Die Folgen des Ukraine-Krieges

Hohe Benzinpreise und Heizkosten sowie Engpässe bei Nahrungsmitteln sind die unmittelbar spürbaren Auswirkungen des russischen Angriffs auf die Ukraine. Aber auch mittelfristig dürfte sich unser Leben deutlich verändern.

Für einige ukrainische Flüchtlingskinder ist bereits kurz nach ihrer Ankunft in der Schweiz wieder Schulunterricht angesagt.

Karin Hofer / NZZ

In der Ukraine zeigt der Krieg sein hässlichstes Gesicht: Die Menschen verstecken sich in Luftschutzkellern, kämpfen oder fliehen. Auch in Russland spüren die Menschen den Krieg mit jedem Stückchen Freiheit und Komfort, das wegschmilzt.

Die Gewalt verändert aber auch hierzulande die Lebensrealität, wenn die Flasche Sonnenblumenöl plötzlich mehr kostet, das eigene Kind neue Klassenkameraden aus der Ukraine hat oder die bürgerlichen Parteien in der Sicherheits- und Flüchtlingspolitik wieder Auftrieb erhalten.

Der Krieg hat aber auch Einfluss auf die Geopolitik und die weltweite Nahrungsmittelversorgung. Er hat die Welt verändert. Wir zeigen elf Folgen davon.

In Zeiten des Krieges und der Vertreibung ganzer Bevölkerungsgruppen werden realpolitische Themen wieder wichtiger und verdrängen ideelle Themen von der Agenda. Sicherheits-, Energie- und Flüchtlingspolitik dominieren gegenüber Diskussionen über ein allgemeines Grundeinkommen oder Gleichstellungsthemen.

Von solchen Entwicklungen profitieren gewöhnlich bürgerliche Parteien, während die Linke in die Defensive gerät. So setzte sich der Aufstieg der Schweizer Volkspartei (SVP) nach dem Kosovo-Krieg weiter fort. Bei Nationalratswahlen 1999 legte die SVP um 7,7 Prozentpunkte zu. Im Jahr 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, konnte die Partei ihren Wähleranteil zudem auf fast 30 Prozent steigern.

Bei den Wahlen 2015 profitierte die SVP von der Flüchtlingskrise

Wähleranteil der stärksten Parteien bei den Nationalratswahlen, in Prozent

1

Zerfall der Sowjetunion

2

Ende des Kosovo-Krieges

Entscheidend wird sein, welche Partei es schafft, die nun wichtigen Themen zu besetzen. In Deutschland hat der Sozialdemokrat Olaf Scholz die Aufrüstung der Bundeswehr beschlossen, eigentlich ein traditionelles Anliegen der Christlichdemokraten. Die grünen und linken Parteien fordern schon lange eine Abkehr von russischem Gas und die Beschleunigung der Energiewende.

Rechtspopulistische Parteien konnten sich dagegen nur bedingt bei den nun relevanten Sachthemen profilieren. Auch ihre Putin-Nähe dürfte ihnen schaden. Politiker wie Orban, Salvini und Le Pen, die russisches Geld nahmen, als Fanboy posierten und die Politik des Kremls verharmlosten, sind auf Distanz zu Putin gegangen. Auch die SVP muss sich dafür rechtfertigen, dass sie als einzige Partei dagegen gestimmt hat, dass die Schweiz die EU-Sanktionen gegen Russland übernimmt.

Russlands Angriff auf die Ukraine war für den Westen ein Weckruf. Besonders spektakulär war die Kehrtwende, die der deutsche Kanzler Olaf Scholz in der Sicherheitspolitik vollzog. Berlin, das die Bundeswehr seit Jahren auf Auslandseinsätze getrimmt und ihr zugleich die Mittel gekürzt hatte, will nun 100 Milliarden Euro in die Modernisierung der Streitkräfte investieren und den Verteidigungshaushalt auf zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts erhöhen.

