Die Muslimbruderschaft erlebt ihre tiefste Krise

Zehn Jahre nach dem Sieg von Mohammed Mursi bei der Präsidentenwahl in Ägypten befinden sich die Muslimbrüder an einem Tiefpunkt. Geschwächt durch die Repression des Regimes, ringt die älteste islamistische Bewegung der Welt um ihren Kurs.

Ein Palästinenser macht 2019 ein Selfie vor einem Plakat von Mohammed Mursi: Der Muslimbruder war keine charismatische Figur, doch vielen Islamisten galt er als Hoffnungsträger.

Ibraheem Abu Mustafa / Reuters

Als die ägyptische Wahlkommission am 24. Juni 2012 den Sieg von Mohammed Mursi bei der Präsidentschaftswahl verkündete, brach auf dem Kairoer Tahrir-Platz unter den Anhängern der Muslimbruderschaft Jubel aus. Anderthalb Jahre nach den Protesten des Arabischen Frühlings hatte sich der Kandidat der islamistischen Bewegung knapp gegen den Vertreter des Militärs durchgesetzt. Für die Muslimbrüder bedeutete dies einen historischen Triumph: 84 Jahre nach ihrer Gründung hatten sie ihr Ziel erreicht – nicht mit Gewalt, sondern durch die Macht der Urnen waren sie an die Spitze des Staates gelangt.

«Heute sieht die ganze Welt, dass ihr die Quelle aller Macht seid», rief Mursi am Abend den Wählern zu. Den Christen, Frauen und säkularen Ägyptern, welche die Ausrufung eines Scharia-Regimes fürchteten, versicherte der 60-Jährige: «Wir haben alle die gleichen Rechte und Pflichten gegenüber unserem Heimatland. Ich aber habe keine Rechte, nur Pflichten.» Das Militär akzeptierte zähneknirschend seine Niederlage: Noch am selben Tag entsandte es die Präsidentengarde an Mursis Haustür, um ihn zum Palast zu eskortieren.

Zehn Jahre später erscheint sein Wahlsieg jedoch weniger als historische Zäsur denn als Fussnote der Geschichte. Denn die Herrschaft der Muslimbrüder währte nur kurz, und nach einem katastrophalen Jahr an der Macht wurde Mursi vom Militär gestürzt. Von Anbeginn hatte die Armee Mursis Politik hintertrieben, doch erwiesen sich die Islamisten auch als unfähig, den politischen Wandel konstruktiv zu gestalten und Ägypten durch die wirtschaftlichen Turbulenzen zu steuern.

Durch ihr autoritäres und ausgrenzendes Verhalten brachten sie die anderen Parteien rasch gegen sich auf. Nach einem Jahr waren sie entzaubert, und ihr Ruf als volksnahe und integre Kraft war dahin. Als das Militär sich zum Putsch entschloss, war die Muslimbruderschaft isoliert. Heute ist sie in Ägypten als Terrororganisation verboten. Ihre Strukturen sind zerschlagen, ihr Vermögen konfisziert, ihre Führung gespalten, und viele ihrer Anhänger sind in Haft, im Exil oder tot.

Das Trauma von 2013 prägt sie bis heute

Wie konnte es so weit kommen? Und was bedeutet das für die älteste islamistische Bewegung der Welt? Ausser Frage steht, dass die Muslimbrüder die grösste Krise ihrer Existenz durchleben. Und das soll etwas heissen: Denn seitdem die Ikhwan al-Muslimun 1928 von dem Lehrer Hassan al-Banna in Ismailia gegründet wurden, haben sie schon manche Krise erlebt. Die schlimmste Repression machten sie in den 1950er Jahren durch, als nach einem gescheiterten Attentat auf Präsident Gamal Abdel Nasser Zehntausende in Kerkern landeten.

Unter Anwar al-Sadat wurden die Muslimbrüder zwar wieder geduldet, und in den 1980er Jahren erlaubte Hosni Mubarak ihnen sogar, als Unabhängige zu den Parlamentswahlen anzutreten. Mit der Duldung des Staates konnte die Bewegung auch ihr Netz an Schulen, Kliniken und anderen sozialen Einrichtungen ausbauen. Doch gab es auch immer wieder Phasen der Repression. Für viele ihrer Kader blieben Festnahme, Folter und Gefängnis wiederkehrende Erfahrungen.

Die Repression der letzten Jahre übertrifft jedoch alles bisher Erlebte. Nachdem am 3. Juli 2013 der damalige Verteidigungsminister Abdelfatah al-Sisi Präsident Mursi gestürzt hatte, machte er rasch klar, dass er keinen Widerstand dulden würde. In den folgenden Wochen ging die Armee mit aller Härte gegen Mursis Anhänger vor. Ihren Höhepunkt erreichte die Repression im August 2013 mit der gewaltsamen Räumung des Protestlagers der Muslimbrüder auf dem Kairoer Rabaa-Platz.

Der Putsch von General Sisi gegen Präsident Mursi führte im Sommer 2013 in Kairo und in anderen Städten zu wochenlangen Protesten, die das Militär jedoch blutig niederschlagen liess.

Der Putsch von General Sisi gegen Präsident Mursi führte im Sommer 2013 in Kairo und in anderen Städten zu wochenlangen Protesten, die das Militär jedoch blutig niederschlagen liess.

