Agit Kabayel boxt um WM-Chance: Die Heldengeschichte made in Wattenscheid

Agit Kabayel kämpft um seine große Chance. In Riad boxt er gegen Frank Sanchez um die WM-Chance. Der Junge aus Wattenscheid blickt bereits auf eine bewegte Karriere nah am Abgrund zurück.

Unweit des Düsseldorfer Hauptbahnhofs liegt die Kölner Straße. Der Name lässt erahnen, dass es sich bei ihr nicht gerade um einen Prachtboulevard der Landeshauptstadt handelt, handeln kann. In Haus Nummer 65, inmitten von Verkehrslärm und umgeben von Fast-Food-Läden, befindet sich das “UFD-Gym”. Wenn im Sommer die Sonne auf das Flachdach knallt, steht unter den niedrigen Decken die Luft. Regnet es, nähert sich das Klima jenen subtropischen Verhältnissen an, bei denen sich einst Muhammad Ali und George Foreman im Dschungel auf die Murmel hauten.

Das Gym ist spartanisch eingerichtet. Im Eingangsbereich Laufgeräte, links und rechts Gewichte, im hinteren Bereich ein Käfig für MMA-Kämpfer, Sandsäcke und ein Boxring – ein sehr kleiner Boxring. Vier, höchstens viereinhalb Meter misst das Seilquadrat. Bei einem offiziellen Faustgefecht müssen es mindestens fünf Meter sein. “Da drin ist eine Runde wie drei”, sagt Trainer Sükrü Aksu über den Arbeitsplatz von Schwergewichtler Agit Kabayel, Deutschlands derzeit bestem Boxer.

“Hier kann man nicht weglaufen, deswegen wird hier viel gefeuert. Da geht man in der Vorbereitung durchs Feuer”, stimmt der Mann aus Wattenscheid seinem Coach zu. Neun Wochen hat sich Kabayel zwischen den Seilen geschunden, um für die bisher größte Chance seines Boxerlebens gerüstet zu sein. In Riad trifft der 31-Jährige am Samstagabend (live auf DAZN) auf den Kubaner Frank Sanchez. Die jeweils in 24 Profikämpfen ungeschlagenen Schwergewichte kämpfen im Vorprogramm der Weltmeister Tyson Fury und Oleksandr Usyk. Die größtmögliche Bühne. Der Sieger des “Final Eliminators” bekommt beim Weltverband WBC das Recht, den Weltmeister herauszufordern – also Fury oder Usyk, die am Persischen Golf um alle Titel kämpfen, die es im Boxen gibt.

Makhmudov aus dem Ring gehauen

Dass Kabayel vor aller Augen Welt glänzen kann, hat er schon vor einigen Monaten bewiesen, ebenfalls in Riad. Kurz vor Weihnachten schlug der “Junge aus dem Pott” im Rahmen einer großen saudischen Boxshow mit den Superstars Anthony Joshua und Deontay Wilder den als K.-o.-Maschine inszenierten Arslanbek Makhmudov aus Russland. Nur vier Runden brauchte Kabayel, um den Furcht einflößenden Zwei-Meter-Koloss kurz und klein zu hacken – ein “Upset”, also eine ziemliche Überraschung, hieß es hinterher. Kenner der Szene waren dagegen nicht unbedingt verblüfft.

Denn Agit Kabayel mischt im Schwergewicht schon seit einiger Zeit in der erweiterten Weltspitze mit. Ende 2017 bezwang er in Monte Carlo den einstigen Klitschko-Herausforderer Dereck Chisora. Zwei Jahre später bekam Kabayel als erster deutscher Boxprofi einen Vertrag bei der amerikanischen Promoter-Legende Bob Arum (92) und dem TV-Giganten ESPN. Ein WM-Kampf gegen Fury schien in Reichweite. Dann kam Corona. “Das hat mich und mein Team komplett runtergerissen. Wir waren auf dem Weg in die Champions League”, erinnert sich Kabayel. Aufbaukämpfe vor Geisterkulisse statt Spotlight. 3G statt WBC.