Europas Militärausgaben waren bisher tief

Militärausgaben 2020 in den westeuropäischen Ländern, der USA, Russland und China, in Prozent des BIP

Auch Polen, Dänemark und andere Staaten, die nach dem Ende des Kalten Kriegs ihr Militärbudget gekürzt hatten, wollen mehr für Rüstung ausgeben und ihre Streitkräfte wieder auf die Landesverteidigung ausrichten. Nicht nur Lockheed Martin und Raytheon, welche die Javelin- und Stinger-Raketen produzieren, die derzeit in grosser Zahl an die Ukraine geliefert werden, winken lukrative Aufträge. Auch sonst dürften westliche Rüstungsfirmen profitieren.

Die Aggression Russlands hat der Europäischen Union und der Nato neues Leben eingehaucht und deren Mitglieder geeint. Die EU erliess nach der Invasion umgehend gemeinsame Wirtschaftssanktionen gegen den Aggressor, lieferte der Ukraine Waffen im Wert von mehreren hundert Millionen Euro und einigte sich erstmals in ihrer Geschichte auf die Grundzüge einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, die auch eine EU-Armee ähnlich den Nato-Truppen vorsieht.

In der Nato, die der ehemalige amerikanische Präsident Donald Trump einst als «obsolet» und sein Amtskollege in Paris, Emmanuel Macron, als «hirntot» bezeichnet hatte, wird derweil die militärische Antwort des Westens auf Putin koordiniert. Die Ostflanke des Bündnisses wird verstärkt. Künftig sollen mindestens 8000 Soldaten aus den unterschiedlichen Mitgliedsstaaten von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer in sogenannten Battlegroups stationiert sein.

Die wichtigsten Stützpunkte entlang der Nato-Ostflanke

Die Europäer begegnen den fliehenden Ukrainern bisher mit grosser Solidarität und Offenheit. Gerade in Polen und anderen Nachbarländern ist die Hilfsbereitschaft enorm. Für die Städte und Gemeinden bedeutet die Ankunft von Tausenden Neuankömmlingen jedoch eine riesige Herausforderung. Selbst weiter entfernte Länder wie die Schweiz stellt die Unterbringung und Versorgung all der Frauen, Kinder und älteren Menschen vor Schwierigkeiten.

Auch wenn sich die Fronten in der Ukraine stabilisieren und der Zustrom nachlässt, gilt es, Hunderttausende von Kindern in Schulen und Erwachsene in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Über kurz oder lang sind Spannungen programmiert, wenn es auf dem Wohnungsmarkt eng wird und die Ausgaben für Sozialhilfe steigen. Auch dürfte die Situation auf dem Wohn- und Arbeitsmarkt für andere Asylsuchende, die schon jetzt oft nicht willkommen sind, schwieriger werden.

Polen hat die meisten Menschen aus der Ukraine aufgenommen

Ankünfte von ukrainischen Flüchtlingen in Nachbarländern, seit 24. 2. 2022

Anders als ukrainische Flüchtlinge treffen Russen zurzeit kaum auf grosse Willkommenskultur. Wer Russland verlassen will, hat es schwer. Nicht nur der Rubel hat an Wert verloren und macht Reisen ins Ausland teurer, auch der russische Pass verliert an Wert. Die Schweiz und die EU etwa haben Visaerleichterungen für russische Staatsbürger ausgesetzt.

Selbst für die reichsten Russen wird es auf der Welt unangenehmer. Einige Oligarchen wurden mit Sanktionen belegt, ihre Jachten, Privatflugzeuge und Ferienhäuser teilweise beschlagnahmt. Allein die zehn reichsten Russen haben laut dem Milliardärsindex von Bloomberg im Vergleich zum Vorjahr 45 Milliarden Dollar eingebüsst.

Destinationen wie Zypern und die Schweiz, in denen wohlhabende Russen gerne Ferien machten und ihr Geld anlegten, werden wohl auf die zahlungskräftige Klientel verzichten müssen. Dafür verzeichnen Länder wie Armenien, Georgien und die Türkei, für die Russen kein Visum benötigen, einen Ansturm junger, gebildeter Russen, die unter Putin für sich keine Perspektive mehr sehen.

