Das Ende Globalisierung ist nicht in Sicht

Vom Ende der Globalisierung zu sprechen, ist bereits zum Allgemeinplatz geworden. Der Genfer Handelsexperte Richard Baldwin stimmt nicht in diesen Chor ein. Vielmehr sieht er eine andere Art von Globalisierung kommen.

Nur dank weltweiten Lieferketten konnte auch in der Pandemie die Versorgung mit Gütern – meistens – sichergestellt werden.

Sean Gallup / Getty

Herr Baldwin, zunächst gab es die Finanz- und Schuldenkrise, dann die Handelskriege unter Trump, die Pandemie und jetzt die russische Invasion der Ukraine. Ist das der Sargnagel für die Globalisierung?

Überhaupt nicht. Die Vorstellung, dass die Globalisierung vorbei ist, basiert auf einer falschen Wahrnehmung. Für mich bedeutet Globalisierung Arbitrage: Das heisst, ein Gut wird dort hergestellt, wo es am günstigsten ist. Und dann wird gehandelt. Der Handel mit Gütern hat sich in den 1990er Jahren beschleunigt mit der Auslagerung von Produktionsstätten. In China und in anderen Ländern hat diese Art der Globalisierung tatsächlich schon den Zenit erreicht. Die Arbitrage bei Dienstleistungen ist aber noch lange nicht vorbei. Die Zukunft der Globalisierung wird geprägt durch grenzüberschreitende Dienstleistungen.

Sie waren beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Dort gehörte es zum guten Ton, vom Ende der Globalisierung zu sprechen. Warum ist dies zum Allgemeinplatz geworden?

Das sagen vor allem Leute, die auf Zahlen wie den Anteil des Güterhandels am weltweiten Bruttoinlandprodukt schauen. Vieles ist auch widersprüchlich. So erzählte in Davos eine bekannte Kolumnistin, die die These der Entglobalisierung vertritt, von einem Konzernchef, der immer sage: Wenn dein Büro in Los Angeles ist, dann kannst du deinen Job auch vom Ferienort Lake Tahoe in Kalifornien aus machen. Und wenn das stimmt, kann man auch gleich in ein anderes Land ziehen, wo die Löhne niedriger sind. Das ist genau mein Punkt. Wegen der Corona-Krise sollte uns klar sein, dass eine Globalisierung der Dienstleistungen möglich wird.

Die Corona-Krise verstärkte aber auch die Ansicht, dass die Globalisierung am Ende sei. In der Pandemie versagten doch die globalen Lieferketten. Resilienz, oder Widerstandsfähigkeit, wurde zum Schlagwort der Krise.

Das ist völlig falsch. Die widerstandsfähigste Lieferkette ist das internationale Handelssystem. Wir haben dies wieder einmal beim Mangel von Babynahrung in den USA gesehen. Wegen der Überkonzentration der Produktion hat ein Problem in einer Fabrik zu Problemen im ganzen Land geführt. Jetzt muss Babynahrung aus dem Ausland eingeführt werden. Ähnlich verlief es mit den Gesichtsmasken während der Pandemie. Hätten Europa und die USA auf die eigene Produktion von Masken vertrauen müssen, wären viele Personen ungeschützt geblieben. Die enorm gestiegene Nachfrage wurde mit dem Angebot aus der ganzen Welt aufgefangen.

In der Anfangsphase von Covid-19 war aber die erste Reaktion vieler Länder, den Export von Masken zu untersagen.

Das ist der Instinkt. Aus einer Risikoüberlegung heraus ist es aber nicht schlau, alles auf eine Karte zu setzen, selbst wenn es eine heimische Karte ist. Ein weiteres Beispiel ist die Entwicklung der Impfstoffe. Man kann es als eine meisterhafte Orchestrierung des weltweiten Angebots bezeichnen. Wenn jedes Land die Fertigung selbst in die Hand genommen hätte, wäre eine Massenproduktion nicht möglich gewesen. Wenn die Geschichte der Pandemie geschrieben wird, dürfte es heissen, dass der internationale Handel und die Lieferketten eine Quelle grosser Resilienz waren.

Die Auto- und Elektronikbranche hat jedoch grosse Lieferprobleme, weil die Fertigung von Halbleitern weltweit stark in Taiwan und Südkorea konzentriert ist. Man lebte unter der Prämisse, dass internationaler Handel und geostrategischer Friede gegeben seien.

