Die Geschichte von Murat Yakin

Murat Yakin musste lange warten, bis er Schweizer war. Jetzt wählt er aus, wer für das Land Fussball spielen darf.

Wer wissen möchte, wie Murat Yakin geworden ist, wie er ist, stellt sich am besten einen Esstisch vor. Einen grosszügig gedeckten Esstisch in einer Basler Wohnung Mitte der siebziger Jahre. Es gibt Bohnengerichte, Kichererbsen, Reis, Salat und Joghurt. «Ich wuchs in einer Grossfamilie auf, es gab für jeden etwas zu essen, und jeder teilte», sagt Yakin. Mutter Emine kocht gern und gut und den ganzen Tag. Alles hat seine Ordnung. Jeder hat seinen Platz, jeder schaut für den anderen. So ist Murat Yakin erzogen worden. Aber idyllisch ist es im Haus Yakin nicht.

Emine hat acht Kinder, sieben Söhne und eine Tochter, von zwei verschiedenen Vätern. Der eine Vater ertrinkt in einem See, der andere verlässt die Familie. Die Mutter muss die Kinder allein durchbringen.

Murat Yakins Halbbruder Ertan sagt: «Die Voraussetzungen für ein gutes Leben waren eigentlich miserabel.»

Murat Yakin, 48-jährig, wurde am 9. August 2021 Schweizer Fussball-Nationaltrainer. Ab diesem Wochenende nimmt er in Katar zum ersten Mal an einer Weltmeisterschaft teil. Fussball-Nationaltrainer ist das prestigeträchtigste Amt im Schweizer Sport. Er ist nie nur Coach, sondern auch ein Abbild seiner Zeit. Wem ein Land die wichtigste Mannschaft anvertraut, dem gesteht es Macht und Einfluss zu und macht ihn gesellschaftlich sichtbar. Yakin ist der 29. Coach der Schweizer Fussballgeschichte und der erste Secondo, der die Nationalmannschaft trainiert. Er musste lange warten, bis er Schweizer wurde. Jetzt entscheidet er, wer für die Schweiz spielen darf.

Wie hat er das gemacht?

Yakin ist ein Schweizer, wie er vielen Schweizern gefällt: erfolgreich und wohlhabend, ein guter Jasser und ein guter Skifahrer. Und so, wie sich die wenigsten Schweizer zu sein trauen: glamourös und nonchalant, einer, der das Leben leicht nimmt und sich mit 17 sein erstes Auto kauft, obwohl er noch gar nicht fahren darf.

Yakin ist beides: angepasst und auffällig. Er wird in der kleinen Schweiz akzeptiert und bedient ihre Sehnsucht nach der grossen Welt. Vor allem steht er für einen urschweizerischen Leistungsgedanken: Wer wirklich will, schafft es auch. Auch wenn der Start ins Leben noch so schwierig ist. Heute sagt Yakin: «Ich bin ein Siegertyp. Ich umgebe mich gern mit Menschen, die etwas erreichen wollen.»

Das Leben in der Grossfamilie

Dass Murat Yakin in der Schweiz geboren wird, ist Zufall. Er hätte auch Australier werden können. Seine Mutter Emine und ihr erster Mann Hüseyin Hüsnü Irizik wollen Anfang der siebziger Jahre aus der Türkei nach Australien auswandern, entscheiden sich aber anders. Sie lassen ihre sechs Kinder bei den Grosseltern zurück und kommen 1970 in die Schweiz. Damals leben eine Million Ausländer im Land, mehr als die Hälfte Italiener, nur 12 000 sind aus der Türkei. Es ist die Zeit der Überfremdungsinitiativen, bald beginnt eine Wirtschaftskrise. Die meisten türkischen Einwanderer arbeiten in der Industrie, der Gastronomie und der Textilverarbeitung. Emine ist zunächst Schneiderin in St. Gallen, später Krankenpflegerin in Visp. 1972 ändert sich ihr Leben von einem Tag auf den anderen.

