Afghanistan-Experte Klawitter: “Als ich den A400M bestieg, kamen die Emotionen hoch”

20 Jahre lang lebt und arbeitet Christoph Klawitter in Afghanistan. Doch dann überrennen die Taliban das Land, nehmen am 15. August 2021 auch Kabul ein. Klawitter könnte sofort ausreisen – doch er bleibt, um bei der Evakuierungsmission zu helfen. “Ich bin geblieben, weil ich das Gefühl hatte, helfen zu können und helfen zu müssen”, sagt er im Interview mit ntv.de. Er spricht über die schrecklichen Szenen, die sich in diesen Tagen am Flughafen zugespielt haben, über seine Erfahrungen bei der Rückkehr ins Land und über seine Erwartungen an den Untersuchungsausschuss des Bundestags.

ntv.de: Wenn Sie ein Jahr zurückschauen – welcher Moment, welche Situation oder Person poppt da vor Ihrem inneren Auge auf?

Christoph Klawitter: Es gab mehrere schreckliche Szenen, die mich vor meinem inneren Auge verfolgen: allen voran natürlich die Bilder von den schwer verletzten, sterbenden und toten Menschen im dichten Gedränge vor dem North Gate des Kabuler Flughafens. Einige waren niedergetrampelt worden oder an der Hitze und Dehydrierung gestorben. Mir wurde beispielsweise ein totes Baby in den Arm gedrückt, ich habe es den Militärmedizinern der US-Marines übergeben. Und es herrschte eine absolute Skrupellosigkeit: Wir sahen, wie Männer mit fremden Kindern versuchten, durch die Schleusen zu kommen. Sobald sie drinnen waren, haben sie die Kinder dann einfach sich selbst überlassen. Natürlich haben wir solche Typen, wenn wir den Vorfall mitbekommen haben, wieder rausgeschickt. Aber verhindern konnten wir es nicht. Auf dem Flughafengelände selbst haben wir eine Art Waisenhaus errichtet, für all die Kinder, die verloren gegangen waren oder alleingelassen wurden. Diese Bilder und den Gestank von Blut, Fäkalien und Schweiß, der vor Ort herrschte, werde ich niemals vergessen können.

Christoph Klawitter bei seiner Rückkehr nach Afghanistan.

(Foto: Liv von Boetticher)

Gab es Momente, die Sie für sich selbst als besonders dramatisch oder beängstigend empfunden haben?

Ja, der frühe Morgen des 16. August. Ich hatte die Nacht in einem Container auf dem militärischen Teil des Flughafens verbracht und wachte um kurz nach 6 Uhr auf, weil die Erde bebte. Zuerst dachte ich, es sei ein Erdbeben, die gibt es in Afghanistan ja öfter. Aber das Beben hörte einfach nicht auf, deshalb ging ich nach draußen und sah, wie sich eine Wand auf mich zubewegte. Es war eine Menschenwand – Tausende Zivilisten, die auf mich zu rannten. Auf dem Vorfeld vor unseren Containern gingen das US-Militär und das britische Militär in Stellung und gaben Warnschüsse über die Köpfe der Menschen ab. Da wusste ich, dass die Sache irgendwie aus dem Ruder läuft und Chaos bevorsteht. Durch die Menschen war ja auch die Landebahn zu und die Maschinen konnten nicht mehr landen.

Haben Sie im vergangenen Jahr die Situation verarbeitet, die Ereignisse für sich eingeordnet?

Auch heute fühle ich noch Wut und Enttäuschung über die Art und Weise, wie das Ende des 20-jährigen Militäreinsatzes abgelaufen ist. Vor allem aber, wie die Evakuierung durchgeführt wurde. Es wurden in den vergangenen 20 Jahren so viele Fehler gemacht. Die verantwortlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Militärs, der Politik, aber auch die Diplomatinnen und Diplomaten, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Geheimdienste und natürlich die vielen Hilfsorganisationen – sie haben einfach nicht auf das gehört, was Menschen mit Erfahrung vor Ort gesagt haben. Es gab so viele unsinnige Projekte, die an der Lebensrealität vorbeigingen und rein gar nichts gebracht haben. Ich weiß nicht, ob man so etwas verarbeiten kann oder einfach lernen muss, mit dieser Enttäuschung zu leben.

