Der Kampf um die Macht in den USA

Donald Trump will sich für seine Wahlniederlage rächen. Ob ihm ein Comeback gelingen kann, zeigt sich nun bei den Vorwahlen in Georgia. Der Südstaat ist das Versuchslabor der amerikanischen Demokratie.

Prolog

Ist die amerikanische Demokratie in Gefahr? Ja, glaubt Präsident Joe Biden. In einer emotionalen Grundsatzrede im Januar warnte er vor einem düsteren Szenario: Die Republikaner wollten mit neuen Wahlgesetzen und der Installierung loyaler Parteisoldaten in lokalen Wahlbehörden Urnengänge in vielen Gliedstaaten manipulieren. Auf diese Weise könne Trump 2024 zurück ins Weisse Haus gelangen: «Das Ziel des früheren Präsidenten und seiner Verbündeten ist es, jeden zu entrechten, der gegen ihn stimmt. Ganz einfach. Die Fakten werden nicht zählen. Deine Stimme wird nicht zählen.»

Aber wie kann Trump ein Comeback schaffen?

Die Suche nach einer Antwort führt in den Gliedstaat Georgia. Nicht zufällig hielt Biden seine Grundsatzrede über das Wahlrecht im Januar in der Hauptstadt Atlanta. Donald Trump kann seine Niederlage bis heute nicht eingestehen. Und nichts scheint sein Ego so sehr zu schmerzen wie der Misserfolg im konservativen Georgia. Seit 30 Jahren konnte hier kein demokratischer Kandidat mehr das Rennen um das Weisse Haus für sich entscheiden. Bis im November 2020, als Biden mit einem Vorsprung von knapp 12 000 Stimmen gewann.

Wahlkreise Georgia

Wahlkreise Georgia

Brad Raffensperger, der republikanische Staatssekretär und Leiter der Wahlbehörde in Georgia, zertifizierte das Ergebnis. Und wie es das Gesetz verlangt, segnete der republikanische Gouverneur Brian Kemp diesen Entscheid formell ab.

Trump wollte das Resultat nicht akzeptieren. Seine Anhänger belagerten Wahlbüros und bedrohten Wahlhelfer und ihre Familien mit dem Tod. Trump rief Brad Raffensperger an. Der amerikanische Präsident drängte seinen Parteikollegen dazu, die ihm fehlenden Stimmen «zu finden» und das Wahlresultat «neu zu berechnen». Doch der Leiter der Wahlbehörde antwortete nur: «Herr Präsident, ihre Informationen sind falsch.»

Raffensperger und Gouverneur Kemp blieben standhaft; Trump hat ihnen nie verziehen. Nun sieht er den Zeitpunkt für seine Rache gekommen: Um die Wiederwahl der beiden «Verräter» bei den Zwischenwahlen Ende dieses Jahres zu verhindern, unterstützt Trump bei den republikanischen Vorwahlen am 24. Mai Kandidaten, die seine Lüge einer gestohlenen Wahl treu nachbeten.

So wird der Ausgang der Vorwahlen in Georgia zum Gradmesser für Trumps Strahlkraft und seine Ambitionen auf eine Rückkehr ins Weisse Haus 2024.

Eine entscheidende Rolle könnten dabei auch neue Wahlgesetze spielen. Wie viele andere republikanisch dominierte Gliedstaaten hat Georgia vor einem Jahr eine Wahlreform verabschiedet: die sogenannte Election Integrity Act.

Bidens Justizministerium hat dagegen geklagt. Das Gesetz erschwere gezielt die Stimmabgabe für Afroamerikaner, lautet der Vorwurf. In seiner Grundsatzrede warnte der amerikanische Präsident: «Die Stimmen von knapp fünf Millionen Wählern in Georgia sind in Gefahr, gekapert zu werden, wenn dieses Gesetz Bestand hat.»

Und tatsächlich versucht Trump in Georgia seine Getreuen an die Macht zu bringen. Aber wird ihm das neue Gesetz wirklich dabei helfen?

