Depressiv oder “nur” unzufrieden? | BRIGITTE.de

Eine Depression ist nicht immer leicht, zu erkennen. Unser Autor war traurig, ohne Energie, erschöpft – immer wieder, über Wochen. Till Raether über die Krankheit und seine Lebensaufgabe: immer wieder aufzustehen! Jetzt hat er auch ein Buch darüber geschrieben.

Ich habe nie daran gedacht, mich umzubringen. Ich habe nur sehr oft daran gedacht, mich hinzulegen und nicht wieder aufzustehen. Alle paar Monate, ein oder zwei Wochen lang. Sobald alle aus dem Haus waren, habe ich mich wieder ins Bett gelegt. Kurz, dachte ich. Um Kraft zu schöpfen. Für diesen unüberwindbaren, unbezwingbaren, schweren, grauen Tag. Und für alle anderen Tage danach. Und sobald ich wieder auf dem Bett lag, verließ mich alle Kraft und ich blieb liegen.


Aber stimmt das, mich verließ alle Kraft? Ein bisschen hatte ich ja noch. Kraft genug, um mich im Bett zu verstecken. Kraft genug, um mich schlecht zu fühlen, weil ich nicht arbeitete, nicht aufräumte, nichts erledigte, nicht funktionierte. Kraft genug, um mich am Ende aus dem Bett zu wälzen und das Nötigste auf- und abzuräumen, kurz bevor die Kinder von der Schule oder meine Frau von der Arbeit kam. “Was hast du heute gemacht?” “Ach, es lief schleppend.” Wie gesagt, mein Leben war nie in Gefahr. Dieses Leben war nur einfach kein besonders gutes.

Die leichte bis mittlere Depression – Schlafmangel und Stress

Ich weiß nicht, ob ich mir einen Beruf und ein Leben ausgesucht habe, in dem ich mich mit meinen depressiven Phasen besonders gut verstecken kann und konnte. Ich habe nur wenige Jahre als Angestellter gearbeitet. Ein Grund dafür, dass ich mich selbstständig gemacht habe, waren meine depressiven Phasen. Wenn man depressiv ins Büro muss, weil man den Anspruch hat, niemanden im Stich zu lassen, dann wird einem der Tag zur Hölle. Einfach liegen bleiben: Was mir später, als ich es konnte, wie eine Niederlage erschien, war mir als Angestellter eine wunderbare Utopie. Nicht aufstehen. Als Selbstständiger kann man das. Für einen Tag oder zwei. Sofern man bereit ist, dann das nächste Wochenende durchzuarbeiten oder die eine oder andere Nacht.

Was wiederum nicht gut ist, wenn man die nächste depressive Phase in Schach halten will: Die leichte bis mittlere Depression liebt Schlafmangel und Stress. Da, ich habe es gesagt: leichte bis mittlere Depression. Die Formulierung stammt von meinem Hausarzt. Depression hat viel mit Schuldgefühlen zu tun: weil man es nicht hinkriegt, glücklich zu sein, weil man denen, die man liebt, das Leben schwer macht, weil man unzuverlässig und schwach ist. Bei mir zusätzlich: weil ich mir manchmal gewünscht habe, ich hätte einfach eine richtige Depression, also: eine schwere. Weil dann alles so klar gewesen wäre. Meine Mutter ist manchmal tagelang wortlos im Bett geblieben, als wir Kinder waren. Da gab es kein So-tun-als-Ob mehr, kein Sichzusammenreißen, kein Ihr-sollt-mich-so-nicht-Sehen. Die Option stand ihr nicht offen, sie musste sich nicht entscheiden. Manchmal habe ich mich in einer perversen Selbstbestrafungsfantasie nach dieser Klarheit gesehnt: so depressiv zu sein, dass es völlig unmöglich ist, die unmenschliche Kraft aufzuwenden, doch noch durch den Tag zu kommen.

Das Leben ist eines der schwersten

Das, was ich hatte und habe, war nie so klar. Mein zweiter Therapeut sagte nach unserem ersten längeren Gespräch in etwa: “Ich denke, dass Sie an einer periodisch wiederkehrenden, lang anhaltenden depressiven Verstimmung leiden. Wir nennen das Dysthymie.” Er machte eine Pause, und sein nächster Satz fiel in meine seltsame Erleichterung und in das Erschrecken, eine Diagnose erhalten zu haben. “Aber”, fuhr er fort, “es kann natürlich auch sein, dass das einfach das Leben ist.” Es gibt Depressive, die werden “hochfunktional” genannt. Weil sie ihre Depression gerade noch überspielen können, und weil der hohe Energieaufwand, den sie das kostet, durchaus auch dazu führt, dass sie als fleißig und erfolgreich gelten. Ich bin, denke ich, einer davon gewesen. Und dieser Gedanke, es könnte ja auch “einfach das Leben” sein, gehört sicher dazu.