In manchen Branchen ist die Konzentration tatsächlich zu gross. Die Lehre aus den Ereignissen der vergangenen Zeit ist aber, dass es nur wenige Produkte gibt, bei denen man sich über eine Diversifikation Gedanken machen muss. Ein Beispiel sind die Halbleiter. Diese werden für viele Zwecke benötigt, und der Aufbau von Halbleiterfabriken ist langwierig und teuer. Deshalb kann es für einen Staat eine gute Idee sein, das Angebot an Halbleitern zu verbreitern. Dies wird aber zu einer Flut an Chips führen, und die subventionierte Produktion wird wohl nie rentabel werden. Das ist die Kehrseite der Versorgungssicherheit.

Der Globalisierungs-Experte Richard Baldwin.

Der Globalisierungs-Experte Richard Baldwin.

PD

Dabei geht es nicht nur um Versorgungssicherheit. Für Interessengruppen ist dies doch ein gefundenes Fressen.

Es heisst ja: Wenn Regierungen versuchen, Gewinner zu küren, dann küren Verlierer ihre Regierungen. Diese Lobbyarbeit in der Industriepolitik führt dazu, dass Dinosaurier am Leben bleiben. Das ist aber nichts Neues. Deshalb benötigen wir strikte Kriterien, bei welchen Produkten es tatsächlich sinnvoll ist für den Staat, die Diversifikation zu fördern.

Die Unternehmen müssten doch selbst dafür sorgen, dass ihre Produktionsprozesse nicht unterbrochen werden. Verschiedene Konzepte werden diskutiert: Die Produktion könnte im eigenen Land erfolgen, die Fabriken könnten auch in ein näheres oder in ein «freundliches» Land verlagert werden.

Das stimmt. Es ist aber wichtig zu unterscheiden: Was sich verändert hat, ist nicht so sehr unser Verständnis der Welt, sondern die Art der Schocks. Früher waren Logistiker und Unternehmen wegen eines Tsunamis in Japan oder eines Streiks besorgt. Das waren örtlich begrenzte Schocks. Mit Trumps Handelskrieg gegen China haben jedoch systemische Schocks zugenommen. Unternehmen wird bewusst, dass die geostrategischen Spannungen zwischen China und den USA noch für lange Zeit bestehen werden. Und der Klimawandel könnte ein weiterer systemische Schock sein.

Üblicherweise wird Diversifikation als Allheilmittel angepriesen. Bei einem systemischen Schock ist aber nicht klar, ob dies allein hilft.

Allgemein gesprochen, gibt es Angebots-, Nachfrage- und Transportschocks. In der Pandemie hatten wir vor allem einen Nachfrageschock. Die Leute sind weniger ins Restaurant gegangen, sie haben aber mehr Güter wie Fahrräder gekauft. Die Lieferkettenprobleme wegen der strengen Covid-Massnahmen in China sind hingegen ein Angebotsproblem. Das kann durch Diversifikation mit einer Fabrik in Vietnam und einer Fabrik in China behoben werden. Bei einem Nachfrageschock geht das nicht. Hier kann man sich mit vermehrter Lagerhaltung oder dem Freihalten von Produktionskapazitäten behelfen, was aber teuer ist. Bei Logistikproblemen und anderen Transportschocks hilft Flexibilität.

Derzeit scheint es, dass die apokalyptischen Reiter aufgetaucht sind: Seuchen, Krieg und Hunger. Ist dies ein Zufall, oder tauchen solche systemischen Krisen mit der Globalisierung häufiger auf?

Zwischen 1990 und Mitte der 2000er Jahre sind globale Lieferketten ausgeweitet worden. Das hat die Produktion sicherlich anfälliger für internationale Schocks gemacht. Gleichzeitig führte das aber auch zu mehr Diversifikation und niedrigeren Kosten. In den 1970er Jahren haben nur einige reiche Staaten Industriegüter hergestellt. Das hat sich stark verändert, was gut ist. Unter dem Strich dämpft die Globalisierung Schocks. Die Wirtschaftsentwicklung in den einzelnen Ländern hat sich aber mehr angenähert. Was in China makroökonomisch passiert, hat auch hier Auswirkungen.

Die Politik zahlreicher westlicher Länder gegenüber Russland basierte auf der Vorstellung «Wandel durch Handel». Hat diese Politik versagt?