“Nach der Geschichte haben wir gesagt: Jetzt geben wir erst richtig Gas”, erzählt der Preiskämpfer aus dem Revier. In seiner Heimat Bochum gelang Kabayel im März 2023 ein spektakuläres Comeback. Vor einer tobenden 4000-Seelen-Meute bezwang er im Ruhrcongress den Kroaten Agron Smakici in der dritten Runde durch Technischen K.o, krönte sich zum zweiten Mal zum Europameister. Eine Runde zuvor hatte es noch nach Pleite gerochen. Nach einem Trommelfeuer seines Gegners hing Kabayel in den Seilen, wurde erstmals vom Ringrichter angezählt. “Mein Trainer hat mir immer gesagt: Ich warte auf den Tag, an dem du mal eine aufs Maul kriegst – ob du dann zurückkommst, ob du das kannst”, blickt der 1,91-Meter-Schrank auf die bangen Momente zurück. “Charakter zeigen” war angesagt.

Mit der Mentalität des Wattenscheiders

Für ihren besonderen Charakter, dafür stehen die Menschen aus dem Ruhrgebiet. Und Kabayel kommt aus dem Herzen der Region. Wohl kaum eine Stadt steht mehr für all das, was den Pott auszeichnet: für die A40, für Pommes-Currywurst, für Zechentürme und marode Gebäude, für Tristesse und Strukturwandel. Für Multikulturalität und für grüne Gürtel. Und für die besondere Mentalität, sich niemals hängen zu lassen. Was hat diese Region alles ertragen müssen: den Tod der Kohle, den Zusammenbruch von Stahl. Riesen wie Opel und Nokia verschwanden. Doch immer kam was Neues. Weil isso. So sagt man hier, wo das Herz mehr zählt als das große Geld. Wer wohnt schon in Düsseldorf?

Kabayel nicht, er bleibt in Wattenscheid. Stabilität statt Vergänglichkeit. Und nichts in seiner Heimat steht wohl mehr dafür als das legendäre Lohrheidestadion. Hier, wo einst der FC Bayern vermöbelt worden war, wo Spieler mit Namen wie Marek Lesniak, Uwe Tschiskale und Souleymane Sané zur Legende wurden. Mit dessen Sohn Leroy, dem DFB-Star, hat Kabayel einst noch bei der SG Wattenscheid 09 gespielt. Doch Fußballprofi, das würde nicht klappen. Kabayel entschied sich für den Kampfsport und schließlich fürs Boxen. Eine Heldengeschichte made in “Wattsche”.

Mehr Gegensatz zu der Welt, dessen Tor er sich in Riad nun aufstoßen will, dort, wo im Zuge des groß angelegten Sportswashings plötzlich das große Geld im Boxen zu verdienen ist -, geht nicht. Wattenscheid ist ehrliche Provinz, im Gegensatz zu Düsseldorf. Im Gegensatz zur saudischen Hauptstadt. Aber Wattenscheid ist eben Herz. Hier gibt es keinen Glamour, aber hier gibt es Freunde, Familie. Hier gibt es Anerkennung. “Wenn ich in Düsseldorf in ein Restaurant gehe, werde dort begrüßt, aber meine Freunde nicht, dann ist das respektlos”, sagt Kabayel über “Oberflächlichkeit”. Egal, wo er auf der Welt sei: “Ich will zurück in den Pott, da fühle ich mich am wohlsten, man ist hier multikulti aufgewachsen, da ist auch jeder so drauf. Anderswo kriegt man schon zu spüren, dass die Denkweise oder die Mentalität nicht so ist wie hier. Im Pott ist es egal, woher du kommst, wie du heißt oder welche Schuhe du trägst.”

Herkunft und Familiennamen scheinen in der Tat nicht überall egal zu sein. Kabayel aber kommt aus Wattenscheid, aus Deutschland, ist hier zur Schule gegangen, hat hier eine Ausbildung gemacht, hat hier seine Steuern bezahlt. “Wenn Deutschland es irgendwann akzeptiert, dass ein Agit Kabayel auch deutsch sein kann, dann können wir große Meilensteine setzen”, sagte er Ende des vergangenen Jahres, nachdem sein Sieg in Saudi-Arabien medial wenig beachtet wurde. “Etwas mehr Support aus den eigenen Reihen” hätte er sich gewünscht, würde er sich wünschen, räumt Kabayel ein. “Man sollte doch stolz sein, dass jemand seit vielen Jahren den deutschen Boxsport im Ausland repräsentiert, gut repräsentiert. Warum kriegen wir das Boxen nicht wieder zurück nach Deutschland?” Sein großer Traum: einmal im Bochumer Ruhrstadion einlaufen, live besungen von Herbert Grönemeyer.