Die erste Station auf der Reise nach Georgia ist das Capitol in Atlanta, das Zentrum der Macht. Hier erzählt Gabriel Sterling, ein überzeugter Republikaner und leitender Mitarbeiter im Büro von Staatssekretär Brad Raffensperger, warum er enttäuscht ist von Trump, aber auch Bidens Demokraten sind für ihn Lügner.

Die zweite Station ist Fulton County. Der bevölkerungsreichste Bezirk in Georgia ist eine Hochburg der Demokraten. Trumps Anhänger sind bis heute überzeugt, dass die Briefwahl 2020 in Fulton manipuliert war.

Im Süden ist das Ziel der Reise die Provinzstadt Griffin. Dort stellte ein neues Gesetz die Machtverhältnisse in der lokalen Wahlbehörde auf den Kopf. Hatten früher drei linke Afroamerikanerinnen das Sagen, leitet nun ein rechter Verschwörungstheoretiker die Behörde.

Danach führt der Weg nach Nordosten durch das boomende Gwinnett County. Einst fest in republikanischer und weisser Hand, hat eine rasante Zuwanderung den Bezirk zu einer Bastion der Demokraten gemacht.

Noch weiter östlich auf einer ausgemusterten Autorennbahn in der Provinzstadt Commerce besuchen wir schliesslich ein Trump-Rally, um der rechtskonservativen Bewegung den Puls zu fühlen. Hat sie noch die Kraft, um Trump zurück ins Weisse Haus zu bringen?

Atlanta: der Prophet zwischen den Fronten

Gabriel Sterling hat Trump die Stirn geboten. Aber der wirft der Linken vor, genauso wie die Rechte das Vertrauen in das Wahlsystem zu untergraben.

Gabriel Sterling hat Trump die Stirn geboten. Aber der wirft der Linken vor, genauso wie die Rechte das Vertrauen in das Wahlsystem zu untergraben.

Dustin Chambersfür NZZ

Erste Etage in Atlantas Capitol, ein Raum mit hoher Decke, darin ein mächtiger Schreibtisch aus dunklem Massivholz und amerikanischer Flagge dahinter, an der Wand ein antikes Ölgemälde: Der Republikaner Gabriel Sterling empfängt im stattlichen Büro seines Vorgesetzten. Auf einem Nebentisch liegt eine Gasmaske. «Die ist noch aus dem Sommer 2020», sagt Sterling.

In den Monaten vor der Präsidentschaftswahl war die Stimmung auch in Georgia angespannt. Linke Demonstranten zogen vors Capitol. Sie liefen Sturm gegen die Denkmäler, die im Park vor dem Regierungsgebäude stehen: darunter ein General des Bürgerkriegs, der die Sklaverei verteidigte, Anhänger des Ku-Klux-Klans und Befürworter der Rassentrennung.

Erst seit wenigen Jahren erinnert hinter dem Capitol auch eine bescheidene Statue an Martin Luther King. Dieser führte in den fünfziger und sechziger Jahren von Atlanta aus den Kampf der schwarzen Bürgerrechtsbewegung gegen die sogenannten Jim-Crow-Gesetze in den Südstaaten an. Die diskriminierenden Gesetze verboten gemischte Ehen oder hinderten die Afroamerikaner mit bürokratischer Willkür an der Wahlteilnahme.

Nach der Präsidentschaftswahl liefen hingegen die Rechten Sturm. Sterling geriet zwischen die Fronten. Der 52-Jährige ist seit seiner Jugend ein überzeugter Republikaner und hatte für Trump gestimmt.

Nun aber verantwortete Sterling die Implementierung des Wahlsystems in Georgia. Er sagt: «Das waren die freisten und fairsten Wahlen in der amerikanischen Geschichte.» Viele Konservative hätten ganz einfach nicht für Trump gestimmt. Die Zahlen geben ihm recht: Die republikanischen Kandidaten für das Repräsentantenhaus in Washington erhielten 30 000 Stimmen mehr als Trump.

Sterling war wütend über die haltlosen Betrugsvorwürfe und besorgt um das Wohl bedrohter Wahlhelfer. Am 1. Dezember 2020 trat er unter der goldenen Kuppel des Capitols für eine denkwürdige Pressekonferenz vor die Mikrofone: «Das alles ist zu weit gegangen. Es muss aufhören.» Fast schon Prophetisch warnte er: «Jemand wird verletzt, auf jemand wird geschossen, jemand wird getötet werden. Das ist nicht richtig.»