Die Beziehung ist unklar. Man neigt dazu, mit Leuten zu handeln, die in der Nähe sind. Man neigt aber auch dazu, die Leute zu bekriegen, die in der Nähe sind. Offensichtlich haben die Handelsverbindungen Russland nicht von einem Angriffskrieg abgehalten. Aber: China unterstützt zwar Russland, Peking macht das aber sehr vorsichtig. Dies dürfte auch damit zusammenhängen, dass China sich vor westlichen Sanktionen fürchtet. In Europa haben Wirtschaftsbeziehungen Wunder bewirkt: Die Generation meiner Eltern wuchs in einer Welt auf, in der sich Franzosen und Deutsche hassten. Meine Kinder können sich nicht mehr vorstellen, dass alle Deutschen gegen alle Franzosen eine Abneigung haben.

Was ist mit den Menschenrechtsverletzungen in China? Sollen wir noch mit China handeln und Peking so unterstützen? Wie handelt man mit Autokratien?

Derzeit geistert ein Schlagwort herum: Freiheit ist wichtiger als Freihandel. Ich weiss nicht. Es gibt klare, international vereinbarte Arbeitsnormen, die beispielsweise das Verbot von Kinderarbeit oder Sklaverei vorschreiben. Offensichtlich muss man alles tun, was man kann, um solche Praktiken zu verhindern. Abkommen der Welthandelsorganisation und alle Handelsabkommen enthalten Bestimmungen, die Sanktionen zulassen, wenn gegen die Normen verstossen wird. Kompliziert wird es, wenn nicht alle den Normen zustimmen. Wir möchten auch nicht, dass mächtige Länder anderen Staaten einfach ihre ethischen Vorstellungen aufdrängen. Soll Moral wichtiger sein als Freihandel? Das kann sicherlich zutreffen, manchmal geht es aber zu weit.

Ist angesichts der Handelskriege von Trump und der Sanktionen derzeit Geopolitik wichtiger als Freihandel?

Das war schon immer so. Einzig in den vergangenen dreissig Jahren ist die Geopolitik verschwunden. So unterstützten nach dem Zweiten Weltkrieg die USA und die Verbündeten den Vorläufer der WTO, um dem Kommunismus entgegenzutreten. Die kommunistische Welt hatte ein eigenes Handelssystem. Handel und Aussenpolitik waren schon immer eng verbunden. Jetzt kommt dies zurück.

Hat dies aber nicht eine Fragmentierung des Welthandels zur Folge?

Die Fragmentierung hat grundlegendere Gründe: Wegen der Automatisierung der Industrie sinkt der Anteil der Lohnkosten. Deshalb ist es weniger wichtig, in einem Niedriglohnland produzieren zu lassen. Deswegen geht auch der Anteil des Handels an der Wirtschaftsaktivität Chinas seit 2006 zurück. Und dies bereits zehn Jahre vor Trump.

Man kann sich also Geopolitik mehr leisten als früher?

Genau. China hörte auf, Komponenten und Produkte im Ausland zu kaufen, weil es zu Hause billiger war zu produzieren. Wir sprechen hier nicht nur über strategische Güter, sondern auch über Socken oder Roboter. Das ist eine technisch bedingte Entglobalisierung.

Die USA und einige asiatische Länder haben ein Wirtschaftsabkommen, das Indo-Pacific Economic Framework (Ipef), mit sogenannten freundlichen Ländern geschlossen. Ist es ein handelspolitischer oder ein aussenpolitischer Vertrag?

Das Ipef liegt zwischen einer Medienmitteilung und einem Wunsch. Es ist unklar, was alles darin enthalten ist. Es sollte vor allem ein Gegengewicht zum chinesischen Einfluss in der Region sein.

Ist das auch ein Zeichen dafür, dass die Zeit regionaler oder gar bilateraler Handelsabkommen zu Ende ist?

Dieses Ende haben wir wohl schon vor längerer Zeit erreicht. Rein bilaterale Abkommen sind auch nicht mehr so sinnvoll, weil sich die Handelshürden verändert haben. Wenn ein Land die Daten-Cloud reguliert, macht es das nicht über ein Abkommen mit einem anderen Land. Sondern es verändert die heimische Gesetzgebung, der sich alle anpassen müssen, die in diesem Land Geschäfte machen. Diese unilaterale Entscheidung ist also sehr multilateral. Es wurde auch immer schwieriger zu bestimmen, woher ein Gut, eine Dienstleistung, eine Investition oder ein geistiges Eigentumsrecht kommt. Wenn man aber kein Ursprungsland definieren kann, sind regionale Abkommen wenig sinnvoll.

