Der Skistar Marco Odermatt im Interview

Marco Odermatt ist auch in diesem Winter die herausragende Figur im alpinen Ski-Weltcup. Der Nidwaldner erfährt gerade, wie kräftezehrend sein Sport sein kann – und sagt, ohne Beat Feuz werde sich einiges verändern.

Marco Odermatt ist das Selbstvertrauen in Person. Er sagt, es habe vor der Saison keinen Grund gegeben, «wieso es nicht wieder funktionieren sollte».

Gian Ehrenzeller / Keystone

Marco Odermatt, sind Sie gerne ein Idol?

Ja. Man ist es, oder man ist es nicht, das kann man sich nicht aussuchen. Ich war auch einmal ein kleiner Bub, der Vorbilder hatte. Darum finde ich es schön, wenn das jetzt andere in mir sehen.

Sie haben mehrmals, letztmals an den Sports Awards, Roger Federer getroffen, das Schweizer Sportidol schlechthin. Fühlen Sie sich da immer noch ein bisschen wie der kleine Marco, der einst einen Skitag mit seinem grossen Idol Didier Cuche gewann?

Roger oder Didier werden wahrscheinlich immer Vorbilder bleiben. Aber man schaut vielleicht nicht mehr gleich von unten zu ihnen hoch, sondern ist auf einer ähnlichen Ebene, auf der man mehr oder weniger normal miteinander reden kann. Ich habe keine zittrigen Beine mehr.

Am Mittwoch gab mit Ihrem Teamkollegen Beat Feuz ein anderer Publikumsliebling bekannt, nach den Rennen in Kitzbühel aufzuhören. Was hat Sie an Feuz beeindruckt?

Einiges. Vor allem die unglaubliche Konstanz, die Beat in der Abfahrt erreicht hat, er war während gut vier Jahren nie schlechter als im 10. Rang klassiert. Obwohl jede Abfahrt anders ist, sei es von der Strecke, vom Schnee oder von den Bedingungen her, die man gerade erwischt. Sehr, sehr eindrücklich!

Was wird Ihnen fehlen ohne Feuz?

Ich werde seine lockere, coole Art vermissen. Mit ihm Zeit zu verbringen, ist einfach gemütlich. Ich besichtige die Piste immer mit ihm, wenn ich mit der Speed-Mannschaft unterwegs bin, vor jedem Training, vor jedem Rennen. Wir schreiben uns am Abend, wann wir am Morgen frühstücken, wann wir aufbrechen. Wir sind immer zusammen. Ich werde die letzten Rennen mit Beat noch geniessen, danach wird sich einiges verändern. Ich habe mir immer viel Vertrauen geholt mit den gemeinsamen Besichtigungen, obwohl es nicht mehr um hundert Geheimtipps geht, die ich lernen könnte. Wir haben Dinge miteinander analysiert und uns gegenseitig Vertrauen gegeben.

Am 23. Januar 2022 gewinnt Beat Feuz (rechts) die Abfahrt in Kitzbühel vor Odermatt. Feuz hört bald auf. «Mit ihm Zeit zu verbringen, ist einfach gemütlich», sagt Odermatt.

Am 23. Januar 2022 gewinnt Beat Feuz (rechts) die Abfahrt in Kitzbühel vor Odermatt. Feuz hört bald auf. «Mit ihm Zeit zu verbringen, ist einfach gemütlich», sagt Odermatt.

Lisi Niesner / Reuters

Sie haben den Gesamtweltcup gewonnen und führen bereits wieder 271 Punkte vor Aleksander Kilde. Sind Sie auch gerne der Gejagte?

Dass ich zum Gejagten geworden bin, ist ein gutes Zeichen. Es bedeutet, dass ich in Form bin, dass es gut läuft. Also lieber in dieser Situation als der Jäger sein.

Wann hatten Sie letztmals das Gefühl, Ihr Selbstvertrauen sei gerade nicht so gross, wie Sie es gerne hätten?