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August 2021: Mit NATO-Stacheldraht sollten die Menschen davon abgehalten werden, den Flughafen zu stürmen.

(Foto: Christoph Klawitter)

Wie war Ihre Rückkehr ins Land?

Vor einigen Monaten war ich für mehrere Wochen in Afghanistan und es war so surreal. 20 Jahre lang waren die Taliban unsere Feinde und jetzt sind sie an der Macht. Das Verrückte ist: Ich habe mich jetzt sicherer gefühlt als in den ganzen Jahren zuvor. Denn jetzt sind die an der Macht, die zuvor für die Gefährdungslage gesorgt haben. Auch meine ehemaligen Mitarbeiter und Bekannten empfinden die Sicherheitslage jetzt besser als zuvor. Zwar gibt es auch jetzt noch vereinzelt Anschläge, für die sich der IS bekennt und die meistens der schiitischen Minderheit der Hazara gelten, aber die Frequenz ist deutlich gesunken.

Wo sehen Sie besonders dringenden Aufklärungsbedarf im U-Ausschuss des Bundestages?

Das Verhalten der Verantwortlichen rund um die Evakuierung ist gut dokumentiert, es gibt zum Glück viele Zeugen. Es war ein Versagen mit Ansage. Man muss aufklären, wer für diese kolossalen Fehlentscheidungen zuständig war, und die Personen zur Rechenschaft ziehen.

Trauen Sie den Parteien eine unabhängige Aufarbeitung zu?

Nein.

War der Afghanistan-Einsatz von vornherein ein Fehler? Sehen Sie auch positive Aspekte Ihrer Zeit in dem Land?

Nein, der Einsatz war kein Fehler. Allerdings war es ein Fehler, wie sich der Einsatz dann entwickelt hat. Das Land und die Leute liegen mir sehr am Herzen und ich habe viele Freunde und Bekannte und natürlich viel Lebenserfahrung durch meine Zeit dort gewonnen.

Was haben Sie in den Jahren, in denen Sie in Afghanistan gelebt haben, gemacht?

Ich bin gelernter Logistiker und habe in den Anfangsjahren in Afghanistan die Logistik für verschiedene Organisationen gemacht. Zum Beispiel habe ich militärisches Gut wie gepanzerte Fahrzeuge von A nach B gebracht oder Hilfsgüter wie Schulbücher, Kleidung und Lebensmittel. Ich habe auch eine Zeit lang das Camp Qasaba der Bundeswehr geleitet. Zuletzt habe ich für den afghanischen Staat ein Überwachungssystem in Kabul geplant. Allerdings wurden nur fünf Prozent der Kameras aufgebaut, dann fiel das Land in die Hände der Taliban.

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August 2021: Ein Taliban überwacht die Menge am Tor zum Flughafen.

(Foto: Christoph Klawitter)

Wie haben Sie die Situation im Juni und Juli 2021 eingeschätzt, vor allem nach dem Abzug der Bundeswehr Ende Juni?

Es war absolut klar, dass die Taliban nach Kabul kommen würden. Allerdings war nicht klar, dass Präsident Aschraf Ghani fliehen würde. Der Plan war, dass die Taliban und die Regierung gemeinsam eine Lösung finden. Durch seine Flucht hat er das ganze Land den Islamisten überlassen. Dass die Taliban aber seit Jahren bereits in der Stadt waren, wusste eigentlich auch jeder vor Ort. Sie hatten ihre Kämpfer unter anderem bei der Polizei, beim Geheimdienst oder sogar als Wachleute von Botschaften untergebracht. Sie hatten alle Institutionen infiltriert. Das war ein offenes Geheimnis. Der Abzug der Bundeswehr hatte dann keine nennenswerten Auswirkungen, denn sie war auch in den Monaten davor nicht mehr präsent.