Vor allem Schwellenländer beklagen sich aber, dass sie westliche Regulierungen übernehmen müssen.

Aber auch chinesische Standards sind in Asien sehr wichtig. Es geht immer um eine hegemoniale Harmonisierung. Wenn die Schweiz die EU nicht davon überzeugen kann, sich Schweizer Standards anzupassen, dann muss sich die Schweiz anpassen. Es gelten die Standards des stärkeren Staats.

Dies kann aber zu unterschiedlichen Sphären der Standardisierung führen.

In der digitalen Welt ist dies schon die Regel. Dies könnte sich auch vermehrt auf die Güterproduktion übertragen. Es gibt aber auch eine internationale Koordination. Interessant ist hier die Internationale Organisation für Standardisierung, eine staatliche Organisation, die aber von den grossen Produzenten dominiert wird. Die Unternehmen setzen sich zusammen und reden über gemeinsame Standards wie für Elektrostecker. Diese Standards setzen sich dann mehr oder weniger von selbst durch, ohne staatliche Intervention.

Sie bleiben also ein Optimist in Bezug auf die globale Koordination?

Mein fester Glaube ist, dass die USA und China einen Weg finden werden, um zu kooperieren. Die USA und Japan haben dies auch geschafft. Es besteht die Möglichkeit, dass es wie jetzt mit Russland zu einem heissen Konflikt kommt. Im Grossen und Ganzen sollte es aber zu einer Vereinbarung kommen, wie Staatskapitalismus und Marktkapitalismus miteinander leben und handeln können.

Nicht nur von der Globalisierung wird gesagt, sie sei tot. Das heisst es auch von der Welthandelsorganisation. Welche Erwartungen haben Sie an die Ministerkonferenz der WTO, die am Sonntag beginnt?

Es dürfte zu einer Aufhebung des Patentschutzes für Covid-Impfstoffe kommen. Jeder ist über die Regelung etwas enttäuscht, was vielleicht ein gutes Zeichen ist. Um das Fischereiabkommen wird weiterhin gerungen. Aber nur schon die Tatsache, dass die Konferenz trotz dem russischen Angriffskrieg abgehalten wird, hat einen Wert für sich. Russland musste als Mitglied dazu eingeladen werden. Es wäre einfach gewesen, die Konferenz abermals zu verschieben. Zudem hat sich die Natur der Diskussionen geändert. Ich würde von koordiniertem Unilateralismus sprechen. Man trifft keine Entscheidung gegen ein anderes Land, sondern man vereint sich in Gruppen gleichgesinnter Länder. Niemand wird gezwungen, mitzumachen. Die WTO hat sich dafür als nützlicher Rahmen erwiesen. Die WTO ist nicht tot, sie ist vielmehr wiederbelebt, weil man Wege gefunden hat, die Blockade zu umgehen.

Die Erwartungen sollen also heruntergeschraubt werden. Wird es je wieder eine Welthandelsrunde geben?

Nein, das ist aber auch nicht schlimm. Das grosse Problem ist die chinesisch-amerikanische Beziehung. Das wird nicht innerhalb der WTO gelöst, sondern ausserhalb. Die meisten Welthandelsrunden betrafen übrigens nicht die gesamte Welt und kamen in einer geteilten Welt zustande. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und zu der Zeit, als der Aufstieg Chinas erst begann, konnte man noch von einer Welthandelsrunde träumen, der die ganze Welt zustimmen wird. Dies erwies sich als falsch.

Der Globalist am Genfersee

Richard Baldwin ist im Umgang unkompliziert und unprätentiös. Der 1958 in Los Angeles geborene Ökonom hätte allen Grund, divenhafter zu sein: Er ist weltweit einer der besten Handelsexperten, hat Regierungen und internationale Organisationen beraten und ist Gründer der Internetplattform voxeu.org, auf der sich Ökonomen zu wirtschaftspolitischen Fragen äussern. 1986 dissertierte Baldwin am MIT bei Paul Krugman, dem späteren Nobelpreisträger. Seit mehr als dreissig Jahren lehrt er am Graduate Institute of International and Development Studies in Genf. Nächstes Jahr im Herbst wechselt er an das Global Studies Institute der Universität Genf und an die ETH Lausanne.

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