Chiles rascher Wandel zeigt sich auch im Zentrum von Santiago

Das Zentrum von Santiago hat sein Gesicht seit den Unruhen von 2019 völlig verändert. Doch immer weniger Chilenen haben Verständnis für den politisch links dominierten Konvent, der ihre neue Verfassung ausarbeitet. Präsident Gabriel Boric muss ein Scheitern des Plebiszits darüber verhindern – sonst steht seine Regierung vor dem Aus.

Ein Demonstrant schwenkt eine mit Parolen bemalte chilenische Fahne vor der Eröffnung der Verfassunggebenden Versammlung am 4. Juli 2021.

Martin Bernetti / AFP

Wo die neue Verfassung Chiles ausgearbeitet wird – das wissen nicht viele in der Hauptstadt Santiago. Zwei Taxifahrer und mehrere Gesprächspartner nennen unterschiedliche Orte. Selbst direkt neben dem imposanten neoklassizistischen Gebäude des ehemaligen Kongresses im Zentrum sind die Passanten unsicher, ob hier die verfassunggebende Versammlung tagt. Das erstaunt, denn immerhin treffen sich hier seit Mitte 2021 täglich die 155 Mitglieder des Konvents. Im hohen Plenarsaal entscheiden sie über die Zukunft des Andenlandes – unter dem wuchtigen Ölgemälde des ersten Segelgeschwaders, das vor 200 Jahren die Unabhängigkeit des Andenlandes erkämpfte.

Doch vom heroischen Kampf gegen die spanische Kolonialmacht färbt wenig auf das Plenum ab. Dort arbeiten die Vertreter derzeit einen Abstimmungsmarathon ab, der viele von ihnen bleich und übermüdet aussehen lässt. Von morgens um 9 Uhr bis oft um Mitternacht stimmen sie ununterbrochen über Verfassungsartikel ab, die seit November letzten Jahres von sieben thematischen Gruppen des Konvents ausgearbeitet wurden.

Die Stimmung im Verfassungskonvent ist angespannt

Rechts sitzen die wenigen Vertreter der konservativen Minderheit. Männer sind es meist, einige in Anzügen, sie lassen grosse Abstände zwischen sich. Links der Mitte ist das Plenum gut gefüllt, dort sitzen mehr Frauen, die Kleidung ist farbiger. Dort wird ab und zu auch applaudiert, wenn eine Abstimmungsvorlage im Sinne der linken Mehrheit ausfällt. Sonst ist es eher still.

Es gibt keine flammenden Reden im Plenum und keine angeregten Diskussionen in den Gängen des Kongresses. Auch die Journalisten, die in Zelten im Garten arbeiten, die Mitarbeiterinnen, selbst das Wachpersonal am Eingang – alle wirken sie etwas ermattet, jetzt beim Schlussspurt zur Verfassungsreform.

Nach zehn Monaten Debatten über die neue Verfassung sind die Teilnehmer des Konvents erschöpft - gleichzeitig nehmen die Zweifel zu, ob die Gesellschaft ihre Entscheidungen mittragen wird.

Nach zehn Monaten Debatten über die neue Verfassung sind die Teilnehmer des Konvents erschöpft – gleichzeitig nehmen die Zweifel zu, ob die Gesellschaft ihre Entscheidungen mittragen wird.

Cristobal Olivares / Bloomberg

Zwei Drittel des Plenums müssen einem Artikel zustimmen, damit er in die endgültige Version der neuen Verfassung Eingang findet. Diese soll am 5. Juli vorgelegt werden. Zwei Monate später können die Wähler dann in einem Referendum entscheiden, ob sie sie annehmen. Lehnen sie sie ab, dann gilt weiterhin die Verfassung, welche der Diktator Augusto Pinochet 1980 verordnet hat. Diese wurde zwar bereits mehrmals geändert. Doch für viele Menschen steht der Gesetzestext in der unseligen Tradition der Diktatur Chiles (1973 bis 1990).