Puh, schwierig. Am letzten Sonntag startete ich in Alta Badia zum ersten Riesenslalom-Lauf, ich hatte die Speed-Woche in Gröden hinter mir, die anderen kamen vom Riesenslalomtraining. Da fehlte es mir im ersten Durchgang nicht an Selbstvertrauen, aber an Vertrauen in mein Riesenslalom-Skifahren. Ich war Neunter im Zwischenklassement und wurde am Ende Dritter. Es muss immer wieder alles zusammenpassen, damit man die volle Leistung abrufen kann.

Junger Champion

(phb.) Marco Odermatt gilt als weltbester Skirennfahrer der Gegenwart. Der 25-jährige Nidwaldner hat heuer unter anderem den Gesamtweltcup und Olympiagold im Riesenslalom gewonnen. Odermatt prägt bis jetzt auch die neue Saison, in der er schon vier Weltcup-Rennen für sich entschieden hat und in der Gesamtwertung souverän führt. Odermatt ist zweifacher Schweizer Sportler des Jahres – und nun soll er auch noch der Schönste im Land sein. Zumindest hat ihn die «Glückspost» dazu gekürt.

Am vergangenen Samstag endete eine Serie von zwölf Rennen mit zwölf Podestplätzen. Im Riesenslalom bringen Sie es seit dem Sieg am Montag in Alta Badia ebenfalls auf zwölf Weltcup-Podestplätze in Folge. Wird der Druck mit jedem Mal grösser oder mit jedem Mal kleiner?

Der Druck bleibt immer gleich. Solche Serien sind schön für die Medien und das Publikum, aber ich studiere nicht gross daran herum. Ich fühlte mich nach dem 7. Platz in Gröden, als die eine Serie brach, nicht schlechter als zuvor.

Der zweitklassierte Henrik Kristoffersen sagte am Montag, Sie würden derzeit fliegen. Dabei waren Sie ausgepumpt wie wohl noch nie.

Es war der fünfte Renntag in Folge. Der Super-G am Freitag in Gröden war zwar abgesagt worden, aber ich war trotzdem aufgestanden, hatte mich vorbereitet, die Strecke besichtigt, die Rennspannung aufgebaut. Fünf Rennen in fünf Tagen sind eigentlich übertrieben, für einen Slalomspezialisten wäre das eine halbe Saison. In Gröden hatte ich die Abfahrt vor Jahresfrist noch ausgelassen. In Alta Badia war die Kurssetzung diesmal extrem drehend, so dass jeder Riesenslalom-Lauf rund 80 Sekunden dauerte. Das machte alles noch strenger. Nach dem vierten und letzten Durchgang war ich komplett leer.

Können Sie nachvollziehen, warum Marcel Hirscher, der den Gesamtweltcup-Sieg Jahr für Jahr anstrebte und erreichte, von Erschöpfungszuständen sprach?

Absolut. Gewinnen macht müde, die Tage werden automatisch um Stunden länger. Siegerehrung im Zielraum, Medienarbeit, Dopingkontrolle, vielleicht noch Startnummernauslosung und eine zweite Siegerehrung am Abend – da gehen drei, vier Stunden verloren im Vergleich zu den anderen, die sich in dieser Zeit erholen. Und ich fahre sogar noch eine Disziplin mehr als Marcel.

Als Zuschauer gibt es viele Momente, in denen man denkt, Sie oder Ihre stärksten Konkurrenten bewegten sich auf Messers Schneide. Wie sehr dringen heikle Situationen während eines Rennens in Ihr Bewusstsein?

Man nimmt sie gar nicht so richtig wahr. Es klappt nicht immer, den Körper ans Limit zu treiben. Aber wenn man etwas riskiert und einmal etwas nicht aufgeht, versucht man einfach, möglichst schnell zurück auf die Ideallinie zu kommen. Das Gute am Riskieren ist: Man kann sich so eher einmal einen Fehler erlauben. Und dank der Körperspannung, die man im Angriffsmodus hat, kommt man oft schneller zurück auf die Ideallinie und auf Tempo.

Sie starteten in Sölden mit einem überlegenen Sieg in die Saison. Wie wichtig ist es für einen Fahrer auf Ihrem Level noch, gleich am Anfang ein starkes Zeichen zu setzen?