Hüseyin Hüsnü Irizik stirbt betrunken im Genfersee. Emine erfährt zehn Tage später von seinem Tod. Sie ist plötzlich allein, bleibt aber in der Schweiz und heiratet bald erneut: Mustafa Yakin, einen Schweisser aus Basel. Emine holt ihre sechs Kinder aus der Türkei zu sich, so im Spätsommer 1974 auch den 10-jährigen Ertan. Als er aus Istanbul in die Schweiz kommt, weiss er nicht, dass sein Bruder Murat am 15. September 1974 auf die Welt gekommen ist. Fünf Tage nach seiner Geburt sieht ihn Ertan zum ersten Mal. Drei Jahre später wird Hakan Yakin geboren. Am Ende wohnen die Yakins zu neunt in einer Wohnung in Muttenz.

Ertan Irizik, 57-jährig, ist Murat Yakins Halbbruder, doch das Wort Halbbruder mag er nicht. «So etwas gibt es bei uns nicht. Murat ist mein Bruder.» Seit mehr als dreissig Jahren lebt er in der Ostschweiz. Früher war er auch Profifussballer, heute arbeitet er als Küchenbauer.

Ertan Iriziks Start in der Schweiz war schwierig, er musste Deutsch lernen, sich einer fremden Kultur anpassen und durfte die ursprüngliche nicht vergessen. Er erzählt, wie die Yakins in den Ferien mit dem Zug nach Istanbul reisten, 24 Stunden dauerte die Fahrt. Als sie aus Basel losfuhren, hatten sie Säcke voller Kleider dabei, und als sie wieder zurückkamen, brachten sie Taschen mit getrockneten Auberginen und Peperoni mit. Aber Ertan Irizik erzählt auch andere Geschichten.

Die Yakins hatten keinen Festnetzanschluss fürs Telefon und kein Auto. Wenn sie mit dem Tram einkaufen gingen, waren das Grosseinkäufe für eine Fussballmannschaft. Immer wieder mussten sie in Basel umziehen, weil sie den Nachbarn zu laut waren und die Wohnung zu klein war für so viele Leute. Emine und Mustafa Yakin stritten oft, sie flüchtete ins Frauenhaus und nahm die Kinder mit. Als Murat in den Kindergarten kam, sprach er kein Wort Deutsch.

Es gibt nicht viele Menschen, die Murat Yakin so geprägt haben wie der grosse Bruder Ertan Irizik. Früh nahm er Hakan und Murat auf den Fussballplatz mit, obwohl Vater Mustafa das nicht gern sah. «Die sollen zur Schule, nicht auf den Fussballplatz!» Wie begabt Murat und Hakan waren, will Ertan schon erkannt haben, als er ihnen in der Stube einen Ball zuwarf – «wie sie hinstanden, wie sie ihn zurückspielten». Bald blieb ihr Talent niemandem verborgen, Murat und Hakan traten den Junioren von Concordia Basel bei, beide fielen auf, Murat früh schon mit einem harten Schuss und dem Sinn fürs Spiel.

Als Mustafa Yakin 1982 ins Wallis ging, keine Alimente mehr zahlte und aus dem Leben der Familie verschwand, lebten die Yakins von Sozialhilfe. Ertan übernahm die Vaterrolle und wurde zu Murats Vorbild. Noch heute spricht er ihn mit «Abi» an, das bedeutet auf Türkisch älterer Bruder und drückt Respekt aus. Auch beruflich folgte Murat seinem grossen Bruder. Er machte seine Lehre als Metallbauzeichner beim gleichen Betrieb wie Ertan, brach sie aber ab. Als Ertan Mitte der achtziger Jahre aus Basel wegzog, übernahm Murat seine Rolle. Als 12-Jähriger ging er an die Elternabende seines jüngeren Bruders Hakan, weil Mutter Emine kein Deutsch sprach. Mit ihr suchte er in den Zeitungen nach Stelleninseraten für Putzjobs.

Murat Yakin ist dank dem Fussball reich geworden. Viele meinen, dies sei der Grund, warum er sich im Leben so wenig Sorgen mache. Ertan Irizik glaubt das nicht. «Murat hat als Kind so viel Schwieriges erlebt, da kann kommen, was will.» Aber Irizik sagt auch: «Murat war früher stärker als ich. Er musste sich seinen Platz weniger erkämpfen, weil er von Anfang an in der Schweiz war.»