Die Stimmung im Konvent ist angespannt. Zwei Umfragen haben gerade gezeigt, dass immer mehr Chileninnen und Chilenen gegen die neue Verfassung stimmen wollen. Inzwischen sind die Skeptiker in der Bevölkerung sogar in der Mehrheit. Laut dem Institut Cadem wollen 46 Prozent der Befragten derzeit gegen eine neue Verfassung stimmen, nur 37 Prozent sind noch dafür. Seit Jahresanfang hat sich das Verhältnis zwischen Ablehnenden und Befürwortern umgekehrt.

Das war vor eineinhalb Jahren noch ganz anders: Da wollten bei der Abstimmung im Oktober 2020 fast 80 Prozent eine neue Verfassung. Das Land stand unter dem Eindruck der schweren Unruhen vom Jahr zuvor. Damals habe nicht mehr viel gefehlt zu einem Bürgerkrieg, heisst es heute. Die Sicherheitsorgane schlugen immer heftiger auf die Demonstranten ein, die ebenfalls immer gewalttätiger wurden. Dem konservativen Präsidenten Sebastián Piñera gelang es mit dem Angebot, eine neue Verfassung zu schreiben, die Gewaltwelle zu stoppen, bevor die Pandemie die Menschen von den Strassen holte.

Auch nachdem der Verfassungskonvent seine Arbeit aufgenommen hat kommt es noch zu Zusammenstössen zwischen Demonstranten und den Sicherheitskräften.

Auch nachdem der Verfassungskonvent seine Arbeit aufgenommen hat kommt es noch zu Zusammenstössen zwischen Demonstranten und den Sicherheitskräften.

Sergio Pina / Imago

Nur ein Drittel ging zu den Urnen – und wählte links

Im April vor einem Jahr wählte Chile die 155 Mitglieder der verfassunggebenden Versammlung: Doch nur ein Drittel der Wahlberechtigten ging zur Urne. Sie wählten eine klare linke Mehrheit in die Versammlung. Politiker sind dabei, aber auch unabhängige Aktivisten, Vertreter sozialer Bewegungen und der indigenen Völker. Die Rechte hat nur 38 der insgesamt 155 Stimmen; sie kann somit keine Verfassungsartikel blockieren.

Vier Monate brauchte der Konvent, um die Regeln für sich selbst zu beschliessen. Nach inzwischen fünf Monaten inhaltlicher Diskussionen ist absehbar, dass der Staat in Chile einen dominanteren Einfluss bekommen soll als bisher: Das gilt für die Wirtschaft – etwa im Bergbau, bei Wasserrechten und dem Eigentum an Rohstoffen – genauso wie für den Sozialstaat, der deutlich grösser werden soll. Der Staat soll künftig private Anbieter von Bildung, Pensionen und Krankenversicherungen nicht mehr nur ergänzen, sondern deren Funktionen weitgehend übernehmen.

Für Konservative und die Wirtschaft in Chile ist das unverständlich: Für sie ist die Pinochet-Verfassung mit den dominierenden neoliberalen Grundsätzen der Grund für den grossen Erfolg des Landes beim Aufstieg zum wohlhabendsten Staat Lateinamerikas. Nicht nur die Wirtschaft hat davon profitiert, auch die Gesellschaft, mit weithin bewunderten Erfolgen bei der Bildung einer Mittelschicht und der Armutsbekämpfung.

Die Linke und grosse Teile der Mittelschicht kritisieren, dass sie sich für die Ausbildung ihrer Kinder hoch verschulden müssten, geringe, menschenunwürdige Renten bekämen und im Krankheitsfall auf schlechte staatliche Kliniken angewiesen seien. Die Aufstiegschancen seien weiter höchst ungerecht verteilt. Chiles Gesellschaft gehört trotz allen Verbesserungen immer noch zu jenen mit den weltweit höchsten Einkommensunterschieden.

Eine Mutter holt ihre Tochter in einem ärmeren Quartier von Santiago von der Schule ab. Der neugewählte Präsident Boric hat versprochen, Gebiete, in denen Kriminalität und Armut grassieren, wieder zum Blühen zu bringen.

Eine Mutter holt ihre Tochter in einem ärmeren Quartier von Santiago von der Schule ab. Der neugewählte Präsident Boric hat versprochen, Gebiete, in denen Kriminalität und Armut grassieren, wieder zum Blühen zu bringen.