Ferienländer wie die Türkei oder Ägypten, die bei Russen wie Ukrainern beliebt sind, fürchten ihrerseits um ihre Sommersaison. Die Ukrainer dürften ganz wegbleiben, auch viele Russen werden es sich angesichts der Finanzsanktionen und der gestörten Flugverbindungen überlegen, Ferien in Hurghada oder Antalya zu machen.

Der Krieg könnte dazu führen, dass Millionen von Menschen in diesem Jahr weniger zu essen bekommen. Vor allem Länder im Nahen Osten und in Afrika sind stark von ukrainischem Weizen abhängig. Die Uno warnt sogar schon vor einer Hungerkatastrophe in Ostafrika.

Die Ukraine ist eine der wichtigsten Kornkammern der Welt. Das Land produziert dank seinen fruchtbaren Schwarzerdeböden über 10 Prozent des weltweit gehandelten Weizens und spielt auch beim Export von Mais, Gerste, Raps und Sonnenblumenöl eine führende Rolle.

Die Ukraine ist einer der grössten Weizenexporteure der Welt

Weizenexporte in Millionen US-Dollar im Jahr 2020

Weil die Schwarzmeerhäfen umkämpft oder besetzt sind, kann momentan nicht mehr exportiert werden, und auch die neue Aussaat im März dürfte weitgehend ausfallen. Wegen der Sanktionen wird auch der weltweit grösste Weizen- und Düngemittelexporteur Russland seine Ausfuhren reduzieren müssen.

Die Angst vor Versorgungsengpässen hat die Preise an den internationalen Agrarmärkten auf Rekordhöhe getrieben. Am schwersten trifft dies Länder wie Libanon, Jemen oder Somalia, wo bereits Versorgungsengpässe bestehen.

Der Weizen wird knapp, der Preis ist gestiegen

Internationaler Weizenpreis (KC HRW Wheat Futures) im Jahr 2022 in Dollar, zum Vergleich der Durchschnittspreis im Jahr 2019

1

Der Weizenpreis ist bereits im Vorjahr gestiegen, unter anderem wegen schlechterer Ernten.

2

Invasion der Ukraine durch Russland (24. Februar 2022)

Auch dem Luftverkehr setzt der Krieg zu. Zwischen Europa und Fernost müssen Fluggesellschaften grosse Umwege fliegen, weil der riesige russische Luftraum für sie gesperrt ist. Flugzeiten und Kerosinverbrauch erhöhen sich damit deutlich. Das wird den erhofften Aufschwung in der gebeutelten Branche bremsen. Die Kundinnen und Kunden müssen höhere Preise bezahlen.

Die hohen Treibstoffpreise haben auch negative Auswirkungen auf die Transportkosten per Schiff, auf der Strasse oder in der Luft. Das wird weltweit zu einem Preisanstieg der meisten Güter führen.

Der Swiss-Flug LX161 von Tokio nach Zürich muss nun eine neue Route fliegen

Der Swiss-Flug LX161 von Tokio nach Zürich muss nun eine neue Route fliegen

An den Energiemärkten herrscht seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine Aufregung. Auch wenn russische Erdöl- und Erdgaslieferungen noch keinen Sanktionen unterliegen, meiden Abnehmer diese bereits. Weil die Organisation erdölexportierender Länder (Opec) nicht zur Erhöhung der Produktion bereit ist, steigen die Preise. Vor allem in Deutschland, Italien und anderen europäischen Ländern, die stark von russischen Gasimporten abhängig sind, geht die Angst vor schmerzhaften Engpässen um.

Die rekordhohen Rohstoffpreisen bekommen auch die Bürger direkt zu spüren. Sei es an der Tankstelle, bei der Stromrechnung oder den Heizkosten. Die Nebenkostenabrechnungen dürften bis zu 50 Prozent höher ausfallen als üblich.

Am meisten werden jene Haushalte leiden, die mit Gas heizen. Einige deutsche Politiker fordern gar, ganz auf russisches Gas zu verzichten, um Putin zu bremsen – und zur Not eben frieren. Das sorgt für Diskussionen.