Dem Nachwuchs fehlen die Vorbilder

Dass das “deutsche” Boxen in der Krise steckt, ist auch eine Anerkennungsgeschichte. Einst fegten Henry Maske, Sven Ottke, Graciano “Rocky” Rocchigiani, Axel Schulz und wie sie alle hießen, die Menschen von den Straßen. Auch die Klitschkos, obwohl ja Ukrainer, holten die Menschen in Massen vor die Fernseher. Aber danach begann ein erschütterndes Sterben des Boxens, der Königsklasse, des Schwergewichts. Trainer Aksu sieht einen Grund dafür, dass sich die alten Helden der Nation zu wenig engagieren, zu wenig Präsenz zeigen. Dem Nachwuchs fehlen die Vorbilder. Hierzulande herrschte lange eine große Brache. Kabayel hat mit jedem Sieg frische Setzlinge eingepflanzt, nun soll in Riad der finale Weg zur großen Blüte gegangen werden. Ein letztes Mal im Schatten, danach soll alles im Rampenlicht stattfinden.

Auf diesem Weg aber musste sich Agit Kabayel erst einmal schütteln und wieder aufstehen, damals in Bochum gegen den schlagstarken Smakici. Er tat es, zeigte die Pott-Mentalität und zwang den 1,98-Meter-Hünen in eine erbarmungslose Abnutzungsschlacht. In der dritten Runde prügelte Kabayel unaufhörlich auf seinen Gegner ein – bis der Ringrichter abwinkte. “Das war schon ein bisschen wie im Rocky-Film”, sagt er stolz. “Diese Runden haben Agits Leben verändert”, betont auch Trainer Aksu. Bei einer Niederlage wäre die Karriere wohl vorbei gewesen. “Das ist so”, sagt sein Coach.

Auch Aksu ist einer, der den Kampf um Anerkennung führt. Zig Weltmeister in unterschiedlichen Klassen hat er geformt, unter anderem Mahmoud Charr zu einem Titel geführt. Aksu hat geschafft, woran andere Trainer gescheitert waren. Aber in der öffentlichen Wahrnehmung stand er stets weit hinter dem kultigen Ulli Wegner zurück.

“Haut der hart?” – “Irgendwie nicht”

Am Selbstbewusstsein von Kabayel und Aksu kratzt das nicht. Der deutsche Schwergewichtler nahm den Schwung aus seiner Heimat im Dezember vielmehr mit nach Riad. Der als “Bogeyman”, als Schreckgestalt des Schwegewichts verschriene Makhmudov bekam die Klasse des gereiften Kabayel zu spüren – auch, weil “Chief Second” Aksu seinen Mann bestens eingestellt hatte und in der Pause zur dritten Runde Feuer machte. “Haut der hart?”, fragte der Coach. “Irgendwie nicht”, antwortete Kabayel. “Na also, dann gib’ mal ein bisschen Druck. Der Junge ist doch stehend k.o., der hat keine Kraft mehr”, herrschte Aksu seinen Mann an. Der gehorchte, vernagelte dem russischen 120-Kilo-Koloss mit präzisen Schlagkombinationen zum Körper jegliche Sauerstoff-Schächte.

Agit Kabayel und Sükrü Aksu: Das ist eine besondere Boxer-Trainer-Geschichte. Wieder ein wenig wie bei Sylvester Stallones Rocky Balboa und dessen “Manager” Mickey Goldmill. Kein professionelles Arbeitsverhältnis, sondern Herzenssache. Seit Kabayels Anfängen als Profi 2011 ist Aksu an seiner Seite – im Boxring wie im Leben. “Alles, was ich kann und im Boxsport gelernt habe – da ist Sükrü ein ganz großer Teil von”, sagt Kabayel: “Er hat irgendwie auch eine Vaterrolle für mich übernommen, hat in so vielen Lebenssituationen versucht, mich rauszuholen, mir zu helfen. Es ist wie Vater-Sohn. Ich bin glücklich, es passt einfach alles.”