Haben Sie auf gepackten Koffern gesessen, um jederzeit bereit zur Abreise zu sein?

Ich hatte immer eine Notfalltasche dabei, mit meinen Dokumenten, Geld und Erste-Hilfe-Material. Meine Mitarbeiter habe ich alle in das SIV-Programm (Special Immigration Visa) der Amerikaner eingetragen. Allerdings dauert die Bearbeitung noch an und meine ehemaligen Mitarbeiter und ihre Familien sind fast alle noch in Afghanistan.

Woher haben Sie Ihre Informationen zur Sicherheitslage bezogen?

Durch meine jahrelangen Kontakte und Quellen aus der Stadt und auf dem Land.

Sie standen auch im Kontakt mit der deutschen Botschaft. Wie schätzen Sie deren Arbeit ein, gab es Rückendeckung aus Berlin?

Die deutsche Botschaft in Kabul hat, so wie ich es mitbekommen habe, ein realistisches Lagebild gehabt und hat dieses auch nach Berlin berichtet. Meiner Meinung nach wurden die Leistungen von Jan Hendrik van Thiel, der zu diesem Zeitpunkt Interims-Botschafter in Kabul war, sowie seine Einschätzung der Lage und operativen Schlussfolgerungen in Berlin nicht gewürdigt.

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Christoph Klawitter bei der Arbeit vor einem Jahr: Er bringt einen Mann und seine Familie auf das Flughafengelände.

(Foto: Christoph Klawitter)

Sie hatten früh die Möglichkeit, mit der Bundeswehr aus dem Land zu fliegen, nachdem Kabul an die Taliban gefallen war. Warum haben Sie das nicht genutzt?

Ich bin geblieben, weil ich das Gefühl hatte, helfen zu können und helfen zu müssen. Ich spreche fließend eine der Landessprachen, Dari, und kenne mich sehr gut am Flughafen aus. In den ersten Stunden war ja nicht mal ein Übersetzer vor Ort. Nach Absprache mit Interims-Botschafter van Thiel bin ich geblieben und habe die Aufgabe übernommen, die Menschen, die auf den Listen aus Deutschland standen, vor den Toren ausfindig zu machen, sie aufs Gelände zu bringen und dort in Ruhe ihre Dokumente zu überprüfen. Vor den Toren herrschte absolutes Chaos, aber an den Schleusen ging dann alles relativ geordnet zu. Die Soldaten, Botschaftsmitarbeiter, die Mitarbeiter vom Auswärtigen Amt, das Krisen- und Unterstützungsteam vor Ort sowie die Mitarbeiter des BND haben Übermenschliches geleistet, es gab ja keine Sekunde Pause.

Hatten Sie Angst, dass die Taliban den Flughafen angreifen?

Nein, zu keinem Zeitpunkt. Weil sie kein Interesse hatten, in dieser Situation Schaden anzurichten.

Wie waren die letzten Stunden in Afghanistan, bevor Sie das Land nach 20 Jahren verlassen haben?

Die ganzen elf Tage am Flughafen, also vom 15. bis zum 26. August, hatte ich überhaupt keine Sekunde Zeit, um über meinen Abschied aus dem Land nachzudenken. Erst in dem Moment, als ich den A400M der Bundeswehr bestiegen habe, sind die Emotionen hochgekommen. Da habe ich auch geweint. In diesem Moment wurde mir erst bewusst, dass das jetzt nach 20 Jahren der Abschied ist. So plötzlich. Und ich musste viele Freunde und Bekannte zurücklassen. Zu diesem Zeitpunkt war auch überhaupt nicht klar, ob und wenn ja, in welchem Zustand ich das Land jemals wiedersehen würde.