Mein Großvater aus Ostholstein pflegte scheinbar scherzhaft, aber in Wahrheit tief empfunden zu sagen: “Das Leben ist eines der schwersten.” Und das gilt für alle Menschen. Warum also sollte ich das Recht haben, für mich in Anspruch zu nehmen, es wäre für mich besonders schwierig, schwerer als für die meisten anderen Menschen? Nur weil ich hin und wieder “nicht hochkomme”, wie wir Mittel-Depressiven das nennen?

Stress, Überforderung und Versagensangst

Es hat, würde ich sagen, über 25, fast 30 Jahre gedauert, bis es mir besser ging. Warum hat es so lange gedauert, bis ich etwas gefunden habe, was mir hilft? Warum habe ich so lange gedacht, ich brauche es nicht, oder ich verdiene es vielleicht nicht? Die ersten wirklich erschütternden depressiven Phasen hatte ich ab Anfang zwanzig. Mit erschütternd meine ich: Phasen, die Tage und Wochen und mich und mein Selbstbild durcheinanderbrachten. Traurigkeit und Sinnlosigkeit in allem, die Unfähigkeit, eine Hose anzuziehen, ans Telefon zu gehen, einen Stift zu halten. Auf dem Weg von der U-Bahn zur Uni kam ich jeden Morgen an einem Schild “Psychologische Studienberatung” vorbei.

Ich mache der Frau dort keinen Vorwurf. Vielleicht hatte sie, als ich eines Morgens abbog und in ihre Sprechstunde ging, selbst einen schlechten Tag, vielleicht gelang es mir auch einfach nicht zu erklären, wie es mir wirklich ging. Weil ich mir als Depressiver selbst nie gefallen habe, habe ich immer den großen Wunsch gehabt, anderen zu gefallen. Niemandem zur Last zu fallen. Das zu sagen, was die Leute hören wollen. Weshalb ich damals in der Sprechstunde nicht sagte: Ich hasse mich und mein Leben, ich bin so traurig, wenn ich mich sehe, ich will mich nicht bewegen, ich will nur liegen und die Augen zu machen, und ich wünschte, ich könnte weinen, den ganzen Tag. Das klang mir schon damals zu sehr nach deutschem Emo-Songtext. Stattdessen redete ich über Stress und Überforderung und vielleicht Versagensangst, und ich erinnere mich an das Wort “Niedergeschlagenheit”, weil es so klang, als hätte einen jemand oder etwas gehauen und man müsste sich nur kurz berappeln.

Ein stressiger Job mit viel Konkurrenzkampf

“Kein Wunder, Sie sind ja ganz am Anfang des Studiums”, sagte die Psychologin. “Sie müssen erst lernen, sich zu organisieren. Das ist ein schwieriger Übergang. Am besten, Sie suchen sich eine Lerngruppe.” Wie viele Mittel-Depressive, die ich kenne, hasse ich leider Gruppen. Vielleicht hätte ich in der “Lerngruppe” andere getroffen, denen es ähnlich ging. So habe ich das immer mit mir allein ausgemacht. Und ich bin empfänglich für jede Argumentation, die mit “Kein Wunder” anfängt: Kein Wunder, dass es mir schlecht geht.

Ich habe mich für einen stressigen Job mit viel Konkurrenzkampf entschieden. Ich bin neu in einer fremden Stadt. Meine Freundin wohnt an der Westküste der USA, ich in Berlin. Ich bin frisch getrennt nach langer Fernbeziehung. Ich bin neu in einer fremden Stadt. Ich habe mich für einen stressigen Job entschieden. Mir wurde klar, dass ich das alles nicht mehr aushalten will, als ich Vater wurde. Tatsächlich hat dieses so oft in Männergeschichten mystisch überhöhte Lebensereignis bei mir genau diese eine Sache bewirkt: zu wollen, dass es mir besser geht. Dass ich Kinder liebe und eine Familie möchte, gern zu Hause bin und auf dem Fußboden rumkrieche und gern koche und bastele, wusste ich vorher. Aber spätestens als meine Tochter da war, drei Jahre nach meinem Sohn, wurde mir klar: Du musst nicht so leben. Es wäre für dich und andere schön, wenn du glücklicher wärst.

