Champing in England: Camping vorm Altar

In einem größeren Raum als St Mary’s hat Susanne Arndt noch nie zuvor übernachtet. Überhaupt schwankte sie auf ihrer Tour durch Englands schönste Kirchen zwischen Ehrfurcht und Verzückung.

“Geh durchs Friedhofstor, dann sofort rechts – die Schlüssel sind hinter dem ersten Grabstein bei der Mauer versteckt”, steht auf dem Zettel in meiner Hand. Da! Im Gras liegt eine grüne Geldkassette, drinnen ein Bund langbärtiger Schlüssel. Fotograf Florian und ich gehen zum Kirchenportal und schließen und zerren und rütteln so lange, bis es verdrießlich seufzend nachgibt. Unser “Champing”-Abenteuer, bei dem wir eine Woche durch England reisen und in mittelalterlichen Dorfkirchen übernachten, beginnt wie eine Schatzsuche. Kein Wunder, hausen wir doch in Gemäuern, die mit jahrhundertealten Kostbarkeiten vollgepackt sind. 

Aus dem Wasserkocher im Kirchenschiff pfeift es "Gleich gibt’s Kaffee".

Aus dem Wasserkocher im Kirchenschiff pfeift es “Gleich gibt’s Kaffee”.

© Florian Jaenicke

Als sich die Tür öffnet, weiß ich wieder, warum ich “Champing”, also das Campen in englischen Kirchen (“Churches”), unbedingt ausprobieren wollte. Mit dem ersten Schritt, den man in ein Gotteshaus setzt, ist man raus aus der Welt – mächtige Mauern bringen ihr Getöse zum Schweigen, Buntglasfenster besänftigen ihr Licht. Wie wird es sein, in solch einem Riesenraum zu nächtigen? Wie auch immer: Champing ist eine gute Sache, die dazu beiträgt, die Gebäude zu erhalten, die im Zuge der Säkularisierung überflüssig geworden sind. 22 davon hat der “Churches Conservation Trust” aktuell in ganz England für Übernachtungsgäste geöffnet.

St Mary’s Church: Die zehn Gebote, in Stein gemeißelt

Hinter den Mauern von St Mary’s fühlt man sich geborgen.

Hinter den Mauern von St Mary’s fühlt man sich geborgen.

© Florian Jaenicke

In der St Mary’s Church, die trutzig auf einem Hügel über dem Dorf Edlesborough, nördlich von London, thront, stelle ich uns als Erstes mal all den anderen vor, mit denen wir heute Nacht den Altarraum teilen. Wir werden bestens klarkommen, denn sie sind längst tot. Wie lange genau, das verraten die Grabplatten im Boden: Margaret ruht bereits seit 1701 zwischen ihrem Mann John Theed, ihrem ältesten Sohn und dem kleinen Richard, der mit 22 Monaten verstarb. Und dann liegt hier noch “The Body of William Ginger”. Der Mann wurde 63 und hinterließ zwei Kinder.

Wir stellen die Taschen ab, schauen uns ehrfürchtig um, berühren Säulen, blicken hoch, atmen Atmosphäre. Und weil wir in dieser Kirche so viel mehr Zeit verbringen als sonst, erleben wir, wie die Sonne je nach Stand immer wieder neue Schätze mit mildem Kirchenfensterlicht beleuchtet: die kleine Meerjungfrau, die ins mittelalterliche Chorgestühl geschnitzt wurde; die viktorianischen Malereien an der Chorschranke; später die Zehn Gebote an der Wand (in Stein gemeißelt!) und im Abendlicht die Spinnweben, welche die kunstvoll geschnitzte Kanzel aus dem 15. Jahrhundert angesetzt hat. Gepredigt wird hier schon lange nicht mehr, seit die Church of England St Mary’s 1975 aufgab, weil die Reihen in den Gottesdiensten sich über die Maßen gelichtet hatten.

Die St Mary’s Church in Edlesborough im südenglischen Buckinghamshire ist eine trutzige, mehr als 700 Jahre alte Kirche auf einem Hügel mit weitem Blick über die Felder. Direkt vor der Tür kann man loswandern, Frühstück gibt es im farbenfrohen »Heirloom Café« im Dorf.

Die St Mary’s Church in Edlesborough im südenglischen Buckinghamshire ist eine trutzige, mehr als 700 Jahre alte Kirche auf einem Hügel mit weitem Blick über die Felder. Direkt vor der Tür kann man loswandern, Frühstück gibt es im farbenfrohen »Heirloom Café« im Dorf.