Nach seinem Auftritt erhielt Sterling Todesdrohungen, die Polizei musste sein Haus bewachen. Wenige Wochen später stürmte am 6. Januar ein rechter Mob das Capitol in Washington, mehrere Menschen verloren dabei ihr Leben.

Heute findet Sterling statt Todesdrohungen nur noch Beleidigungen in seiner E-Mail-Box. Doch ähnlich wütend wie über Trump ist der Republikaner nun auch über die Kritik der Demokraten am neuen Wahlgesetz.

In Anspielung an die düstere Vergangenheit in den Südstaaten hat die linke Partei die Reform pauschal als «Jim Crow 2.0» verurteilt. Das Gesetz erschwere die unter ihren Wählern besonders beliebte Briefwahl, kritisieren die Demokraten. Unter anderem müssen die Bürger neu ein Identitätspapier vorlegen, während früher ein Vergleich der Unterschriften ausreichte. Die Demokraten sehen darin eine Diskriminierung, weil Schwarze öfter als Weisse keine Identitätskarte haben.

«Ich verstehe den Ärger der Linken nicht», sagt jedoch Sterling. Rund 95 Prozent der Wahlberechtigten in Georgia seien registriert, und in über 97 Prozent der Fälle sei eine Identitätskarte mit der Akte verbunden. Den Demokraten ginge es nur um die Polemik: «Egal welches Wahlgesetz verabschiedet worden wäre, sie hätten es ‹Jim Crow 2.0› genannt, weil sie damit sehr viele Spendengelder mobilisieren können.»

Die Schreckensszenarien der Demokraten gehen aber noch viel weiter. Das neue Gesetz ermächtigt die republikanisch dominierte Wahlbehörde in Atlanta, einzelne Bezirksbehörden zu überprüfen, deren «Leistung» ihr missfallen. Werden Missstände festgestellt, darf der Gliedstaat temporär eigene Wahlleiter für einen Bezirk ernennen. Damit könnten die Republikaner die Wahlbehörden in einzelnen Bezirken nach Belieben entmachten, die dortigen Wahlresultate annullieren oder manipulieren, befürchten die Demokraten.

Sterling winkt erneut ab: «Das ist eine weitere, bewusste Verdrehung des Gesetzes.» Für die betroffenen Bezirke gebe es genügend Rekursmöglichkeiten. «Mit dieser Lüge untergräbt die Linke das Vertrauen in das Wahlsystem genauso wie die Rechte.»

Fulton County: der Sündenbock auf dem Prüfstand

Vom Capitol bis zum Verwaltungssitz des Fulton County sind es nur wenige Fahrminuten. Hier, in Georgias bevölkerungsreichstem Bezirk, wird sich zeigen, ob die Befürchtungen der Demokraten tatsächlich übertrieben sind. Biden gewann die Wahl gegen Trump in dieser linken Hochburg mit 72 Prozent der Stimmen.

Doch im August machten die Republikaner erstmals vom neuen Gesetz Gebrauch und leiteten gegen die Wahlbehörde in Fulton eine «Leistungsüberprüfung» ein. Das County geriet durch Schlampigkeiten wiederholt in die Kritik. So musste die Behörde etwa im Oktober zwei Mitarbeiter entlassen, die 300 Anträge zur Wählerregistrierung geschreddert haben sollen.

Rick Barron, der ehemalige Wahldirektor in Fulton, vermutet jedoch politische Motive: «Andere Bezirke hatten die gleichen Probleme wie wir. Aber sie haben uns, das grosse demokratische County, herausgegriffen.»

Die neuen Gesetze in Georgia hätten einen rassistischen Unterton, sagt Rick Barron, der ehemalige Wahldirektor in Fulton County.

Die neuen Gesetze in Georgia hätten einen rassistischen Unterton, sagt Rick Barron, der ehemalige Wahldirektor in Fulton County.

Dustin Chambers für NZZ

Barron kann offen reden. Der 55-jährige Funktionär kündigte im vergangenen November. Wenige Tage nach unserem Interview hat er seinen letzten Arbeitstag. Auf einem Tisch in seinem Büro wartet bereits eine gepackte Kartonkiste.