Die «Weltwoche» schrieb einmal über Yakin: «Der Schweizer Fussball-Nationaltrainer ist derzeit auch darum Everybody’s Darling, weil er ein rundum geglücktes Beispiel helvetischer Integrationspolitik manifestiert.» Aber Yakin findet, die Journalisten wiesen zu oft auf seinen Migrationshintergrund hin. Auch sein Bruder Ertan sagt, die Yakins würden noch heute «in eine Ecke gedrängt». Wenn die Zeitungen vom «Yakin-Clan» schreiben, stört ihn das. Bis 1960 kam das Wort Clan im Deutschen fast nicht vor. Mit den Jahren bekam es immer stärker eine negative Färbung. Eine Studie aus Deutschland zeigt, dass der Begriff meistens im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität verwendet wird. Die Yakins sind eine Grossfamilie. Sie besteht aus über sechzig Menschen aus vier Generationen, vom 2-jährigen Urenkel bis zur 89-jährigen Emine.

Aber in den vergangenen Jahren haben sich immer mehr Menschen an die Familie angehängt: Kollegen, Berater, Agenten, Bekannte, mit denen Murat Yakin Geschäfte macht und Häuser kauft. Kaum einer weiss genau, wo die Familie aufhört und Murat Yakins Netzwerk anfängt. Yakin lässt die Menschen nahe an sich heran, er hat Beziehungen von der kleinsten Dorfmannschaft bis zum grössten Spitzenklub. Er kennt die unwichtigen Präsidenten und die wichtigen Spieler. Yakin steht nicht nur für den Schweizer Fussball. Er ist der Schweizer Fussball.

Wie Yakin zum Star und Schweizer wurde

Bis Murat Yakin Schweizer wurde, dauerte es allerdings zwanzig Jahre. Seine Einbürgerung war Anfang der neunziger Jahre ein Politikum. Bundesrat Adolf Ogi soll sie als Angelegenheit von «erheblichem nationalem Interesse» bezeichnet haben. Diese Geschichte wird gern erzählt. Ein Bundesrat, der sich persönlich für einen der besten Fussballer einsetzt – das hört sich gut an. Ogi reagiert überrascht, als er damit konfrontiert wird, fast dreissig Jahre später. «Dieses Dokument müssen Sie mir zeigen», sagt er. Und in der Tat: Ein solches Dokument gibt es nicht. Die Geschichte geht anders.

Es ging darum, ob Yakin auf dem Weg zum Schweizer Pass bevorzugt behandelt werden soll. Dagegen gab es Widerstand. «Vor dem Gesetz sind alle gleich. Das sollte auch bei Einbürgerungen gelten», stellte Rudolf Keller, ein Baselbieter Nationalrat der Schweizer Demokraten, im Oktober 1993 in einem Fragetext an den Bundesrat fest. Er fragte unter anderem, ob das Einbürgerungsgesuch von Murat Yakin mithilfe von Bundesräten bevorzugt behandelt werden solle oder worden sei.

Der damalige Bundespräsident Ogi antwortete im Namen des Bundesrates, es könne «in Ausnahmefällen, insbesondere dann, wenn ein erhebliches öffentliches Interesse besteht, zutreffen, dass Einbürgerungsgesuche beschleunigt behandelt werden». Zu Yakin stand ein einziger Satz: «Bei Murat Yakin erfolgte keine beschleunigte Behandlung.»

Aber es eilte. Der Nationaltrainer Roy Hodgson wollte Yakin möglichst schnell in die Vorbereitung der Weltmeisterschaft 1994 integrieren. Dafür musste er Schweizer sein. Und so bürgerte der Kanton Baselland Hakan und Murat Yakin im Januar 1994 ein, in einem beschleunigten Verfahren, gegen den Widerstand von Keller.

Über seine Haltung zu Yakins Einbürgerung möchte Keller heute nicht mehr reden. Er schreibt auf Anfrage, er mache seit einiger Zeit keine Politik mehr und werde auch nie mehr Interviews zu politischen Fragen geben.

An die WM 1994 schaffte es Murat Yakin trotzdem nicht. Kurz zuvor hatte ihm ein Assistenztrainer der Schweizer Nationalmannschaft vorgeworfen, er habe mit Teamkollegen zu lange an der Bar gesessen. «Bis halb zwölf, eine halbe Stunde nach Bettruhe», sagt Yakin heute. «Aber wir hatten nur miteinander geredet und ein Bierchen getrunken, fertig.»