Mit einem Sieg einzusteigen, hilft immer. Über den Sommer verliert man das Selbstvertrauen der Vorsaison schon ein bisschen. Es geht nicht bei null wieder los, aber nahe bei null. Diesmal reiste ich weniger zuversichtlich nach Sölden als 2021, da ich in der Saisonvorbereitung einige Skitage verloren hatte wegen Wetterpechs. Ich sagte mir: Wenn es auf Anhieb klappt – super. Und sonst halt nicht.

Odermatt über den Saisonstart in Sölden, wo er überlegen gewann: «Ich sagte mir: Wenn es auf Anhieb klappt – super. Und sonst halt nicht.»

Odermatt über den Saisonstart in Sölden, wo er überlegen gewann: «Ich sagte mir: Wenn es auf Anhieb klappt – super. Und sonst halt nicht.»

Leonhard Foeger / Reuters

Es gab einige Gesamtweltcup-Siegerinnen und -Sieger, etwa Ihren Vorgänger Alexis Pinturault, die danach in ein Loch fielen. Können Sie das nachfühlen? Und haben Sie etwas unternommen, um so etwas zu verhindern?

Alexis rannte der grossen Kristallkugel etwa zehn Jahre lang hinterher, das kann man nicht vergleichen. Ich hatte keine Angst vor einem Loch, war aber sensibilisiert. Ich hatte den Frühling und den Sommer gut geplant, mir die freien Tage herausgenommen und nur die nötigsten Termine absolviert. Es gab vor der Saison keinen Grund, wieso es nicht wieder funktionieren sollte.

Sie wollen gierig bleiben, nicht nachlassen im Training – und müssen doch die Balance wahren, sich die nötige Regenerationszeit gönnen. Wie gelingt Ihnen das?

Da den Mittelweg zu finden, ist die schwierigste Aufgabe für einen Sportler.

Sind Sie mit Ihren 25 Jahren schon trainingserfahren genug, um die Umfänge zu reduzieren?

Wenn man drei Disziplinen fährt, kommt man nur noch über die Qualität ans Ziel. Über die Quantität – dafür fehlt schlicht die Zeit. Während der Saison haben bei meinem Rennprogramm nur noch vereinzelte Trainingstage Platz.

Was ist mit Konditionstraining? Muss man den ganzen Winter über von der Substanz zehren, die man in der Vorbereitung aufgebaut hat?

Eigentlich schon. Das letzte richtige Krafttraining machte ich Anfang November, vor der Abreise nach Nordamerika. Ich war vier Wochen drüben, dann keine 48 Stunden daheim, dann nach Val-d’Isère, dann keine 24 Stunden daheim, dann nach Gröden und Alta Badia.

Was machen Sie konkret, um effizient zu regenerieren?

Die Heimfahrt am Montag dauerte sechs Stunden, das geht nicht unter Erholung, man verpflegt sich schnell, schnell in einem McDonald’s oder so, man will ja nur noch nach Hause. An den Weltcup-Orten gehe ich jeden Tag ein bisschen auf den Hometrainer oder spazieren, um das Laktat aus den Beinen zu bringen. Ich mache Physiotherapie, Mobilisationsübungen, aber auch Kraftübungen, um den Muskeltonus zu stimulieren. Und ich habe immer Kompressionshosen dabei, die ähnlich wirken wie eine Lymphdrainage.

Andere Topathleten Ihres Sponsors Red Bull sind oft in der Luft unterwegs statt auf der Strasse. Stellt Ihnen Red Bull keine Helikopter oder Kleinflugzeuge zur Verfügung?

Ab und zu darf auch ich einen Red-Bull-Helikopter nutzen. Alles in Massen und zum richtigen Zeitpunkt. Oft organisiert man solche Transporte aber anders, meistens auf Eigeninitiative. Von Val-d’Isère an die Sports Awards und dann weiter nach Gröden flog ich per Helikopter, sonst hätte es zeitlich schlicht nicht gereicht. Und auf Langstreckenflügen sitze ich in der Business-Klasse, damit sie mich möglichst wenig Energie kosten.