Es muss reichen, es wird reichen, ich kriege das hin 

Ich denke und fürchte, das ist recht typisch für Mittel-Depressive: Man braucht einen Umweg, oder besser gesagt, eine Erlaubnis, um sich besser zu fühlen. So lange ich für mich selbst verantwortlich war, dachte ich: Es muss reichen, es wird reichen, ich kriege das hin. Sobald wir eine Familie wurden, dachte ich: Vielleicht kriege ich das doch nicht mehr hin. Und es wäre besser für die Kinder und die Frau, wenn ich mir helfen lasse. Dass es auch für mich besser wäre, wurde mir erst beim zweiten oder dritten Gespräch mit dem Therapeuten klar. Dass ich in dem Moment in Tränen ausbrach, ist mir, wenn ich ehrlich bin, noch heute peinlich. Ich hatte mich für einen Verhaltenstherapeuten entschieden. Zum Teil, weil ich mir davon schnelle Abhilfe versprach: Ich ändere selbst was an meinem Verhalten, und voilà: neues, besseres Ergebnis, so stellte ich mir das vor. Zum Teil, weil schnell ein Therapeut genau dieser Fachrichtung verfügbar war. Und zum Teil, weil ich mich nicht mit der Aufarbeitung meiner Vergangenheit aufhalten wollte. Weil, wie gesagt: schnelles Resultat erwünscht, und: Als recht frühes Scheidungskind mit viel Verantwortung für eine jüngere Schwester und zwei mit sich selbst beschäftigten Eltern schien mir die Sachlage recht eindeutig.

Auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse achten 

Während sie lief, war meine Verhaltenstherapie mir Anker und Erleichterung, und manchmal lachte ich auf dem Fahrrad, wenn ich auf dem Nachhauseweg war, weil mir beim Gedanken ans Schwere zum ersten Mal so leicht ums Herz wurde, weil es besiegbar und in gewisser Weise normal erschien: Ganz vielen ging es so wie mir, es gab was dagegen, es würde gut werden. Tatsächlich half mir sehr, was ich in den zwei Jahren lernte. Um es ganz einfach zu sagen: Ich lernte, auf mich und meine eigenen Bedürfnisse zu achten. Von scheinbar einfachen Dingen wie mehr schlafen bis zu schwierigen wie: mich aus privaten und beruflichen Verbindungen lösen, die mir nicht gut taten.

Das Seltsame aber war: In gewisser Weise gab mir die Verhaltenstherapie einfach noch ein paar Instrumente mehr an die Hand für meinen großen Besteckkasten, aus dem ich mich als hochfunktionaler Depressiver bediente, um über die Runden zu kommen. Anfangs dachte ich, es würde reichen, meine Energien gezielter einzusetzen, Nein zu sagen, mir Freiräume zu verschaffen, Menschen und Verpflichtungen loszulassen. Ich bin immer noch dankbar, dass ich das gelernt habe in der Verhaltenstherapie. Doch in gewisser Weise waren das Flicken, Pflaster und Reparaturanleitungen: Die brauchte ich, aber sie änderten nichts grundsätzlich. Das Ermüdende an der Depression ist, dass sie immer noch und immer wieder da ist, auch wenn sie weg ist. Was ich damit meine: Nachdem ich mein Leben mithilfe der Verhaltenstherapie geflickt, gepflastert und repariert hatte, war dieses Leben wirklich sehr viel besser, und ich war in diesem Leben sehr viel zufriedener.

Aber die Depression lächelte im Hintergrund und sagte: Schön, jetzt bist du ein Depressiver mit einem reparierten Leben. Aber denk nicht, dass du mich los bist. Der Verhaltenstherapeut verabschiedete mich, als die Therapie abgeschlossen war, mit den Worten: “Man kann es sonst natürlich auch immer noch mit Medikamenten versuchen.” Ich nickte tolerant. Ich verurteilte niemanden, der Medikamente brauchte. Aber sie waren nicht für mich. War Pillenschlucken nicht auch ein bisschen wie Schummeln? Wenn die leichte bis mittlere Depression sich einmal bei einem eingenistet hat, wird man den Gedanken nicht so schnell wieder los, dass vielleicht doch Zusammenreißen hilft, und dass man das irgendwie am besten allein hinkriegt.