Die Episode liegt lange zurück. Sie beschäftigt ihn nicht mehr, sie hat ihn aber auch damals kaum beschäftigt. So ist Yakin: Entweder findet er sich damit ab, was ist, und schweigt. Oder er sagt, was er denkt. Das war schon immer so. Als Teenager war er zu GC gewechselt, und als er noch nicht einmal 21 Jahre alt war, hatte ihn der GC-Trainer Christian Gross kritisiert, er strenge sich zu wenig an. Yakin sagte dazu in einem Interview in der «Sonntags-Zeitung»: «Mein Inneres kennt er nicht. Sonst würde er nicht denken, ich würde nicht den letzten Einsatz bringen. (. . .) Der Trainer kennt mich nicht, weil er mir nicht zuhört und weil ich nicht bereit bin, mich ihm zu öffnen. (. . .) Ich bin mir bewusst, dass ich meinem Trainer gegenüber kritisch bin. Aber wenn er mich kritisiert, kann ich ihn auch kritisieren.»

Es sind Bilder von Yakin, die haftenblieben: das des Rebellen und das des phlegmatischen Spielers. Sie prägten sein Image, und er legte keinen Wert darauf, es zu korrigieren.

Yakin gab zu, gern in den Ausgang zu gehen. Er verkroch sich nicht in die hinterste Ecke einer Kneipe, er ging ins Kaufleuten nach Zürich und hatte keine Angst, dort gesehen zu werden. Yakin dachte nie lange nach, warum er etwas machte, er tat es intuitiv, auf dem Platz und neben dem Platz.

Auch sonst war er wenig diplomatisch. Beim Abgang von Fenerbahce Istanbul 1999 sagte er: «Irgendwann war der Moment da, wo mir auch ein Vertragsbruch nichts mehr ausmachte.» Andreas Brehme, seinen Trainer in Kaiserslautern, bezeichnete Yakin «als den unfähigsten Trainer, den ich je kennengelernt habe».

Murat Yakin absolvierte viel weniger Spiele, als in einer Karriere von anderthalb Jahrzehnten möglich gewesen wären. Er war oft verletzt und immer wieder zu schwer. Einmal sagte er, seine Ernährung sei daran schuld gewesen, zu viel Zucker habe seinen Körper vergiftet. Aber er schuf bleibende Momente: für die Grasshoppers ein Tor aus 40 Metern zum Sieg gegen Ajax Amsterdam; für den FC Basel ein Kopftor gegen Celtic Glasgow, das die erste Champions-League-Teilnahme brachte. So ist Yakin als Spieler in Erinnerung. Vor allem aber stand er für Furchtlosigkeit gegenüber Autoritäten – und für die Art, mit der er Konflikte austrug und gleich wieder vergass.

Die Weltmeisterschaft 2006 verpasste er erneut, diesmal, weil er verletzt war. Aber in die Diskussionen um die Nationalmannschaft mischte er sich doch ein. Als der Trainer Köbi Kuhn das WM-Kader bekanntgab, fehlte zuerst Hakan Yakin. Worauf Murat in der Gratiszeitung «Heute» schrieb, er hege den Verdacht, sein Bruder sei «weggemobbt» worden von einer «Anti-Yakin-Fraktion». So viel Verletzlichkeit kehrte Yakin nur nach aussen, wenn sich etwas gegen die Familie richtete.

«Ich blende die Gefühle zu meinem Bruder einmal völlig aus», hatte er im ersten Satz geschrieben. Kaum jemand glaubte, dass er dazu in der Lage sei.

Aber seine Trainerkarriere zeigte: Er war es doch.

Yakins andere Seite

Als Murat Yakin 2011 zum FC Luzern ging und der Trainer seines Bruders war, sagten viele Experten voraus, er werde Hakan anders behandeln als die übrigen Spieler. Aber auch Hakan musste sich unterordnen, nach nur einem halben Jahr verliess er den Klub wieder. Als Trainer kann Murat Yakin erbarmungslos sein.

Einem Spieler sagte Yakin in der Halbzeitpause, wenn er sein Bein in einem Zweikampf noch einmal zurückziehe, mache er ihn kaputt.

Als ihn ein Spieler in einem internen Chat kritisierte, sagte er: «Die eine Hälfte kann nicht lesen, die andere Hälfte versteht es nicht.»

Er wisse nicht, welche Medikamente er nehme, sagte Yakin zu einem Journalisten, «aber nimm ein bisschen weniger».