Tamara Merino / Bloomberg

Gemässigte Vertreter der Konvention wie Hernán Larraín Matte sagen im Gespräch, dass es keine Verständigung mit der linken Fraktion gebe. Die Linke beharre wegen ihrer Mehrheit in der Versammlung auf Maximalforderungen und riskiere damit, die Konvention scheitern zu lassen. Denn insgesamt gebe es in Chiles Kongress wie in der Gesellschaft eine Basis von über 40 Prozent an konservativen Stimmen. Bei den Präsidentschaftswahlen vor nur vier Monaten führte zeitweise der Rechtspopulist José Antonio Kast in den Umfragen. «Die Linke merkt nicht, dass wir auf einen Eisberg zusteuern», sagt Larraín Matte – und hetzt schon wieder zu einer Abstimmung.

Vertreter der Linken dagegen werfen den Konservativen vor, dass sie alles daransetzten, dass der Verfassungsentwurf beim Plebiszit im September abgelehnt werde. Der Politologe Victor Tricot etwa bezichtigt die Konservativen, dass sie mit Täuschungsmanövern und Halbwahrheiten die Arbeit der Versammlung behinderten.

Wollen die Chilenen überhaupt noch einen radikalen Wandel?

Tatsächlich scheint es, als wolle die Mehrheit der Chilenen keinen radikalen Wandel mehr. Viele sind abgeschreckt von den Einzelinteressen, die jetzt mit Gewalt in die Verfassung drängen. Vieles davon hat nichts mit der Realität der meisten Menschen zu tun. Es scheint, als ob der Konvent bei der Ausarbeitung genauso überfordert ist wie die Gesellschaft mit dem rasanten Wandel, den Chile in den letzten zwei, drei Jahren durchgemacht hat.

Man muss nur die Verfassungsversammlung verlassen, da staunt man schon nach den ersten Schritten, wie sich alles verändert hat: Das Zentrum der Stadt, um den Regierungssitz La Moneda, war bis vor kurzem ein mehr oder weniger gut erhaltenes Büroviertel mit gepflegten Fussgängerzonen und den administrativen Palästen, wie sie in den meisten südamerikanischen Metropolen stehen. Zwar hatte das Zentrum schon zuvor etwas an Glanz verloren, nachdem die Unternehmen ihre Firmensitze nach Norden in die glitzernden Stadtteile abgezogen hatten, über welche die Chilenen in Santiago stolz sagen, es sei Sanhattan, also eine Mischung aus Santiago und Manhattan. Dort hat sich in letzter Zeit auch kaum etwas geändert.

Doch dafür ist das Zentrum nun tief in Südamerika angekommen. Auf der ehrwürdigen Plaza de Armas predigen evangelikale Pastoren in Anzug, mit Mikrofon und der Bibel in der Hand lautstark vor indigenen Gläubigen. Ein paar Strassenzüge weiter schallt Salsa-Musik durch das dichte Menschengewühl. Hier treffen sich die Immigranten aus Venezuela, tanzen und tauschen sich aus. Vor den Wechselstuben und Internet-Telefon-Stuben sammeln sich Haitianer. Daneben wird mobil grilliert, und es gibt Kuchen in allen Farbtönen. In Bars mit peruanischem Essen sitzen gelangweilte Frauen in knappen Shorts und warten auf Kundschaft.

Verkäufer aus dem informellen Sektor halten vor der Kathedrale im Stadtzentrum von Santiago ihre Ware feil.

Verkäufer aus dem informellen Sektor halten vor der Kathedrale im Stadtzentrum von Santiago ihre Ware feil.

Cristobal Olivares / Bloomberg

Die katholischen Kirchen sind verbarrikadiert und leer

Die katholischen Kirchen im Zentrum dagegen sind leer. Ihre Fenster und Eingänge sind mit Blechen geschützt und verrammelt. Zur Messe wird eine kleine Tür geöffnet. Sicherheitspersonal hat ein Auge auf den Eingang. Die Priester predigen in den Gotteshäusern manchmal vor weniger als einem Dutzend Gläubigen. Nach Missbrauchsskandalen hat die katholische Kirche in kaum einem anderen Land der Welt in so kurzer Zeit einen so starken Vertrauensverlust erlitten wie in Chile.