Depressiv, niedergeschlagen und energielos 

Es dauerte sechs oder sieben Jahre, bis die Flicken und Pflaster aufgebraucht und verschlissen und die Werkzeuge korrodiert waren. Bestimmt hätte ich weiter regelmäßig zur Verhaltenstherapie gehen sollen. Bestimmt hätte mir eine ergänzende Gesprächstherapie geholfen. Bestimmt gibt es ganz viele gute Tipps, und bestimmt habe ich viel falsch gemacht und missverstanden. Aber das Tückische an der leichten bis mittleren Depression ist, dass sie so beherrschbar wirkt. Und gleichzeitig lähmt sie einen. Sie ist nicht schlimm genug, um alle paar Monate zum Therapeuten-Check-up zu gehen oder sich in die wilde neue Therapeuten-Suche zu stürzen, und zugleich hindert sie einen daran, sich solchen, schon logistischen Herausforderungen konstruktiv und konsequent zu stellen, weil man ja schließlich immer noch depressiv, niedergeschlagen und energielos ist. Ich würde sagen, ich bin sechs, sieben Jahre gut über die Runden gekommen.

Das Depressiven-Leben ist voll von solchen Metaphern: über die Runden kommen, sich durchhangeln, das schon hinkriegen. Aber es wurde immer mühsamer. Ende 2017 hatte ich eine Art Zusammenbruch. Ich sage “eine Art”, weil es wieder nicht dieses ganz große Ding war, mit Blaulicht ins Krankenhaus oder wochenlang im Bett mit fettigen Haaren und ohne Essen. Aber es gab einen klaren Tag, wo ich so unglücklich und gestresst, so energielos und überfordert war, dass ich wusste: Es muss sich mehr ändern als bisher. Es war an einem Tag zwischen Weihnachten und Silvester, auf mir lasteten die unerledigte Arbeit des vergangenen Jahres, ein oder zwei Familienfeiern mit diesen mittleren Spannungen, für die man sehr gut drauf sein muss, um sie unbeschadet zu überstehen.

Der Weg zur Depressionsambulanz

Zugleich dieser Druck, jetzt doch eigentlich entspannt sein zu müssen, und die Ahnung, dass es im Januar erst wieder so richtig losgehen würde mit dem Stress. Als ich mit meiner Familie, meiner Mutter, meiner Schwester und meinem Neffen auf dem Weg in ein Restaurant war und wir uns alle nur so halb darauf einigen konnten, in welches, fing ich mitten auf der Straße in Hamburg-Altona an herumzuschreien: Dass es mir jetzt langsam reichen würde, dass ich genug hätte, dass ich es nicht mehr aushalten würde. Die Familie dachte, ich würde von ihr reden und ihrem ganz normalen Wahnsinn, und ich dachte es vielleicht auch, aber die Wahrheit war: Es ging nur um mich.

Ich war endlich an dem Punkt, noch mehr tun zu müssen und zu wollen als nur einmal in zehn Jahren Verhaltenstherapie zu machen. Weil mir nach einer radikalen Lösung zumute war, tat ich das Gegenteil von dem, was ich bisher für richtig gehalten hatte: Ich wollte Medikamente, unbedingt und möglichst schnell. Ich machte einen Termin bei der Depressionsambulanz des Universitätsklinikums. Als meine Hausarztpraxis mich zurückrief, um mir zu sagen, ich könnte die Überweisung abholen, saß ich gerade mit einem Freund und einer Freundin im Auto. Als ich fertig war mit Telefonieren, sagte die Freundin, die hatte mithören müssen, sie fände das gut und sie wünsche mir Glück. Ob ich mir denn was würde verschreiben lassen wollen. Und wie das bei ihr gewesen sei.

Traurigkeit und Kraftlosigkeit wie eine Erkältung wahrnehmen 

Vielleicht hatte die Uni-Psychologin im Grunde doch recht: Ich hätte mein Leben lang eine Lerngruppe gut gebrauchen können. Der erste Schritt in diese Richtung war, dass ich auf Twitter von vielen Leuten las, Autorinnen und Autoren, die ich bewundere, die hin und wieder ihre Anti-Depressiva erwähnten. Der zweite Teil war, dass mir nun diese Freundin und Kollegin im Auto erzählte, wie das bei ihr und den Medikamenten war. “Es ist nicht so, dass dadurch alles aufhört”, sagte sie sinngemäß. “Die dunklen Gedanken und die dunklen Phasen sind immer noch da. Aber du siehst sie eher kommen, und du kannst sie eher von außen betrachten, und du merkst, dass sie nicht alles sind.” Was soll ich sagen. Es gibt Nebenwirkungen. Ich habe zugenommen. Es gibt Wirkungen. Zum ersten Mal seit Jahren freue ich mich über Dinge, über die ich mich nie gefreut habe. Lob. Liebe. Wolldecken. Ja, manches wird seltsam: Ich bin versessen auf Wolldecken plötzlich.