Yakin steht zu seiner Härte, er sagt: «Wenn du in einer Gruppe Erfolg und Harmonie haben willst, müssen alle Charaktere das Positive in die Mannschaft geben, nicht das Negative. Sonst muss ich einschreiten, es ist mein Job, das nimmt mir keiner ab.» Er nimmt sich zwar immer Freiheiten heraus, aber wenn es darauf ankommt, wenn es ums Gewinnen oder Verlieren geht, zählt nur die Disziplin. So spielen seine Mannschaften auch Fussball. Wie in einer Grossfamilie, in der jeder seinen Platz hat.

Yakin sei ein Wolf im Schafspelz, sagte der Fussballmanager Erich Vogel, einer seiner grossen Förderer, einst und meinte damit: Yakins Charme und Jovialität überstrahlen seine Strenge. Das eine geht nicht ohne das andere. Daran haben sich seine Begleiter und die ganze Schweizer Fussballwelt gewöhnt. «Typisch Muri» ist zu einem geflügelten Wort geworden. Er geht als Meistertrainer in die Provinz zum FC Schaffhausen? Typisch Muri. Er nominiert für die WM 2022 nur zwei Aussenverteidiger, keinen Ersatz? Typisch Muri. Er geht wenige Wochen nach der Trennung vom FC Basel als erster und bisher einziger Schweizer Trainer nach Russland, zu Spartak Moskau? Typisch Muri.

Warum Moskau? Der Präsident von Spartak sei persönlich nach Zürich gekommen. Sie hätten sich am Flughafen getroffen und sich gegenseitig Geschichten erzählt. «Und als er mir den Satz sagte: ‹Schau, bei mir ist ein Trainer Gott›, dachte ich einen Moment nach – okay, anderswo bist du eher der Bettler.»

Aber Yakin ist ein höflicher Gott.

Wenn er mit der Nationalmannschaft tagelang unterwegs ist, versucht er jedem Spieler jeden Morgen die Hand zu schütteln. Das hat er von seinem Bruder gelernt. Es gebe vier Sachen, die man können müsse, sagt Ertan Irizik. «Sie kosten nichts und machen 50 Prozent des Erfolgs aus.» Welche vier Sachen? «Danke, bitte, grüezi, adieu.»

Yakin, wie ihn niemand kennt

Anja und Murat Yakin sind seit zwanzig Jahren ein Paar, und seit zwanzig Jahren hängt sie seine Jacken an den Bügel. Wenn er heimkommt ins Haus in der Nähe von Zürich, wirft er seine Jacke irgendwohin, und Anja räumt hinter ihm her. Bei ihr muss alles stimmen, sie stellt Blumen und Duftkerzen auf, die Kissen auf dem Sofa sind streng in einer Linie ausgerichtet. Er funktioniert ganz anders: In Murat Yakins Fussballmannschaften muss Ordnung sein, zu Hause nicht unbedingt.

Das Familienleben organisiert Anja Yakin. Die Yakins sind verheiratet und haben zwei Töchter, acht und zehn Jahre alt. «Murat ist chaotisch. Aber er denkt immer mit. Wenn ich ihm sage, um Viertel vor vier musst du vor der Schule stehen, steht er pünktlich dort. Darauf kann ich mich verlassen.» Es zieht sich durch Murat Yakins Leben: Wenn etwas wichtig ist, wenn es um die Familie geht oder ein Fussballspiel zu gewinnen ist, ist er bereit. Sonst sieht er nicht ein, weshalb er sich mehr anstrengen sollte als nötig. Wenn seine Frau nicht daheim ist, kann er sich zur Not ein türkisches Omelett kochen. Aber wenn sie da ist, überlässt er das Kochen lieber ihr. Anja Yakin sagt: «Murat ist ein ruhiger, gemütlicher Mensch, der aus dem Minimum das Maximum machen kann.» Wenn er nach einer Entlassung heimgekommen sei, habe ihn das nicht lange beschäftigt. So funktioniert Yakin: Es ist, wie es ist, und wenn es vorbei ist, ist es vorbei. Morgen kommt wieder etwas Gutes.