© Florian Jaenicke

Hier in Edlesborough ist es Sarah, die uns Campingliegen aufgebaut und liebevoll mit Schlafsäcken, Kissen und Wärmflaschen hergerichtet hat. Die zierliche Frau mit dem grauen Zopf schaut kurz rein, um zu fragen, ob alles in Ordnung ist. Sie erzählt, dass St Mary’s sie durchs Leben begleitet hat – hier wurde sie getauft, und ihr Vater liegt auf dem Friedhof vor der Tür. Heute freut sie sich, dass sie ein Zubrot verdienen kann, indem sie die Champing-Gäste betreut. Auch weil die Kirche sonst kaum noch genutzt werde – “außer am Weihnachtsabend, da kommt hier oben das ganze Dorf zusammen, um ‚Stille Nacht, heilige Nacht‘ zu singen.”

BRIGITTE-Autorin Susanne Arndt in St Mary’s.

BRIGITTE-Autorin Susanne Arndt in St Mary’s.

© Florian Jaenicke

Auch bei uns bricht jetzt eine ziemlich stille Nacht an, nur das Deckengebälk knackt und erzählt Geschichten aus mehr als 700 Jahren. Mit den ganzen elektrischen Kerzen und Lichterketten, die wir angeknipst haben, wurde der Altarraum tatsächlich zum gemütlichen Schlafgemach. Vom heftigen Wind draußen bekommen wir nichts mit, sieht man mal davon ab, dass er – körperlos wie ein Geist – ab und zu die Tür aufdrückt. Florian verriegelt sie, und als er dann noch die Lichter löscht, wird der riesige Spitzbogen, der zum Turmraum führt, mit einem Mal zu einem furchtbaren Schlund, der mich einsaugen will. Was zur Hölle mache ich hier? Bricht jetzt Gottes Zorn über mich herein, weil ich schon in jungen Jahren aus der Kirche ausgetreten bin? Glücklicherweise schaut irgendwann der Mond durch die Fenster und lässt die Gewölbe heimeliger wirken. In der Nacht ist die Kirche nicht länger Schutzraum vor der Welt – die Welt da draußen beschützt uns vor den Dämonen, die die Kirche im Dunkeln bevölkern. Um nichts mehr sehen zu müssen, ziehe ich die Schlafmaske über die Augen und nicke ein.

Als ich die Maske am Morgen abnehme, bin ich überwältigt: Dieses Zimmer ist mit Abstand das größte, in dem ich je übernachtet habe! Deshalb wird aber schon das Auffinden einer Zahnbürste zur Schatzsuche. Auf welcher Kirchenbank habe ich die gestern bloß abgelegt? Ich laufe die Reihen ab, und als ich lärmend über ein Stuhlbein stolpere, überlege ich, ob “hallen” von Halle kommt. Ich entdecke die Bürste schließlich auf der Orgel und gehe raus zum Zähneputzen, wo ich auf Wade treffe, der den Friedhof pflegt. Bereitwillig teilt der Rentner etwas Gossip mit mir: Dass Szenen der Netflix-Serie “The Crown” in St Mary’s gedreht worden seien, und dass die Dachse auf dem Friedhof immer wieder Knochen ausbuddeln, sodass ab und an ein Pfarrer vorbeikommen müsse, um sie neu zu bestatten.

All Saints’ Church: Den Kaffee am Becken aufbrühen, in dem 1631 John Dryden getauft wurde

So schön ich es hier finde, mein Lieblings-Holy-Hostel wird dann doch die All Saints’ Church am Rande des 350-Seelen-Dorfes Aldwincle gut 100 Kilometer weiter nördlich: ein freundlicher Sandsteinbau mit großen, pastellfarbenen Bleiglasfenstern – so licht und so hell! Nur die beiden Truhen, die wir dort entdecken, enttäuschen: Sie sind randvoll mit Weihnachtsdeko, made in China. 

Campingliegen für Übernachtungsgäste in der All Saints’ Church.

Campingliegen für Übernachtungsgäste in der All Saints’ Church.

© Florian Jaenicke

Wir bummeln durch das hübsche Dorf mit seinen gepflegten Natursteinhäusern und Stockrosen und kaufen bei “Watties” Abendbrot. Der winzige Dorfladen ist seit 1934 in Familienbesitz, erzählt Trevor, der hinterm Tresen steht. Als wir erwähnen, dass wir in der Kirche übernachten, fangen seine Augen mächtig an zu funkeln. “Wir sind mal zum Tontaubenschießen auf den Kirchturm gestiegen, DAS war ein Spaß!” Auch wenn es danach Ärger gegeben habe … Zum Abschied hat er noch einen Tipp für uns: “Seid nicht so laut in der Kirche, damit ihr die Toten nicht aufweckt!”