Keine Angst mehr vor dem Versagen 

Meine Emotionen sind nicht abgeschnitten, sie sind eher deutlicher geworden. Musik und Bücher freuen mich mehr als früher. Was andere von mir denken, ist mir egaler. Aber erst dachte ich, ich könnte nicht mehr arbeiten. Schreiben ist mein Beruf, und als das Anti-Depressivum anfing zu wirken, saß ich tagelang vor dem leeren Word-Dokument. War das nicht genau, was ich immer gefürchtet hatte? Nein, ich hatte es missverstanden. Der Grund, warum ich plötzlich nicht mehr schreiben konnte, war nicht, dass ich plötzlich keine Tiefen und keine Dunkelheit mehr in mir hatte. Der Grund war, dass ich plötzlich keine schreckliche Angst vor dem Versagen und davor mehr hatte, andere zu enttäuschen. Ich stellte fest, dass das in den 25 Jahren meiner Berufstätigkeit immer mein Hauptantrieb gewesen war: nackte, schiere Angst.

Es war ein Aha-Erlebnis festzustellen, dass ich bei Leuten anrufen und sagen kann: Ich krieg das nicht diese Woche fertig – geht auch noch nächste oder übernächste? Die Erfahrung, dass man dafür nicht gehasst oder verachtet wird, sondern dass das Leben danach ganz normal weitergeht, war mir neu. Es war gut. Sicher habe ich Glück gehabt, weil das Medikament angeschlagen hat. Ich raste nicht mehr aus, ich bin nicht mehr überfordert, ich habe viel weniger Angst, und ich habe seitdem nicht mehr tagelang traurig im Bett gelegen, nur noch stundenweise. Die Traurigkeit und die Kraftlosigkeit sind immer noch da, aber ich kann sie jetzt wahrnehmen wie eine Erkältung: als etwas, das mir widerfährt, und das wieder aufhört, nicht als etwas, das ich bin und das mich ausmacht.

Nach den Ursachen forschen

Zum ersten Mal freue ich mich über Sachen, die ich früher durchgewunken habe. Wenn mich jetzt jemand wegen meiner Arbeit lobt, denke ich: Wow, okay, danke, wie toll. Früher habe ich gedacht: Tja, diese Person kennt sich wohl nicht so gut aus, tja, schade für sie. Ich habe keine Angst mehr vorm Reisen, vorm Wegsein oder vorm Telefonieren, vor Alltagssachen wie Steuern und Nachbarn. Ich habe kaum noch Albträume.

Aber wie gesagt: Ich habe Glück gehabt. Es gibt keine Garantie, dass Tabletten beim ersten, zweiten oder dritten Versuch wirken. Es gibt Kritik an den sogenannten SSRIs, den Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern, wie auch ich sie nehme, und sie mag berechtigt sein. Das Wichtige für mich ist: Ich habe mich nicht damit abgefunden, dass es mir nie so richtig gut, manchmal sehr schlecht und oft mittelschlecht geht. Auch die Tabletten haben ihre eigene destruktive Verführungskraft. Wenn sie nicht wirken, sagen sie einem vielleicht, dass eh alles sinnlos ist. Wenn sie wirken, sagen sie einem vielleicht, dass nun alles gut ist. Ich ahne, dass es nicht so ist. Jetzt, ein Jahr, nachdem ich damit angefangen habe, jetzt, wo ich mich stabil und gut fühle: Jetzt merke ich, dass ich noch mehr tun muss. Reden. Doch nach den Ursachen forschen. Nicht denken, dass es je aufhört. Ich ahne, dass es eine Lebensaufgabe ist: sich nicht unterkriegen zu lassen, immer wieder aufzustehen, und sehr gut über die Runden zu kommen statt mehr schlecht als recht.

Leben mit Depressionen: "Ich habe oft daran gedacht, mich hinzulegen und nicht wieder aufzustehen"

© rowohlt

Lese-Tipp: Till Raether hat über seine Depressionen ein Buch geschrieben: “Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?” (Rowohlt, 14 Euro).

Hast du Lust, dich mit anderen Frauen über das Thema auszutauschen? Dann schau im “Persönlichkeits-Forum” der BRIGITTE-Community vorbei!

Holt euch die BRIGITTE als Abo – mit vielen Vorteilen.Hier könnt ihr sie direkt bestellen.

BRIGITTE 17/2019