll die Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht Zürich stattfinden. Angeklagt sind:
- Der frühere Raiffeisen-Chefs Pierin Vincenz und der Ex-Aduno-Chefs Beat Stocker wegen gewerbsmässigem Betrug, Urkundenfälschung und passiver Bestechung. Darüber hinaus werden den beiden unberechtigte Spesenbezüge bei der Aduno bzw. der Raiffeisen zur Last gelegt, was zusätzlich zum Vorwurf der Veruntreuung führt.
- Die Gründungspartner der Investnet, Andreas Etter und Peter Wüest, wohl wegen Gehilfenschaft zu Betrug.
- Der Gründungsparter der Eurokaution, Ferdinand Locher, wohl ebenfalls wegen Gehilfenschaft zu Betrug.
- Der Präsident der Genfer Kreditfirma Genève Credit & Leasing (GCL), Stéphane Barbier-Mueller.
- Ein bekannter Zürcher Kommunikationsberater. Beim diesem Angeklagten geht es um einen Fall in einer ganz anderen Dimension.
- Mit einem Strafbefehl kommen Rechtsanwalt Beat Barthold, der bei verschiedenen Transaktionen im Auftrag von Stocker bzw. vielleicht auch Vincenz handelte und eine noch unbekannte Person aus dem Umfeld der Investnet-Transaktion davon.
Von den Richtern des erstinstanzlichen Bezirkgerichts Zürich werden konkret die Vorgänge bei folgenden Übernahmen seitens Raiffeisen bzw. Aduno genau geklärt: Die Akqusitionen der Commtrain Card Solution, der Genève Credit & Leasing (GCL) und der Eurokaution durch die Aduno. Sowie die Akquisition der Investnet und einer weiteren, in der Pressemitteilung nicht genannten Gesellschaft durch die Raiffeisen.
Nicht im Fokus der Staatsanwaltschaft soll die Höhe des Kaufpreises für die bezahlten Übernahmen liegen. Die neuesten Entwicklungen dazu.
Neue Erkenntnisse tauchten inzwischen zum Fall Investnet sowie zum Fall Commtrain auf.
Den Stein ins Rollen gebracht haben Vorwürfe der ungetreuen Geschäftsbesorgung gegen Pierin Vincenz und den ehemaligen Aduno-Chef Beat Stocker. Vereinfacht gesagt geht es sowohl im Verfahren der Finanzaufsicht Finma als auch in der Strafuntersuchung der Zürcher Staatsanwaltschaft um die Frage, ob die beiden sich an Transaktionen auf ungerechtfertigte Weise bereichert haben, indem sie auf beiden Seiten des Verhandlungstisches – als Käufer und als Verkäufer – sassen, ohne dies offenzulegen.
Im Fokus stehen die Übernahmen und Beteiligungen von der Raiffeisen-Gruppe und der Kreditkartengesellschaft Aduno an mehreren Start-ups, so Commtrain, Investnet, Commtrain und weitere.
Auslöser der Strafuntersuchung war der Verkauf der Firma Commtrain Card Solutions an die Aduno-Gruppe im Jahr 2007. Als Pierin Vincenz Präsident der Kreditkartenfirma Aduno war, kaufte diese das Unternehmen Commtrain Card Solutions. Pikant ist, dass diese Firma, die Software für das kontaktlose Zahlen entwickelte und vertrieb, teilweise dem Raiffeisen-CEO gehörte. Denn kurz zuvor hatten sich Stocker und Vincenz verdeckt an Commtrain beteiligt. Aduno hat Mitte Dezember 2017 eine Anzeige gegen Vincenz und Stocker eingereicht. Es besteht der Verdacht der ungetreuen Geschäftsbesorgung. Bei keiner Transaktion liegen so viele Hinweise vor, dass sich Vincenz mit Hilfe von anderen wohl auch privat bereichert hat.