Über Barron gab es in den vergangenen Jahren oft Schlagzeilen. Ursprung war ein Überwachungsvideo eines Wahlbüros in Fulton County. Trumps Anwälte wollten darauf Wahlhelfer sehen, die falsche Stimmzettel aus Koffern holten und sie zählten. Sie veröffentlichten die Namen von zwei afroamerikanischen Mitarbeiterinnen des Wahlbüros.

Die beiden Frauen erhielten während Monaten Todesdrohungen per E-Mail, SMS oder Telefon. Eine von ihnen musste untertauchen und ständig die Wohnung wechseln. Auch in der Wahlzentrale des Bezirks meldeten sich wütende Trump-Anhänger: «Vieles davon war rassistisch. Sie sagten ständig das N-Wort», erinnert sich Barron.

Das Überwachungsvideo erwies sich als harmlos, die Vorwürfe als haltlos. Mehrmals liessen die Behörden die brieflichen Wahlzettel in Fulton nachzählen und überprüfen. Zahlreiche Gerichte beschäftigten sich damit. Doch Beweise für eine Wahlmanipulation konnte bis heute niemand finden. Trumps Anhänger beharren trotzdem auf ihren Betrugsvorwürfen. «Es muss sich um eine geistige Krankheit handeln», meint Barron hämisch.

Die vergangenen Monate waren schwierig für Barron. Seine Freundin sei Iranerin. Aber das habe er verheimlichen müssen. Die Trump-Anhänger hätten daraus bestimmt eine weitere Verschwörungstheorie entwickelt. «Ich konnte neben der Arbeit nicht mehr sein, wer ich eigentlich bin.»

Entsprechend hart urteilt Barron über die Republikaner. Ihre Abgeordneten erliessen Gesetze in Georgia, die einen rassistischen Unterton trügen. «Im Prinzip ist es ein Haufen verunsicherter Weisser, die sich bedroht fühlen durch die Stimmen der Minderheiten», sagt er.

Barron glaubt, das neue Wahlgesetz habe die Stimmabgabe durchaus erschwert. Anstatt 49 Tage vor der Wahl dürfen die Behörden die Briefwahlunterlagen nun erst 29 Tage vorher versenden. Bis diese Unterlagen mit der Post einträfen, öffneten die Büros für die vorzeitige Wahl, erklärt Barron. «Viele Leute werden auf die Briefwahl verzichten, wodurch sich die Schlangen vor den Wahlbüros verlängern.»

Das Wahlgesetz macht zudem eine Innovation rückgängig: Um die Briefwahl in der Pandemie zu erleichtern, erlaubte Georgia 2020 erstmals Drop-Boxen. Die Bürger konnten dort rund um die Uhr ihre Wahlzettel einwerfen. «Die Polizei überwachte die Boxen mit Kameras. Aber die Leute entwickelten allerlei Phantasien, wie die Wahl mit ihnen gefälscht werden könnte», sagt Barron.

Jetzt darf das 120 Kilometer lange Fulton County statt 38 Drop-Boxen nur noch sieben im Innern der Wahlbüros aufstellen. Sie sind deshalb nicht mehr jederzeit zugänglich. «Dabei verwenden andere Gliedstaaten solche Boxen seit Jahrzehnten.»

Die erschwerte Briefwahl könnte vor allem die Demokraten benachteiligen. Im Pandemiejahr 2020 entschieden sich demokratische Wähler viel öfter für die Briefwahl als republikanische Wähler. Besonders unter Afroamerikanern in Georgia wurde die Briefwahl immer beliebter.

In den nächsten Wochen erwartet Barron den Bericht zur «Leistungsüberprüfung» seiner Wahlbehörde. Das Panel, das die Untersuchung führt, sei politisch ausgewogen. Er rechnet daher nicht damit, dass der Bericht die Entmachtung der lokalen Behörde empfiehlt.