“Das ist Familie”, pflichtet Aksu bei. Der Box-Lehrmeister stammt wie Kabayels Familie aus der Türkei. Kabayels Eltern wanderten vor 40 Jahren aus dem kurdischen Teil des Landes aus, fanden im Ruhrpott eine zweite Heimat. Gemeinsam ackern sie für eine Chance auf den vielleicht prestigeträchtigsten Titel, den es im Sport gibt. Eine Two-Man-Show – ein Kampf um mehr. “Mein Coach und ich: wir streben seit Anfang unserer Karriere nach der Akzeptanz in der Gesellschaft. Wir haben zwar einen Migrationshintergrund, aber wir wollen in Deutschland akzeptiert werden wie jeder andere. Diesem Ziel jagen wir seit Jahren hinterher”, sagt Kabayel.

Dabei haben er und Aksu eine positive, eine Erfolgsgeschichte zu erzählen. Will Deutschland diese nicht hören? Sondern lieber “Bad News”? “Ich glaube schon, dass in den Medien, vor allem auf Social Media, viel mit dem Finger auf die falschen Leute gezeigt wird”, sagt Kabayel: “Man zeigt auf Personen, die nicht für Integration stehen, die sich danebenbenehmen. Es gibt genauso gut andere Beispiele, die man nehmen könnte: Einen, der zeigt, wie es geht, der es geschafft hat, der eine Vorbildfunktion für die Jüngeren haben könnte.” Vielleicht ja als Champion. Erst ein Deutscher hat es zum Meister aller Box-Klassen geschafft: Max Schmeling, 1930.

“Game Plan ist das, was der Coach sagt”

“Ich bin noch nicht am Ziel angekommen. Mein Ziel ist es, Schwergewichts-Weltmeister zu werden. Da steht Frank Sanchez im Weg. An ihm muss ich vorbei – egal wie”, blickt Kabayel auf seinen Kampf in Riad voraus. Schlägt er den Kubaner, ist die große Chance da, Geschichte zu schreiben: Agit Kabayel, fast 100 Jahre nach Max Schmeling. “Das würde mir viel bedeuten. Ich bin aber kein Mensch, der gerne zu viel in die Zukunft blickt. Ich bin immer sehr optimistisch und schaue nur auf das Ziel, das ich vor mir habe. Das ist Frank Sanchez. Ich muss den Fokus beibehalten.”

Sein Gegner gehöre “auf jeden Fall zu den Top fünf der Welt”, sagt Kabayel. Sanchez’ Stärken seien “die Beinarbeit, seine Schnelligkeit, das gute Auge. Seine Ausbildung, die kubanische Schule”. Für ihn selbst sprächen “Herz, Wille, das Boxerische, das ich draufhabe – diese Kombination kann einen wahren Champion formen”, glaubt Kabayel. Über Strategie und Taktik will er nicht allzu viel verraten. “Der Game Plan ist das, was der Coach sagt.”

Wenn man sie machen lasse, seien “die Kubaner im Boxen wie die Brasilianer im Fußball – die können alles”, warnt Aksu. Drei Kubaner sind im “UFD-Gym” in Düsseldorf gewesen, um den Deutschen fit zu machen für den WM-Ausscheidungskampf. Kabayel kennt die berühmte kubanische Schule jetzt, mindestens die Grundschule. Aber kennt Kuba auch den Pott und seine Mentalität, weiß Sanchez, was ihn in Riad erwartet? “Eines mögen die Kubaner nicht: Druck und Körpertreffer”, deutet Aksu den Schlachtplan seines Boxers an. Offensive, aber kontrolliert, immer in Bewegung. Sein Schützling dürfe nicht den Fehler machen, zu angriffslustig zu boxen und vor Sanchez stehen zu bleiben. “Dann ist es vorbei. Der kann hauen, der kann boxen, mehrere Hände, schnelle Kombinationen. Das ist schon ein Weltklasse-Mann”, sagt Aksu. Diesen Anspruch erhebt allerdings auch Agit Kabayel, der Mann aus dem Ruhrpott. Gewinnt er am Samstag, wird ein anderes Wort relevant: Weltmeisterschaft.

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