Im Juni 2005 hatte Rechtsanwalt Beat Barthold in Zug die Treuhandgesellschaft i-Finance-Management (iFM) gegründet. Zweck war eine Beteiligung an Commtrain. Vincenz und Stocker beteiligten sich über zwei Jahre hinweg verdeckt über iFM an der Commtrain. Als es um den Entscheid ging, ob Aduno Commtrain kaufen soll, votierten Vincenz, damals Raiffeisen-Chef und Verwaltungsratspräsident von Aduno, und Stocker, damals Verwaltungsratsmitglied und Chef von Aduno, dafür. Ihre privaten Käufe – sie hielten damals über i-Finance 60% an der Commtrain – legten sie nicht offen. Aduno übernahm 100% der Commtrain für 7 Mio. Fr. An die iFM gingen 4,2 Mio. Fr., davon flossen 1,7 Mio. Fr. in Vincenz’ und wohl auch in Stockers Privatkasse. Allerdings hielten beide diese Beteiligungen vor Raiffeisen und Aduno geheim.
Wie das Trio Vincenz, Stocker und Barthold mit sich selber verhandelte, lesen Sie hier.
Die Staatsanwaltschaft prüft in einem zweiten Fall die Abläufe bei der Übernahme der Firma Investnet durch die Raiffeisen. Auch hier dürften die Vorgänge rund um den Kauf der Herisauer Investmentgesellschaft im Jahr 2012 interessieren. Gegründet wurde Investnet 2009 mit dem Zweck, Investoren Anlagemöglichkeiten in KMU zu eröffnen. Vincenz wird verdächtigt, auch hier privat vom späteren Verkauf an die Raiffeisen profitiert zu haben. Er beteuert, damals nie an der Investnet beteiligt gewesen zu sein. Dem Vernehmen nach gibt es bis heute keine Dokumente, auch keine verdeckten Treuhandverträge, die Vincenz’ Aussage widerlegen könnten.
Die wichtigsten Erkenntnisse im Fall Investnet finden Sie hier.
Im Juni 2015 wurden die Investnet und die KMU Capital, eine mehrheitlich von Raiffeisen kontrollierte Gesellschaft, in die neu gegründete Investnet Holding übergeführt. Stocker habe verdeckt an diesen Vorgängen teilgenommen und wenige Wochen später – laut einem Finanzblog – 2,9 Mio. Fr. in Form eines Darlehens auf ein Raiffeisen-Privatkonto von Vincenz überwiesen. Zudem hält gemäss derselben Quelle ein weiteres Gutachten von Deloitte fest, Vincenz habe seinen damaligen Finanzchef und späteren Nachfolger, Patrik Gisel, gebeten, für ihn die Verhandlungen bei der Investnet-Übernahme zu führen, weil er befangen sei. Gisel hat offenbar nichts von fragwürdigen Verhaltensmustern mitbekommen.
Hätten Vincenz und Stocker wirklich verdeckt privat von der Investnet-Übernahme profitieren wollen, hätten sie eine rein mündliche und damit von den Strafverfolgungsbehörden nur schwer nachzuweisende Abmachung treffen können. Vincenz hätte für den Tipp an Stocker, dass Raiffeisen den Kauf der Investnet plane, eine Abgeltung, beispielsweise in Form des erwähnten Darlehens, erhalten. Vincenz bestreitet das. Er bezeichnet das Darlehen als rein private Transaktion. Da er gerade schlecht bei Kasse gewesen sei, habe er von Stocker ein Darlehen für einen anstehenden Immobilienkauf erhalten.
Offene Fragen rund um ein weiteres verdecktes Engagement von Vincenz und Stocker hat offenbar auch die Übernahme der Eurokaution durch die Aduno-Gruppe im Jahr 2014 aufgeworfen. Zwischen 2011 und 2014 war Ferdinand Locher über seine Luxemburger Beteiligungsgesellschaft Great Star Finance Mehrheitsaktionär der Eurokaution. Aduno übernahm das Startup im Jahr 2014 für 5,6 Mio. Fr. Die Eurokaution bot Kreditkartenbesitzern die Möglichkeit, über ihre Karte eine Mietkaution zu günstigen Konditionen zu garantieren. Im Vorfeld aber kamen dann drei Gutachter zu drei komplett unterschiedlichen Empfehlungen für einen angemessenen Kaufpreis. Diese reichten von einigen hunderttausend Franken bis hin zu 10 Mio. Fr. Was die Firma wirklich wert war, liess sich offensichtlich fast nicht einschätzen.