Aber der politische Druck sei so gross, dass die gliedstaatliche Wahlbehörde trotzdem einen «take-over» in Fulton beschliessen könnte. Die Republikaner hätten kürzlich zwei ihrer Mitglieder in dem Gremium ausgetauscht: «Eine von ihnen ist eine Extremistin, eine Verschwörungstheoretikerin mit einer heftigen Abneigung gegenüber Fulton.»

Spalding County: die aussortierten Afroamerikaner

Rechte Verschwörungstheoretiker sind auch in anderen Wahlbehörden Georgias eingezogen. Zum Beispiel in Spalding County, 70 Kilometer südlich von Atlanta. Die Bevölkerung dieser ländlichen Region ist mehrheitlich weiss und konservativ.

Ein ebenerdiges, etwas in die Jahre gekommenes Bürogebäude in der Bezirkshauptstadt Griffin. Neben der gläsernen Eingangstür hängt ein mit Klebstreifen befestigtes Blatt Papier: «Hauptquartier der Demokratischen Partei», steht darauf.

Sie seien erst vor zwei Wochen eingezogen, sagt Elbert Solomon, 71, der Vizepräsident der lokalen Parteiorganisation. Ohnehin wolle er aber nur ein kleines Schild anbringen. «Bitte nennen sie unsere Adresse nicht.» Sollte sie weitherum bekannt werden, könne der Vermieter – ein Republikaner – die Demokraten wieder rauswerfen. Auch um die Sicherheit seiner Mitarbeiter fürchtet sich Solomon: «Die Leute hier sind zu allem fähig.»

Elbert Solomon steht vor einem kürzlich eingeweihten Wandgemälde für den schwarzen Bürgerrechtler John Lewis. Auch mit solchen Aktionen will der Demokrat in Spalding County neue Wähler gewinnen.

Elbert Solomon steht vor einem kürzlich eingeweihten Wandgemälde für den schwarzen Bürgerrechtler John Lewis. Auch mit solchen Aktionen will der Demokrat in Spalding County neue Wähler gewinnen.

Dustin Chambers für NZZ

Solomon war früher Manager. 2015 zog er in eine neue Alterssiedlung ausserhalb von Griffin. Das «Reservat», wie er es nennt, besteht aus 1500 Einfamilienhäusern und einem Golfplatz. Unter den Zuzügern befänden sich auch einige gut gebildete Demokraten. «Wir haben eine Aktionsgruppe gegründet.» Sie versuchen, neue Leute anzusprechen: «Es gibt nur wenige weisse Demokraten hier. Viele haben Angst, ihr Gesicht zu zeigen. Aber sie unterstützen uns mit ihrem Checkbuch.»

Um neue Wähler zu gewinnen und zu registrieren, gingen die Demokraten in Spalding County zu den Menschen. Sie erreichten sie in Geschäften, Restaurants oder Gemeinschaftszentren. Vergangenes Wochenende weihte Solomon auf einem Parkplatz in Griffin ein grosses Wandgemälde mit dem Porträt des Bürgerrechtlers John Lewis ein. Martin Luther Kings Weggefährte kam 1965 bei einem friedlichen Protestmarsch fast ums Leben. Bewegt durch die Bilder des «Blutigen Sonntags», verabschiedete der Kongress danach die Voting Rights Act, welche die Diskriminierung schwarzer Wähler untersagte.

Jetzt sollen seine Worte an der Hauswand in Griffin die Menschen jeden Tag an das von ihm erkämpfte Privileg erinnern: «Das Wahlrecht ist kostbar, fast heilig», steht in mächtigen Buchstaben geschrieben. Solomon sagt: «Wir haben das Gemälde absichtlich in einem Quartier platziert, das bisher eine tiefe Wahlbeteiligung aufweist.»

Solomon hat mit seiner Arbeit Erfolg. Bei den Bürgermeisterwahlen in Griffin 2019 fehlten dem Kandidat der Demokraten nur 15 Stimmen zum Sieg. Bis zu den Präsidentschaftswahlen ein Jahr später konnte die Partei die Zahl ihrer registrierten Wähler um 15 Prozent steigern.

Dabei half den Demokraten auch ein Zufall: In der lokalen Wahlbehörde kam es 2019 zu einem Patt. Das unabhängige Mitglied des Gremiums war verstorben. Die zwei Demokraten und zwei Republikaner in der Behörde konnten sich auf keine neue «fünfte Person» einigen. Also musste ein Münzwurf entscheiden.