Wissen Sie, wie es Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ergangen ist und heute geht?

Natürlich, ich habe zu allen fast jeden Tag Kontakt. Es geht ihnen den Umständen entsprechend gut. Sie erzählen mir, dass die Sicherheitslage, was Anschläge betrifft, sehr gut sei. Von meinen ehemaligen Mitarbeitern hat auch keiner Bedrohungen durch die Taliban erhalten, obwohl sie in einem sehr wichtigen, sicherheitsrelevanten amerikanischen Projekt gearbeitet haben.

Welche Probleme gibt es denn?

Das größte Problem ist mit Sicherheit die wirtschaftliche Lage. 90 Prozent meiner Leute haben derzeit keine Arbeit. Und natürlich können die Frauen, die zuvor in Afghanistan ein westliches Leben geführt haben, dieses in dieser Form nicht mehr tun. Man muss aber an dieser Stelle betonen: Nur ein Bruchteil der afghanischen Frauen war in den vergangenen 20 Jahren wirklich frei. Die meisten steckten und stecken auch heute fest in ihren durch Männer vorgegebenen, traditionellen und gesellschaftlichen Normen. Diese Werte kommen den Taliban jetzt entgegen, denn sie haben den Rückhalt von großen Teilen der Gesellschaft. Deshalb braucht man sich auch nicht zu wundern, dass die Taliban innerhalb weniger Wochen das Land quasi überrannt haben. Es gibt einfach viele Sympathisanten.

Es wird viel über die Gefährdung der Ortskräfte gesprochen. Was hören Sie von Ihren Kontakten?

Während meines Aufenthalts vor einigen Wochen haben mich natürlich viele Menschen angesprochen, ob ich ihnen helfen könne, das Land zu verlassen. Wegen der katastrophalen wirtschaftlichen Situation wollen eigentlich alle nur noch raus. Viele haben mir erzählt, dass sie bedroht werden. Doch dann, bei genauerer Nachfrage, stellte sich bei all den Personen, mit denen ich gesprochen hatte, heraus, dass die Beweggründe rein wirtschaftlich waren und keine Bedrohungslage vorliegt. Natürlich kann man es nicht verallgemeinern und sagen, Afghanistan sei für ehemalige Ortskräfte generell sicher. Aber es ist eben auch nicht so, dass die Taliban mordend durch die Straßen ziehen. Von meinen ehemaligen Mitarbeitern hat kein einziger Drohungen erhalten. Meine ehemaligen Mitarbeiter kommen aus allen Teilen des Landes und gehören verschiedenen Ethnien an. Und auch keiner von ihren Kontakten hat Drohungen erhalten. Es mag sicherlich Fälle geben, wo, aus welchen Gründen auch immer, eine Bedrohungslage vorliegt. Aber aus meiner Sicht ist das nicht repräsentativ für die tatsächliche Situation vor Ort.

Haben die Taliban denn ein Interesse, Ortskräfte zu töten?

Die Taliban haben absolut kein Interesse, die ehemaligen Ortskräfte zu bedrohen. Denn diese Menschen sind in den meisten Fällen besser gebildet als der große Rest der afghanischen Gesellschaft. Die Taliban brauchen sie, um das Land am Laufen zu halten. Und sie wollen international anerkannt werden. Da ist jede tote ehemalige Ortskraft ein riesiges Problem.

Mit Christoph Klawitter sprach Liv von Boetticher

Christoph Klawitter ist in den vergangenen Monaten zusammen mit ntv-Reporterin Liv von Boetticher zurück nach Afghanistan gereist und hat geschaut, wie sich das Land seit der Machtübernahme der Taliban verändert hat. Die Dokumentation “60 Tage Frauenhass – eine Reporterin bei den Taliban” läuft am 23. August um 22.35 Uhr bei RTL.

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