Zudem war die Eurokaution stark verschuldet; das sei stets bekannt gewesen und ebenso, dass ein Käufer kräftig reinvestieren müsse, erklärt ein Befragter. Er stuft den letztlich bezahlten Kaufpreis als angemessen ein. Die Aduno hätte so Zugriff auf den Kundenstamm der Eurokaution erhalten, ein Kauf sei deutlich billiger gekommen, als wenn sie das Geschäft selber hätte aufbauen müssen.
Zur Erinnerung: Der damalige Raiffeisen-Chef Vincenz war zu jenem Zeitpunkt Präsident, Stocker Mitglied im Verwaltungsrat der Aduno. Den beiden wird vorgeworfen, sich über die Firma ReImagine! AG verdeckt an der Eurokaution beteiligt zu haben und persönlich vom Verkauf an die Aduno profitiert zu haben. Die Firma ReImagine! war aus der Treuhandfirma iFinance hervorgegangen, über jene Firma hatten sich Vincenz und Stocker verdeckt an der Commtrain beteiligt.
Im Zuge der Ermittlungen wurden weitere Geschäfte von Vincenz geprüft, darunter die Übernahme der Genève Crédit & Leasing. Die wichtigsten Transaktionen der Aera Vincenz insgesamt sind in der Übersicht dargestellt. Dabei kamen auch mögliche Straftatbestände ans Licht, die im Vergleich zu den möglicherweise millionenschweren Bereicherungen eher wie Lappalien daherkommen, so etwa der Wirbel um Vincenz’ Spesenabrechnungen.
Die Finanzmarktaufsichtsbehörde Finma reagierte im November 2017 mit je einem Verfahren gegen Raiffeisen und gegen Pierin Vincenz persönlich auf die Vorwürfe rund um die Geschäftsgebaren des einstigen Raiffeisen-Chefs. Das persönliche Verfahren wurde kurz darauf gegenstandslos, da Vincenz als als Verwaltungsratspräsident des Versicherers Helvetia zurücktrat. Die Finma ermittelt prinzipiell nur gegen Personen, die ein Amt in der Finanzbranche bekleiden.
Der Bericht, den die Behörde im Juni 2018 veröffentlicht hat, kritisiert den Raiffeisen-Verwaltungsrat harsch. Das Gremium habe die Aufsicht über den ehemaligen Chef Pierin Vincenz vernachlässigt. Damit habe der Verwaltungsrat ehemaligen CEO zumindest «potenziell» ermöglicht, finanzielle Vorteile auf Kosten der Bank zu erzielen. Insgesamt entsteht das Bild einer Organisation, die vom operativen Leiter, also Vincenz, in selbstherrlicher Art und Weise geführt worden ist. Die Hierarchie bei Raiffeisen Schweiz war auf den Kopf gestellt: Vincenz bestimmte, und der Verwaltungsrat liess es geschehen. Drei Punkte werden von der Finma besonders kritisiert:
- Erstens hat Vincenz erhebliche Überschreitungen beim CEO-Budget vorgenommen. Er zahlte hohe Honorare an seinen Geschäftsfreund und ehemaligen Aduno-Chef Stocker und überschritt das Budget massiv. Das wusste der Verwaltungsrat, er schritt aber nicht ein.
- Zweitens hat es Mängel gegeben bei der Kreditvergabe an Vincenz und an Personen, die der Bank nahestanden. Beispielsweise erhielt Vincenz ein Darlehen, um die Beteiligung an der Investnet Holding zu erwerben. Dieses Geschäft wurde – entgegen den Vorschriften – nicht vom Verwaltungsratsausschuss genehmigt.
- Drittens kam es im Zusammenhang mit der Beteiligungsgesellschaft Investnet zu grossen Interessenkonflikten.
Die Finma kam zum Schluss, dass Raiffeisen unter Vincenz’ Führung eine Vielzahl von Beteiligungen aufgebaut habe, wo sie teilweise gleichzeitig als Aktionärin, Geschäftspartnerin und Kreditgeberin agierte und damit Interessenkonflikte in Kauf nahm. Die Finanzmarktaufsicht installierte einen Beauftragten bei Raiffeisen, der prüft, wie die Bank die Unternehmensführung verbessert.