Glenda Henley sass für die Demokraten in der Wahlbehörde in Spalding County. Sie trat aus Protest zurück.

Glenda Henley sass für die Demokraten in der Wahlbehörde in Spalding County. Sie trat aus Protest zurück.

Dustin Chambers für NZZ

«Unsere Kandidatin gewann», erzählt Glenda Henley, die während des Gesprächs mit Solomon im Parteibüro der Demokraten dazugekommen ist. Henley sass bereits 2019 für die Demokraten in der Wahlbehörde. Nach dem Münzwurf waren sie und ihre Partei dort nun in der Mehrheit. So konnten sie eine neue Wahldirektorin nach ihren Wünschen einstellen: ebenfalls eine Afroamerikanerin mit Verbindungen zur Demokratischen Partei. «Sie war am besten qualifiziert, lebte in Atlanta und hatte in Spalding keinerlei Interessen», erklärt Henley. Solomon sagt: «Sie war sehr hilfsbereit, ermutigte die Menschen, sich zu registrieren und zu wählen.»

Dies gefiel den Republikanern nicht. Die neue Wahldirektorin geriet immer mehr in die Kritik der Rechten. Der Tag der Präsidentschaftswahl verlief für sie unglücklich: Nach Öffnung der Wahllokale funktionierten die Wahlcomputer im ganzen Spalding County während zweier Stunden nicht. Trumps Anhänger vermuteten eine Manipulation. Sie belagerten die Wahlbehörde, und der Sheriff musste die Mitarbeiter des Büros abends zu ihren Autos begleiten.

Auf Betreiben republikanischer Abgeordneter verabschiedete das gliedstaatliche Parlament in Atlanta ein spezielles Gesetz, das die Machtverhältnisse in der Wahlbehörde von Spalding auf den Kopf stellte.

Gemäss dem Gesetz HB769 muss die Wahldirektorin ihren Wohnsitz in Spalding haben. Zudem ist jetzt ein lokales Gericht dafür zuständig, die unabhängige fünfte Person in der Wahlbehörde zu bestimmen. Die drei weissen Richter hätten sich für einen «Hardcore-Republikaner» entschieden, sagt Solomon. «Alle neuen Angestellten des Wahlbüros sind Republikaner.» Glenda Henley trat aus Protest von ihrem Amt zurück.

Ben Johnson, der neue Vorsitzende der Wahlbehörde, gilt als Verschwörungstheoretiker und QAnon-Anhänger. Die Gruppe geht davon aus, dass in Washington eine pädophile Elite herrscht, der Trump ein Ende setzen wird.

Auf Anfragen für ein Interview reagierte Johnson nicht. Andere Republikaner in Griffin lehnten ein Gespräch ab.

Einem Journalisten des «Guardian» sagte Johnson: «Ich spreche nicht mit Fake-News-Medien.» Auf dem Twitter-Account, der ihm zugeschrieben wird, ist am 23. Mai 2021 der Eintrag zu finden: «Wir sind alle Q.»

Als eine der ersten Amtshandlungen strich die veränderte Wahlbehörde die vorzeitige Stimmabgabe an Sonntagen. Zufall ist das nicht: Die Wahl nach dem Gottesdienst hat unter Afroamerikanern eine lange Tradition. «Souls to the polls» entstand in der Zeit, als Schwarze in den Wahlbüros von Weissen gedemütigt und eingeschüchtert wurden. In grossen Gruppen zur Urne zu gehen, gab ihnen Sicherheit.

Spalding County ist in Georgia kein Einzelfall. Nach dem Vorbild von HB769 beschloss das Parlament in Atlanta ähnliche Gesetze für sieben weitere Bezirke. Auch dort brachten die Republikaner die Wahlbehörden unter ihre Kontrolle.

Von Gwinnett County nach Commerce: Die Lügner schwören Vergeltung

Der ursprüngliche «Bible State» Georgia wandelt sich demografisch rasch. In Gwinnett County nordöstlich von Atlanta ist die Bevölkerung im vergangenen Jahrzehnt um knapp 20 Prozent gewachsen und diverser geworden. Unter anderem lebt die drittgrösste koreanische Gemeinschaft der USA in der Region.