Auch die düstere Zentrale von Codelco, dem grössten Kupferproduzenten der Welt, ist verbarrikadiert bis in den ersten Stock. Standesgemäss mit verlöteten Kupferplatten und Netzen, damit niemand hochklettern kann. Selbst der Staatskonzern ist also nicht vor der Wut der Demonstranten sicher.

Ein paar Ecken weiter, in Richtung der renommierten katholischen Universität, dominieren am Wochenende Schwule, Lesben und Sympathisanten. In schicken Cafés trifft sich das aufgeklärte Bürgertum. Auf der Strasse riecht es nach Marihuana. Im konservativen Chile wäre das noch vor kurzem unvorstellbar gewesen – so wie es das in weiten Teilen der Stadt und des ganzen Landes weiterhin auch ist. Ungefragt schimpfen viele in Santiago über das Chaos in der Innenstadt.

Jeden Freitag versammeln sich an der Plaza Italia Demonstranten, um daran zu erinnern, dass ihre Forderungen noch nicht erfüllt wurden. Derzeit sind die Demos klein, aber mehrere Dutzend Bereitschaftswagen, gerüstet wie Panzer, stehen jedes Mal mit Blaulicht bereit. Die Statue des Generals Baquedano ist schon lange abgebaut. Der Platz heisst jetzt bei den Demonstranten «Plaza de la Dignidad», Platz der Würde. Der Sockel des Denkmals ist bemalt in Blau-Gelb, den Nationalfarben der Ukraine. Die Gebäude der Umgebung sind voller Graffiti. Kaum eines der ehemaligen Geschäfte dort ist noch geöffnet.

Die latent explosiven Proteste freitags um den «Platz der Würde» dürften dem gerade einmal sechs Wochen regierenden Präsidenten Gabriel Boric zunehmend Kopfschmerzen bereiten. Der 36-Jährige hat seine politische Karriere als Studentenführer vor gut zehn Jahren bei den Demonstrationen in den Strassen Santiagos begonnen.

Präsident Boric spricht am Tag seiner Amtsübernahme vom Regierungspalast La Moneda zu seinen Anhängern.

Präsident Boric spricht am Tag seiner Amtsübernahme vom Regierungspalast La Moneda zu seinen Anhängern.

Marcelo Hernandez / Getty

Der ehemalige Studentenführer hat die Seiten gewechselt

Doch nun sitzt er im Regierungssitz La Moneda. Zwar mittendrin, aber für seine Unterstützer klar auf der anderen Seite. Derzeit wird er rasant von einer neuen Realität eingeholt: Auf 9,4 Prozent ist die Inflation hochgeschnellt. Die Zentralbank hat die Wachstumsprognose für dieses Jahr auf 1 bis 2 Prozent nach unten korrigiert. Das ist ein Desaster. Die Chilenen sind seit Jahrzehnten an hohe Wachstumsraten und eine stabile Währung gewöhnt. Die grössten Sorgen machen den Menschen die illegale Immigration aus anderen südamerikanischen Ländern, die wachsende Kriminalität, aber auch die immer gewalttätiger auftretenden Indigenen vom Volk der Mapuche im Süden des Landes.

Borics Zustimmungsraten sind in seiner erst sechswöchigen Regierungszeit in den Keller gerutscht: Mehr als 53 Prozent lehnen ihn heute ab. Die Zahl seiner Unterstützer ist von 57 auf 36 Prozent geschrumpft.

Auch Borics linke und studentische Wähler werden ungeduldig. Sie messen den Präsidenten daran, ob die Revision der Verfassung in ihrem Sinne gelingt. Bisher hat er nicht öffentlich die Arbeit des Verfassungskonvents kommentiert oder sich eingemischt. Dabei wäre sein bewiesenes Verhandlungsgeschick jetzt notwendig, um die Fronten aufzulösen und Kompromisse zu schaffen.

Denn für Boric steht viel auf dem Spiel. Larraín Matte meint: «Wird die Verfassungsreform im Oktober abgelehnt, dann könnte es das vorzeitige Ende seiner Regierung sein.»

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