Bruno Gehrig, Professor an der Uni St. Gallen, war im April 2018 von Raiffeisen im April damit beauftragt worden, die Beteiligungsgeschäfte der Bank Raiffeisen zu untersuchen. Grund waren eine ganze Reihe von zum Teil fragwürdigen Zukäufen in der Zeit als Pierin Vincenz Chef des Instituts war.

Die Raiffeisen-Betriebskultur war in der Ära von Pierin Vincenz gemäss Untersuchungen weder ehrlich noch konstruktiv.
Der Bericht legte im Januar 2019 folgende Erkenntnisse offen:
Bei Raiffeisen herrschte eine Kultur des vorauseilenden Gehorsams. Mitarbeiter versuchten, den tatsächlichen oder vermeintlichen Erwartungen von Vincenz gerecht zu werden, um bei ihm nicht in Ungnade zu fallen. Vincenz führte bei Zukäufen, obwohl meist nicht direkt involviert, immer wieder bilaterale Gespräche, deren Ergebnisse er den zuständigen Gremien der Bank nicht weiterleitete. Es wurden zum Teil fragwürdige Beteiligungen gekauft und zu hohe Preise bezahlt. Das hat zur Folge, dass die Bank für das Geschäftsjahr 2018 einen Abschreiber von maximal 300 Mio. Fr. vornehmen muss. Dennoch hat die Gehrig-Untersuchung keine klaren und eindeutigen Nachweise von strafrechtlich relevantem Verhalten von Pierin Vincenz oder anderen Personen im Zusammenhang mit den untersuchten Beteiligungsgeschäften ergeben. Nicht Gegenstand von Gehrigs Analyse waren jene Geschäfte, die bereits durch die Zürcher Staatsanwaltschaft III für Wirtschaftsdelikte untersucht werden, namentlich die Investnet-Beteiligung.
Durch mangelnde Führung und Kontrolle, organisatorische Versäumnisse und eine personenzentrierte Kultur seien finanzielle Nachteile, vor allem aber ein Reputationsschaden für die ganze Raiffeisen Gruppe entstanden, schreibt die Bank in einer Mitteilung.
Der Bericht von Bruno Gehrig hat auch personelle Konsequenzen: Per sofort hatten darauf Gabriele Burn (Leiterin Departement Niederlassungen) und Beat Hodel (Risiko & Compliance) ihre Funktionen abgegeben. Paulo Brügger (Leiter Departement Zentralbank) erklärte per sofort seinen Rücktritt als Mitglied der Geschäftsleitung. Damit schieden alle Geschäftsleitungsmitglieder aus dem Unternehmen aus, die vor 2015 Teil des Gremiums waren. Auch Generalsekretär Roland Schaub hatte die Organisation verlassen. Ebenfalls ausgeschieden war zu diesem Zeitpunkt Michael Auer, der nach dem Rücktritt von Patrik Gisel die Bank kurz als interimistischer Chef geleitet hatte.
Vincenz und Stocker befanden sich seit dem 27. Februar bis zum 12. Juni 2018 in Haft. Die Staatsanwaltschaft begründete das mit der aufwendigen Untersuchung. So galt es wohl, Bankbelege bei verschiedenen Finanzinstituten zu beschaffen. Mitte Mai 2018 hatte die Staatsanwaltschaft ferner bekannt gegeben, dass «weitere strafrechtlich relevante Transaktionen der beiden Hauptbeschuldigten im Zusammenhang mit Akquisitionen der Aduno-Holding» ans Tageslicht gekommen seien.
Die Staatsanwaltschaft schrieb in der Mitteilung vom Juni 2018 zur Entlassung, dass «die sehr aufwendige» Untersuchung gegen die beiden Beschuldigten inzwischen sehr weit fortgeschritten sei. Offenbar bestand auch keine Gefahr der Kollusion mehr. Mit der Untersuchungshaft wollte die Staatsanwaltschaft unter anderem verhindern, dass sich Vincenz und Stocker miteinander absprechen.