Die einst weisse Mehrheitsbevölkerung ist zu einer Minderheit geworden. Damit änderte sich auch das politische Klima. Wo die Republikaner vor wenigen Jahren noch unangefochten regierten, gewinnen heute die Demokraten.

Blau ist die Farbe der Demokraten, Rot jene der Republikaner, und Georgia wird immer «blauer». Vor allem fällt die starke Zunahme der schwarzen Wahlberechtigten auf: Während ihr Anteil in Georgia seit 2000 von 27 auf 33 Prozent anstieg, sank jener der weissen Stimmbürger von 68 auf 58 Prozent.

Verantwortlich dafür ist auch die «Neue Grosse Migration» von Afroamerikanern aus dem Norden der USA in den Süden. Flüchteten die Nachfahren der Sklaven bis 1970 vor der Diskriminierung und dem Terror des Ku-Klux-Klans aus dem Süden nach New York, Chicago oder Los Angeles, kehren ihre Kinder nun wieder zurück in aufstrebende Städte in Georgia, Texas oder Tennessee. Denn hier ist es billiger, ein Haus zu kaufen, eine Familie oder ein Unternehmen zu gründen.

Die Reise geht weiter nach Osten in die Provinz. Es ist ein sonniger und windiger Tag im März, als sich auf einer ausrangierten Autorennbahn ausserhalb von Commerce Republikaner versammeln, um auf den Auftritt ihres Hoffnungsträgers Trump zu warten. Fast alle Besucher sind weiss, sie tragen T-Shirts mit Aufschriften wie «Jesus, Guns & Babies».

Auch Amber Dove, die Besitzerin eines Friseursalons, ist gekommen. «Georgia ist solch ein roter Staat, er war niemals blau», sagt sie. «Die Wahl 2020 war absolut gestohlen. Schau doch, wie viele Leute hierherkommen.»

In Georgia wollen viele Donald Trump zurückhaben – zum Beispiel Amber Dove.

In Georgia wollen viele Donald Trump zurückhaben – zum Beispiel Amber Dove.

Elijah Nouvelage für NZZ

«Alles ist korrupt», glaubt Dove. Aber selbst ihre demokratischen Freunde würden langsam aufwachen und verstehen, was vor sich ginge.

«Wer kann denn glücklich sein mit einem Benzinpreis von über 4 Dollar für eine Gallone?» Die Amerikaner sorgen sich um die steigenden Lebenskosten. Die Inflation ist unter Biden auf einen Rekordwert von 8,5 Prozent gestiegen. Dove ist misstrauisch gegenüber der amerikanischen Demokratie und dem Wahlsystem. Dass die Behörden das Wahlresultat in Georgia mehrmals überprüft haben und kein Gericht einen Betrug feststellen konnte, spielt für Dove keine Rolle. Sie glaube nichts, was ihr die jetzige Regierung sage: «Wie kann ich Wahlen jemals wieder trauen?»

David Perdue winkt an der Trump-Rally in Commerce nach seiner Rede der Menge zu. Der ehemalige Senator will eine Wiederwahl von Gouverneur Kemp verhindern.

David Perdue winkt an der Trump-Rally in Commerce nach seiner Rede der Menge zu. Der ehemalige Senator will eine Wiederwahl von Gouverneur Kemp verhindern.

Elijah Nouvelage / Bloomberg

Viele Vertreter der republikanischen Elite lassen sich für Trumps Rachefeldzug einspannen. Der ehemalige Senator David Perdue ist ein erfahrener Manager, Geschäftsmann und Multimillionär. Auch der Kongressabgeordnete Judy Hice begann seine politische Karriere vor Trumps Aufstieg. Er sitzt seit 2014 im Parlament in Washington. Nun schickt Trump die beiden bei den republikanischen Vorwahlen am 24. Mai gegen die «Verräter» Kemp und Raffensperger ins Rennen. Perdue will Gouverneur werden, Hice kämpft um das Amt des Staatssekretärs.