In Gröden waren Sie vor Jahresfrist im Super-G nicht richtig vom Fleck gekommen. Nun fuhren Sie erstmals die Abfahrt und wurden auf Anhieb Zweiter. Sie setzten auf einen neuen Ski, auf Anraten Ihres Servicemanns Chris Lödler und des Stöckli-Rennsportleiters Beni Matti. Ein Wagnis, das voll aufging.

Wir hatten dieses Modell im Frühling entwickelt und in Chile und in den USA vereinzelt getestet. Aber in einem Rennen und in Kombination mit diesen Schuheinstellungen war es das erste Mal. Wir hatten in der Saison zuvor festgestellt, dass wir bei Verhältnissen wie in Gröden, China oder Kvitfjell, auf sehr trockenem Kunstschnee also, Mühe haben. Wir mussten etwas finden, um schneller zu werden.

Noch im letzten Winter waren Stimmen zu vernehmen, wonach Odermatt von Stöckli zu einer grossen Skifirma wechseln müsse, wenn er auch in der Abfahrt regelmässig gewinnen wolle. Sie warten zwar weiterhin auf einen ersten Abfahrtssieg, aber mit den vielen Podestplätzen sind Sie dabei, das Gegenteil zu beweisen.

Ich hatte nie das Gefühl, ich müsste zu Head oder Atomic wechseln, um auch in der Abfahrt Erfolg zu haben, erst recht nicht nach den vier Podestplätzen in der letzten Saison. Ich hatte nie Angst, dass es mit Stöckli nicht funktionieren könnte. Dass ich den Vertrag vorzeitig bis 2026 verlängert habe, sagt eigentlich alles.

Von Didier Cuche war schon die Rede. Wie gut wissen Sie über Hermann Maier Bescheid, der aufhörte, als Sie 12 Jahre alt waren?

Ich traf Hermann diesen Sommer in Salzburg für ein Doppelinterview und lernte ihn ein bisschen kennen. Aber Erinnerungen an ihn als Fahrer habe ich kaum.

Unterwegs zum Sieg in Alta Badia. «Nach dem vierten und letzten Durchgang war ich komplett leer», sagt Odermatt.

Unterwegs zum Sieg in Alta Badia. «Nach dem vierten und letzten Durchgang war ich komplett leer», sagt Odermatt.

Luca Tedeschi / Imago

Maier gewann in den Jahren 2000 und 2001 jeweils sowohl den Gesamtweltcup als auch den Abfahrts-, Super-G- und Riesenslalom-Weltcup. Haben Sie das Gefühl, dass das auch heute noch möglich ist?

So, wie ich momentan unterwegs bin, wäre das theoretisch möglich. Aber ich glaube trotzdem, dass es nahezu unmöglich ist. Schliesslich ist Aleksander Kilde, mein grösster Konkurrent in den Speed-Disziplinen, auch brutal gut in Form.

Kilde gegen Odermatt – dieses Duell hat die bisherigen Speed-Rennen geprägt. Hat Ihnen der Norweger noch etwas voraus?

Man hat es jüngst in Gröden wieder gesehen: Im oberen Teil, im Gleiten, war Aleksander enorm schnell. Und er riskiert immer sehr viel.

In Gröden fanden zwei Abfahrten statt, in Alta Badia zwei Riesenslaloms, in Kitzbühel wird es ebenfalls wieder zwei Abfahrten geben. Was halten Sie davon, dass immer mehr Klassiker quasi verdoppelt werden?

Gar nichts, ich finde das schlecht. Es mindert die Spannung und den Wert eines einzelnen Sieges, ob aus Sicht des Publikums oder von uns Athleten.

Nun kommt Weihnachten, das nächste Rennen ist die Abfahrt in Bormio am Mittwoch. Wie weit oben auf Ihrer Wunschliste steht ein erster Abfahrtssieg?

Nicht so weit oben. Ich denke, der erste Abfahrtssieg wird sich früher oder später von selbst ergeben. Klar: je früher, desto besser. Aber es ist nicht so, dass ich ihn mir extrem wünsche oder erträume. Ich war diesen Winter schon zweimal Zweiter und einmal Dritter, mit Rückständen von sechs, zehn und elf Hundertsteln auf den Sieger. Irgendwann ist das Hundertstelglück auf meiner Seite, oder ich mache noch einen Schritt – und dann passt das schon.

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