Die Staatsanwaltschaft geht der Frage nach, ob Vincenz und Stocker sich tatsächlich der ungetreuen Geschäftsbesorgung schuldig gemacht haben. Möglicherweise erfolgt auch eine Anklage wegen Betrugs. Im Falle der ungetreuen Geschäftsführung muss der Staatsanwalt den Beschuldigten erstens eine Pflichtverletzung nachweisen. Als Verantwortliche mussten Vincenz und Stocker die Geschäfte von Aduno «sauber» führen. Steht dieses Erfordernis im Widerspruch zum Kauf von Commtrain durch Aduno? Zweitens muss Aduno durch die Transaktion ein Schaden entstanden sein, zum Beispiel weil die Gesellschaft für Commtrain viel mehr bezahlt hat, als sie eigentlich wert war. Drittens steht der Staatsanwalt in der Pflicht, Vincenz und Stocker eine persönliche Bereicherung nachzuweisen. Viertens schliesslich muss zwischen diesen Punkten ein kausaler Zusammenhang bestehen.
Nicht im Fokus der Staatsanwaltschaft soll die Höhe der bezahlten Preise für die Übernahmen gelegen haben. Denn eine Beweisführung dafür, dass ein Unternehmen für den Kauf einer Firma zu viel bezahlte, und dies auch noch auf Jahre rückblickend, ist äusserst schwierig. Besonders, wenn es sich bei den Kaufobjekten um Startups handelte. Die neuesten Entwicklungen dazu.
Raiffeisen hat bereits mit diversen Massnahmen auf die seit einiger Zeit virulente Krise reagiert.
- Auf den Untersuchungsbericht der Finma hat die Raiffeisen-Gruppe mit einer Stellungnahme reagiert. Die Raiffeisen-Gruppe anerkenne die Finma-Verfügung, wie sie in einer Medienmitteilung schreibt. Raiffeisen Schweiz werde ferner überprüfen, ob man eine Änderung der Gesellschaftsform vornehmen wird. Die Finma hat Raiffeisen Schweiz verpflichtet, die Vor- und Nachteile einer Umwandlung in eine Aktiengesellschaft zu prüfen.
- Im April 2018 hat Raiffeisen eine interne Untersuchung zum Fall Vincenz lanciert und Bruno Gehrig damit beaufragt. An der Delegiertenversammlung im November 2018 wurden bereits Erkenntnisse präsentiert, welche die von der Finma monierten aufsichtsrechtlichen Defizite in der Corporate-Governance-Struktur von Raiffeisen Schweiz bestätigten.
- Um Rollenkumulationen und Interessenkonflikte zu reduzieren, verfolgt die Bank eine Entflechtungsstrategie. Im Zuge dessen hat sie sich 2018 entschieden, die 2012 akquirierte Privatbank Notenstein La Roche an die Konkurrentin Vontobel zu verkaufen.
- Ein zentraler Kritikpunkt ist die Zusammensetzung des Raiffeisen-Verwaltungsrates, in dem bis anhin viele branchenfremde Personen Einsitz hatten. Der bisherige Präsident, Hochschulprofessor Johannes Rüegg-Stürm, hat im März 2018 seinen Rücktritt erklärt, die Nachfolge übernahm mit Guy Lachappelle ein Kantonalbanker. Zudem wurden vier weitere neue Mitglieder des Verwaltungsrats ernannt. In einem NZZ-Interview legt Lachappelle dar, wie künftig Interessenkonflikte vermieden werden sollen.
Patrik Gisel hatte 2015 von Vincenz das Zepter übernommen. Er galt als langjähriger Weggefährte des Bündners. Die Vorwürfe gegen seinen Vorgänger versuchte er als neuer Raiffeisen-Chef lange unter Verschluss zu halten. Als sie dennoch an Aufmerksamkeit gewannen, distanzierte sich Gisel schliesslich klar vom «Ziehvater».