Bei ihren Auftritten am Rally in Commerce predigen beide Trumps grosse Lüge: «Dank Kemp wurde die Wahl in Georgia absolut gestohlen», ruft Perdue und verspricht, «die Verantwortlichen für den Betrug ins Gefängnis zu bringen». Das Publikum skandiert: «Sperrt sie ein, sperrt sie ein.» Hice mahnt: «Wenn es keine Konsequenzen gibt, werden diese Leute weiter schummeln.»

Nach den Reden seiner Gehilfen warten Trumps Anhänger geduldig über zwei Stunden auf den grossen Auftritt ihres Idols. Es sind ein paar tausend da, aber keine Massen. In den ersten Reihen sitzen Verschwörungstheoretiker.

Sie reisen Trump von Rally zu Rally nach und glauben an die abstrusesten Dinge. Eine ihrer Phantasien: Biden wurde längst erschossen, und der Mann im Weissen Haus ist ein Schauspieler mit einer Maske. Eine andere: Das Regierungsviertel in Washington ist ausländisches Territorium, und ein Konzern beherrscht von dort aus die USA. Auf die Frage, ob er so etwas wirklich glaube, antwortet ein junger Mann: «Ich glaube nicht, ich weiss.»

Dann betritt Trump den langen roten Laufsteg. Auf dem Weg zum Rednerpult wirft er rote «Make America Great Again»-Schirmmützen in die Menge. Aus den Lautsprechern dröhnt die patriotische Country-Hymne «God Bless the U.S.A». Seine Rede beginnt gleich mit einer Lüge: «Wow, das ist ein grosses Publikum.» Er könne Menschen sehen, soweit sein Auge reiche.

Dann spricht Trump über die Feinde in der eigenen Partei. Er nennt sie «Republicans in name only», Republikaner nur dem Namen nach – abgekürzt Rinos. «Bevor wir die demokratischen Sozialisten und Kommunisten im Herbst besiegen können, müssen wir zuerst die Rinos in den Vorwahlen schlagen», ruft Trump seinen Anhängern zu. «Hier in Georgia werden wir Rino-Gouverneur Brian Kemp rausschmeissen und ihn durch einen furchtlosen Kämpfer ersetzen: David Perdue.»

Trump macht seine Absichten auf ein Comeback 2024 klar: «Ich bin zweimal angetreten, ich habe zweimal gewonnen. Das zweite Mal haben wir noch viel besser abgeschnitten. Und wir müssen es vielleicht nochmals tun.» Das Publikum jubelt.

Epilog

Atlanta, Fulton County, Spalding County, Gwinnett County. Ist die amerikanische Demokratie in Gefahr? Es gibt Entwicklungen, die Hoffnung machen, und Entwicklungen, die beängstigend sind. Lange Zeit können sich die tektonischen Platten eines demokratischen Systems unbemerkt verschieben, bevor es zu einem Erdbeben kommt. Und paradoxerweise können Demokratien auch mit demokratischen Mitteln und von demokratisch gewählten Politikern ausgehöhlt werden. Donald Trump versucht auf demokratische Weise die letzten Widerstandsnester in seiner Partei auszulöschen.

Den Bürgern erzählen Trump und seine nationalkonservativen Mitstreiter oft nur halbe Wahrheiten, verantwortungslose Lügen oder auch Verschwörungstheorien. Und statt nachhaltige Lösungen für die echten Probleme zu präsentieren, bedienen sie oft rassistische, nationalistische und homophobe Ressentiments.

Gefährlich ist dabei aber vor allem dies: Trumps Republikaner stilisieren die Demokraten und ihre Politik zu einer existenziellen Gefahr für Amerika. Dieser Gedanke lässt jedes Mittel im Kampf um die Macht als legitim erscheinen – auch Gewalt.

Ein Pick-up voller Stickers auf dem Parkgelände in Commerce gibt Einblick in die Seele der Trump-Anhänger. Es geht ihnen um Waffen, Jesus und Trump.

Ein Pick-up voller Stickers auf dem Parkgelände in Commerce gibt Einblick in die Seele der Trump-Anhänger. Es geht ihnen um Waffen, Jesus und Trump.

Elijah Nouvelage für NZZ


source site-111