Sind wir nicht, und ich hoffe, dass auch der Wasserkessel, der am Morgen fröhlich auf dem Campingkocher neben dem Altar pfeift, niemanden weckt. Ich brühe meinen Instant-Kaffee auf dem Rand des Beckens auf, in dem 1631 der Dichter John Dryden getauft wurde, wie eine Steintafel verrät, und trage Tasse und Campingstuhl in die Sonne. Feels like home! Trotz ihrer steinernen Kühle werden die Kirchen überraschend schnell zum Zuhause – die Gebäude sind mein Heim, die Friedhöfe mein Garten. Nur dass hier statt Blumen Grabsteine wachsen: schlichte und verzierte, helle und dunkle, mit christlichen und keltischen Kreuzen, vom Alter schief, mit Flechten oder Moosen bewachsen. Schmetterlinge und Schwebfliegen sind meine Gefährten, als ich auf Bauer Tim warte, der uns heute mit einem warmen Frühstück von seinem Hof versorgt, das haben wir für den Verwöhnfaktor dazugebucht. 

Susanne Arndt und Fotograf Florian Jaenicke beim Frühstück vor All Saints’ Church.

Susanne Arndt und Fotograf Florian Jaenicke beim Frühstück vor All Saints’ Church.

© Florian Jaenicke

St Michael the Archangel: Auch die Kirchen gewöhnen sich schnell an uns

Aber auch die Kirchen scheinen sich schnell an die Eindringlinge im Schlafsack zu gewöhnen. Ob wir nun vom Wandern oder vom Strand zurückkommen, vom Pub oder vom Sightseeing: “Unsere” Kirche erwartet uns schon. Von Ferne blicken uns gutmütige Fensteraugen aus den Türmen entgegen, als habe man uns vermisst. Das gilt besonders für St Michael the Archangel in Booton/Norfolk, diese eigenartig überdimensionierte “Kathedrale der Felder”, die Pastor Whitwell Elwin ab 1876 ins Grüne bauen ließ. 

Steinerne Engel hüten den Schlafplatz in St Michael.

Steinerne Engel hüten den Schlafplatz in St Michael.

© Florian Jaenicke

Als wir am letzten Abend mit einem Ale vor “unserer” Kathedrale sitzen, dämmert mir: So alt die Gotteshäuser sind, so zeitgemäß ist diese Urlaubsform. Champing ist ein Mikroabenteuer, das einen minimalen ökologischen Fußabdruck hinterlässt. Von Overtourism keine Spur, man begegnet nur Einheimischen; und Digital Detox ist automatisch mitgebucht, denn WLAN sucht man in den Gebäuden vergebens. Und weil die nächsten Nachbar:innen tot und folglich totenstill sind, findet man beim Champing den größten Schatz unserer Zeit: Ruhe und Frieden … Rest and peace … Rest in peace … R.I.P., liebe Margaret, lieber John, lieber William Ginger! Ihr wart tolle Gastgeber:innen, wir haben uns ganz ausgezeichnet bei euch erholt.

Die Reisetipps fürs Champing in England

Übernachten

Das Schlafen in Kirchen, Champing, zusammen-gesetzt aus “Camping” und “Churches” – ist zurzeit in 22 Kirchen in England möglich. Man bucht die ganze Kirche und darf dort alles machen – predigen, orgeln, singen, sogar Alkohol trinken –, solange man nichts beschädigt. In allen Kirchen gibt es Trockentoiletten, manchmal auch Strom, aber weder fließendes Wasser noch WLAN. Ab ca. 56 Euro pro Person, mancherorts können Schlafsack und Kissen (für ca. 29 Euro) sowie Frühstück (für ca. 14 Euro) dazugebucht werden (The Churches Conservation Trust, 8 All Saints Street, London, Tel. 02 07/841 04 36, champing.co.uk).

All Saints’ Church, Aldwincle. Lichter Bau am Rande eines schmucken Dörfchens in Northamptonshire. Falls gewünscht, versorgt der reizende Bauer Tim Gäste mit “English Breakfast” von seinem Hof (Aldwincle, Thorpe Road).

St Michael the Archangel Church, Booton. Die große Kirche mit den filigranen Türmen trägt den Spitznamen “Kathedrale der Felder” und steht nur gut 30 Kilometer von der Norfolk Coast entfernt im Grünen (Booton, Church Road).

Restaurants

The Kings Head. Von der All Saints’ Church in Aldwincle schlängelt sich ein wildromantischer Pfad am Fluss Nene entlang bis nach Wadenhoe. Der Weg wird im “The Kings Head” mit Pizza und klassischer Pub-Küche (z. B. geschmorter Lammhaxe, ca. 19 Euro) in der Sonne belohnt (Wadenhoe, Church St., Tel. 018 32/72 00 24, kingsheadwadenhoe.com).