So entwickelt sich der Heizölpreis in der Schweiz

Heizölpreis im Jahr 2022 in Franken pro 100 Liter, zum Vergleich der Durchschnittspreis aus dem Jahr 2019

1

Invasion der Ukraine durch Russland (24. Februar 2022)

Der Konflikt mit Moskau macht es für den Westen dringend, sich aus der Abhängigkeit von russischen Öl-, Gas- und Kohlelieferungen zu befreien. Echte Autarkie bieten vor allem Sonne, Wind und Wasserkraft, weshalb viele Länder nun auf den beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien setzen. In Reaktion auf den Krieg haben viele EU-Staaten angekündigt, mehr in Solar- und Windparks zu investieren und die oft langwierigen Genehmigungsverfahren zu verkürzen.

Allerdings braucht der Ausbau der erneuerbaren Energien Zeit und kann kurzfristig kaum eine Alternative zu Putins Öl und Gas bieten. In den kommenden Jahren wird es nicht möglich sein, ganz auf fossile Brennstoffe zu verzichten. Um russisches Gas und Öl zu ersetzen will Belgien den Ausstieg aus der Atomkraft hinausschieben. Deutschland überlegt seinerseits, Kohlekraftwerke länger am Netz zu lassen.

Weitherum besteht die Sorge, dass sich die Energiewende verzögert und es schwieriger wird, die Klimaziele zu erreichen. Umweltpolitiker mahnen bereits, dass die Hinwendung zu Flüssiggas neue langfristige Abhängigkeiten schaffe. Zudem droht sich der Westen auf der Suche nach alternativen Gaslieferanten an andere Autokraten zu binden, wie Katar, die Emirate oder Saudiarabien.

Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck auf heikler Mission im Golfemirat und Petrostaat Katar.

Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck auf heikler Mission im Golfemirat und Petrostaat Katar.

AP

Der Ukraine-Krieg droht andere Krisen und Konflikte zu verdrängen: Länder wie Afghanistan, Äthiopien oder Myanmar drohen ganz vergessen zu werden. Auch für Syrien und Jemen, wo dringend mehr internationales Engagement zur Beendigung der Bürgerkriege gefordert wäre, verheisst der neue Kalte Krieg mit Russland nichts Gutes.

Die humanitäre Hilfe für andere Konflikte ist chronisch unzureichend. Eine Geberkonferenz für Jemen endete Mitte März enttäuschend, da nur 1,7 Milliarden Dollar zugesichert wurden. Benötigt würden dieses Jahr 4,3 Milliarden. Zudem sind noch immer Millionen Syrer und Afghanen auf der Flucht und weiterhin auf Hilfe angewiesen.

Da viele westliche Staaten ihre Militärausgaben erhöhen, droht eine Kürzung der Entwicklungshilfe. Die Folge könnte eine Destabilisierung bereits fragiler Staaten und der Ausbruch neuer Konflikte sein.

Theoretisch könnte China durch den Krieg an Bedeutung gewinnen. Denn China hat den grössten Einfluss auf Russland. Die USA und Europa drängen Partei- und Staatschef Xi Jinping daher, er möge auf Russland einwirken, den Krieg zu beenden. Doch wer glaubt, China werde zum Vermittler, überschätzt die diplomatischen Fähigkeiten Chinas und missversteht seine strategische Ausrichtung.

Angetrieben von tiefem Misstrauen gegenüber den USA, hat Xi sich auf die Seite Putins geschlagen. Aktive Kriegshilfe vermeidet er zwar, um nicht selbst von den westlichen Sanktionen getroffen zu werden, doch politisch steht er ihm zur Seite.

Doch der Seiltanz wird immer gefährlicher für Xi. In Europa hat das Bewusstsein, wie verletzlich die wirtschaftliche Abhängigkeit von Autokratien macht, zugenommen. Auch in Ländern Ost- und Mitteleuropas, die sich China angenähert hatten, hat Peking Vertrauen verspielt. Chinas Wischiwaschi-Haltung zur Ukraine hat ihm nur geschadet und gezeigt: China ist noch nicht bereit für die Rolle einer führenden Grossmacht.

source site-111