Ihr Mann sei trotz seinem Erfolg demütig geblieben, sagt Anja Yakin. Allüren habe er keine. Aber er mag schöne Dinge, Kleider oder Uhren. Früher besass er auch einmal einen Ferrari, inzwischen fährt er mit dem Mini herum, den er seiner Frau zu einem Hochzeitstag geschenkt hat. «Ich habe so Sorge getragen zu diesem Auto, und er fährt ihn wild wie einen Gokart.»

Anja Yakin arbeitete als Reisefachfrau, im Marketing und als Yogalehrerin und nahm an einer Miss-Schweiz-Wahl teil. Als sie Murat an einem Nachtessen mit Freunden in Zürich kennenlernt, ist sie 19 Jahre alt. Sie weiss nicht, wer Yakin ist, und fragt einen Freund: «Fussballer? Kann er damit Geld verdienen?»

Für Fussball interessiert sie sich immer noch nicht besonders, für die Fussballer aber schon. Als Yakin Trainer in Basel war, erstellte sie Horoskope für seine Spieler und sagte ihm, dass er mit einem Menschen, der im Sternzeichen Fisch geboren sei, anders reden müsse als mit einem Löwen. Yakin war skeptisch, aber er hörte zu, auch als seine Frau Horoskope für die Schweizer Nationalspieler anfertigte. Zuhören könne er gut, sagt Anja Yakin, bloss unter Druck setzen lasse er sich nicht, «darauf reagiert er nicht».

Yakin kann sich auf Dinge einlassen, die ihm fremd sind. Die grössere Tochter kann mit Sport nicht viel anfangen, sie geht lieber in Bibliotheken, und er geht mit. Von ihr hat er sich auch erklären lassen, wer der russische Komponist Tschaikowsky ist, über den sie in der Schule einen Vortrag hielt. Für die Schule ist Anja Yakin zuständig, er brachte den Kindern Schwimmen und Schachspielen bei. Einmal fragte ihn eine Tochter bei einer Rechenaufgabe um Rat, weil er gut in Mathematik ist. Er fing an, ihr den ganzen Weg bis zur Lösung der Aufgabe zu erklären. Er tat es so ruhig und geduldig, dass ihn die Tochter nach ein paar Minuten wegschickte. Es ging ihr alles zu langsam.

Wenn die Familie zusammen im Wohnzimmer sitzt, ist meistens der Fernseher eingeschaltet, und es läuft Fussball. Sie reden zwar miteinander, aber mit einem Auge schielt Murat Yakin auf den Bildschirm und meint, dass die anderen es nicht merken. «Er macht das recht geschickt», sagt seine Frau. Ein bisschen schummeln, ohne erwischt zu werden: Auch das ist Murat Yakin.

So liebevoll, wie er mit seiner Mutter umgehe, gehe er auch mit ihr um, sagt Anja Yakin. «Es gibt nichts, was er seiner Mutter abschlägt, und er schlägt auch mir nichts ab.» Zu seiner Mutter Emine hat Yakin immer noch eine enge Beziehung. Für ihn bleibt sie das Oberhaupt der Familie. Wenn es ihre Gesundheit erlaubt, geht sie heute noch in die Stadien zu den Spielen ihres Sohnes.

Beziehungen sind Yakins grosse Stärke und seine grosse Schwäche. Er kann Menschen für sich einnehmen, aber wenn sie etwas von ihm wollen, kann er schlecht Nein sagen. «Er kann es bei den Freunden nicht, er kann es bei den Mädchen nicht, und er kann es bei mir nicht. Er ist gutmütig», sagt Anja Yakin. Er macht vieles mit und fühlt sich immer wohl, so scheint es zumindest – als Gast im «Donnschtig-Jass», am Töggelikasten mit dem «Blick»-Reporter, aber auch in einer Bar in Zürich. Wo er auftaucht, passt er hin, die Leute wundern sich nicht einmal, wenn der Nationaltrainer in den Raum kommt und «Grüezi» sagt.

Murat Yakin hat gelernt, sich überall zurechtzufinden. Zwei Wochen bevor die Schweizer Nationalmannschaft ihr erstes Spiel an der WM gegen Kamerun spielt, steht er vor dem Bundeshaus in Bern. Der Schweizerische Fussballverband dreht einen Werbefilm mit ihm. Yakin sagt: «Zusammen wollen wir Geschichte schreiben für dieses schöne, vielseitige Land.»

Yakin, der Bundesrat des Fussballs.

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