Im hübschen »The Dial House« von 1728 mit stock-rosenumkränzter Terrasse wird zur großen Weinauswahl exzellente Küche serviert – allerdings in kleinen Portionen (z. B. Seebarsch mit Blumenkohl und Shrimps, ca. 28 Euro). Fast alles im Restaurant kann man kaufen - vom trendy Mid-Century-Stuhl über Mode bis zum ausgestopften Vogel (thedialhouse.org.uk)

Im hübschen »The Dial House« von 1728 mit stock-rosenumkränzter Terrasse wird zur großen Weinauswahl exzellente Küche serviert – allerdings in kleinen Portionen (z. B. Seebarsch mit Blumenkohl und Shrimps, ca. 28 Euro). Fast alles im Restaurant kann man kaufen – vom trendy Mid-Century-Stuhl über Mode bis zum ausgestopften Vogel (thedialhouse.org.uk)

© Florian Jaenicke

The Swan Northall. Anders als das namengebende Tier keine ausgesprochene Schönheit, wer aber des cholesterinhaltigen Pub-Food-Einerleis überdrüssig ist, findet hier gute Bruschetta (ca. 7,50 Euro) oder Ofenkartoffeln (ca. 10 Euro; Northall, Leighton Rd., Tel. 015 25/22 04 44, theswannorthall.co.uk).

Shopping

Blickling House Shop. Großes Angebot an Mitbringseln: Garten- und Wohnaccessoires, Decken, Hüte –und Gin-Tonic-Schokolade für ca. 4,30 Euro (Norwich, Blickling, nationaltrust.org.uk/blickling-estate).

Koti Store. Kleiner Shop mit nachhaltigen Haushaltswaren, Geschirr, Geschenkartikeln und Wolle ab ca. 3 Euro (Reepham, 21 Church Hill, kotistore.co.uk).

Erleben

Boughton House. Als “englisches Versailles” gefeiert, ist das Schloss mit dem riesigen Park, dem Nutzgarten und der Land-Art sehenswert. Vielleicht nicht ganz Versailles, aber dafür auch deutlich einsamer. Eintritt ca. 16 Euro (Kettering, boughtonhouse.co.uk).

In Blickling Hall, einem traumhaftenjakobinischen Anwesen mitBarockgarten und Landschaftspark, wurde vermutlich Anne Boleyn geboren, die Heinrich VIII. zur Scheidung von Katharina veranlasste, und somit indirekt zur Gründungder Church of England, anno 1534, beitrug. Eintritt ca. 17 Euro (nationaltrust.org.uk/blickling-estate)

In Blickling Hall, einem traumhaftenjakobinischen Anwesen mitBarockgarten und Landschaftspark, wurde vermutlich Anne Boleyn geboren, die Heinrich VIII. zur Scheidung von Katharina veranlasste, und somit indirekt zur Gründungder Church of England, anno 1534, beitrug. Eintritt ca. 17 Euro (nationaltrust.org.uk/blickling-estate)

© Florian Jaenicke

Holkham Bay. An dem breiten Sandstrand in Norfolk mit seinen bunten Badehäuschen lässt sich wunderbar der Tag vertrödeln.

Cromer. Mal einen echten Banksy sehen? Im Seebad Cromer hat der Street-Art-Künstler eine Strandmauer mit einem kapitalismuskritischen Kunstwerk verziert: “Luxury Rentals Only”. Google Maps kennt den Weg. 

Ein echter Banksy im Seebad Cromer.

Ein echter Banksy im Seebad Cromer.

© Florian Jaenicke

Ivinghoe Beacon. Eine kleine Wanderung führt direkt von der St Mary’s Church in Edlesborough auf den Hügel Ivinghoe Beacon. Toller Ausblick über Felder und Schafherden!

Unbedingt einpacken

Wer nicht zur glücklichen Spezies gehört, die überall schlafen kann, sollte in eine Schlafbrille investieren. In der Kirche beginnt der Morgen früh!

Telefon

Die Vorwahl für Großbritannien ist 00 44, bei Anrufen aus dem Ausland die 0 bei der Ortsvorwahl weglassen.

Mehr Infos zu England unter visitbritain.com

Gut zu wissen

In allen Kirchen stehen Trinkwasserspender – dass es nirgendwo fließendes Wasser zum Waschen und Abspülen gibt, kann eine kleine Herausforderung sein.

Zuweilen unterstützen uns Agenturen, Hotels oder Veranstalter bei den Recherchen. Unsere Reportagen und Informationen sind dadurch in keiner Weise beeinflusst.

Brigitte

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