Auch von Vincenz’ Transaktionen rund um Aduno distanziert sich Gisel klar. Diese Geschäfte habe Vincenz ausserhalb der Bank eingefädelt, intern habe man keine Kenntnis gehabt. Andere Raiffeisen-Beteiligungen, die ebenfalls in der Kritik stehen, waren Gisel als damaligen Stellvertreter von Vincenz bekannt, er habe die Geschäftsideen mitgetragen. Gisel selber hatte einen Rücktritt lange ausgeschlossen, da er bezüglich der Verdachtsmomente der Untersuchungsbehörden nichts Auffallendes habe feststellen können.
Am 17. Juli 2018 zog er dennoch die Konsequenzen kündigte seinen Abgang an. Er wolle mit diesem Schritt die öffentliche Debatte um seine Person beenden und die Reputation der Bank schützen, begründete Gisel seinen Schritt. Mit seinem Rücktritt macht Patrik Gisel den Weg frei für einen Neubeginn an der Spitze der Raiffeisen-Gruppe. Am 7. Januar 2019 trat Heinz Huber, zuvor Chef der Thurgauer Kantonalbank, Gisels Nachfolge an der Raiffeisen-Spitze an. Huber ist kein Blender. Dafür bringt er Führungserfahrung, Bodenständigkeit und eine Affinität zu IT-Fragen mit.
Für das Geschäftsjahr 2018 musste Raiffeisen einen deutlichen Gewinnrückgang hinnehmen. Ein wesentlicher Grund dafür sind Wertberichtigungen auf Beteiligungen aus der Vincenz-Ära. Sie belasteten das Ergebnis mit 270 Mio. Fr. Allein für die Transaktion rund um den Erwerb von Arizon Sourcing, einem ehemaligen Joint Venture von Raiffeisen und Avaloq, wurden Rückstellungen von 69 Mio. Fr. gebildet.
- Am 3. November hat die Staatsanwaltschaft über die Anklage informiert.
- Die Raiffeisen-Genossenschaften wollen verhindern, dass Raiffeisen Schweiz nochmals ein unkontrolliertes Königreich wird. Mit der «Reform 21» soll die in der Ära Vincenz verlorene Kontrolle über ihre St. Galler Tochter Raiffeisen Schweiz zurückgewonnen, organisatorisch abgesichert und statutarisch legitimiert werden. Im November 2019 haben die Delegierten das Projekt klar gutgeheissen.
1999
- Vincenz wird CEO von Raiffeisen Schweiz, per März 2016 tritt er zurück
- Vincenz wird Verwaltungsratspräsident der Kreditkartenfirma Aduno, 2017 zieht er sich aus dem VR zurück
- Stocker wird Delegierter des Verwaltungsrats von Aduno, später wird er zum CEO ernannt, was er bis 2015 bleibt
2005-2007
- Vincenz und Stocker beteiligen sich über i-Finance privat an Commtrain
2007
2012
- Raiffeisen kauft Investnet
2014
2017
- Oktober: Finma eröffnet ein Verfahren gegen Raiffeisen und eines gegen Vincenz, stellt dieses jedoch im Dezember wieder ein, da es nach Vincenz’ Rücktritt als Präsident des Versicherers Helvetia gegenstandslos geworden ist.
- Dezember: Aduno erstattet Strafanzeige gegen Vincenz und Stocker
2018
2019
2020
- 1. Juli: und 2500 Mitarbeiter der St. Galler Zentrale werden künftig nicht mehr individuell, sondern kollektiv am Erfolg beteiligt. Damit sollen die genossenschaftlichen Werte gestärkt werden. Das Vorhaben ist hehr, der Erfolg ungewiss.
- 20. Juli: Mit der Strategie «Raiffeisen 2025» will die Bankengruppe die digitale Transformation vorantreiben, Marktanteile hinzugewinnen und die Profitabilität stärken.
- 19. August: Die schwergewichtig im Hypothekargeschäft engagierte Raiffeisen-Gruppe kommt erstaunlich gut durch die Covid-19-Krise.
- 3. November: Die Staatsanwaltschaft III des Kantons Zürich erhebt Anklage gegen den ehemalige Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz und seinen Partner Beat Stocker.
- Am 25. Januar beginnt der Strafprozess gegen den früheren Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz und seinen engsten Mitarbeiter Beat Stocker