Mohamed Abd El Ghany / Reuters

Das Regime hat die Proteste in Blut erstickt

Bei dem Blutbad wurden mehr als 800 Demonstranten vom Militär getötet, einige Schätzungen gehen von über 1000 Toten aus. Es war das grösste Massaker in der jüngeren Geschichte Ägyptens, doch wurden auch in den Wochen davor und danach bei Strassenprotesten Hunderte getötet. Gleichzeitig liess das Regime Zehntausende von Muslimbrüdern festnehmen, unter ihnen der Grossteil ihrer Führung. In Massenprozessen, die allen rechtsstaatlichen Standards hohnsprachen, wurden in den folgenden Jahren Hunderte von Kadern zum Tode verurteilt.

Noch im September 2013 wurden die Ikhwan als Terrororganisation eingestuft und verboten. Ihre Vermögenswerte wurden konfisziert, und die Schulen, Spitäler und anderen Einrichtungen der Bewegung wurden geschlossen. Zehntausende Kader flohen ins Exil nach Katar, in die Türkei und nach Europa oder gingen in Ägypten in den Untergrund. Die Repression führte zur Radikalisierung eines Teils der Basis und löste eine heftige Debatte über den Kurs der Bewegung aus.

Für viele Junge war Gewalt gegen das Regime legitim. Die alte Garde fürchtete dagegen, dass die Bewegung in einem offenen Konflikt mit dem Staat aufgerieben würde.

Während die Führung an ihrer Strategie des friedlichen Aktivismus festhielt, befürworteten viele jüngere Mitglieder den Einsatz von Gewalt. Das Massaker auf dem Rabaa-Platz bewies aus ihrer Sicht die Aussichtslosigkeit von friedlichen Protesten. Für sie war Gewalt in dieser Situation nicht nur legitim, sondern überhaupt das einzige mögliche Mittel. Die alte Führung fürchtete dagegen, dass die Organisation in einem offenen Konflikt mit dem Staat aufgerieben würde.

Nicht nur das Scheitern des Aufstands der syrischen Muslimbrüder 1980 diente ihnen als warnendes Beispiel. Das Regime von Hafis al-Asad hatte den Aufstand in der Stadt Hama brutal niedergeschlagen und die Bewegung in Syrien fast völlig ausgelöscht. Auch die Zerschlagung der islamistischen Gruppen in Ägypten, die in den 1990er Jahren den Staat mit einer Serie blutiger Anschläge herausgefordert hatten, bewies aus Sicht der alten Garde, dass Gewalt keinen Erfolg haben kann.

Ein ambivalentes Verhältnis zur Gewalt

Der Streit reicht weit in die Geschichte der Ikhwan zurück. Ihr Verhältnis zu Gewalt war immer ambivalent. Zwar hatte ihr Gründer Hassan al-Banna zur Errichtung eines islamischen Staats auf politische Partizipation und Propaganda gesetzt. Schon unter ihm gab es aber einen geheimen Apparat, der Anschläge verübte. Während der Repression unter Nasser entbrannte dann ein heftiger Richtungsstreit zwischen dem damaligen Führer Hassan al-Hudaibi und dem Ideologen Sayyid Qutb, der aus der Haft heraus einen gewaltsamen Kurs propagierte.

Am Ende setzte sich zwar die Führung mit ihrer Strategie von Reformen statt Revolution und Kompromissen statt Konfrontation durch. Die Befürworter eines gewaltsamen Jihad wurden innerhalb der Bewegung marginalisiert oder ganz ausgeschlossen. Doch nach dem Putsch 2013 flammte die Debatte wieder auf. Das radikale Lager unter Führung des Arztes Mohammed Kamal argumentierte, dass das Sisi-Regime illegitim sei und Gewalt gegen seine Vertreter daher religiös zulässig.

Schon lange wird darüber debattiert, ob die Muslimbrüder mit ihrer Ideologie zur Radikalisierung beitragen oder vielmehr ein Abgleiten ihrer Mitglieder in die Gewalt verhindern.

Unter Forschern belebte die Entwicklung die alte Debatte, ob die Muslimbruderschaft eher das Abgleiten ihrer Sympathisanten in den Terrorismus verhindert oder mit ihrer Ideologie zur Radikalisierung beiträgt. Der Politologe Marc Lynch argumentiert dabei, dass sie lange sehr wohl eine Brandmauer gegen Gewalt dargestellt habe. Nach 2013 sei dies aber nicht mehr der Fall gewesen, da sie nicht länger eine ideologisch und strukturell kohärente Bewegung dargestellt habe.

Tatsächlich hatte die Führung kaum noch Kontrolle über die Basis, nachdem ein Grossteil ihrer Kader in Haft oder im Exil gelandet war. Da die alte Garde keine Antwort auf die Repression fand, kam es zur offenen Spaltung. Zwar organisierte sich die Führung im Exil in Istanbul neu, doch konnte sie nicht verhindern, dass das Lager von Kamal in Ägypten für mehrere Jahre die Kontrolle übernahm. Erst seine Tötung durch die Sicherheitskräfte im Oktober 2016 brach seine Macht.

Die Strategie der Gewalt ist gescheitert

Die offizielle Führung der Ikhwan musste auch mit anschauen, wie der radikale Flügel der Muslimbrüder im Kampf gegen das Regime einen Schulterschluss mit jihadistischen Gruppen vollzog. Ab 2013 spaltete sich eine Reihe von radikalen Gruppen ab, die offen Gewalt propagierten und Anschläge auf Polizeiposten und Militäreinrichtungen verübten. Oft wurden die Anschläge als Vergeltung für die Folter in den Gefängnissen präsentiert. Besonders der systematische Einsatz sexueller Gewalt gegen die Muslimschwestern sorgte für Empörung.

Anhänger der pakistanischen Partei Jamaat-i-Islami beten für Mohammed Mursi: Sein Tod während einer Gerichtsverhandlung im Juni 2019 machte ihn für viele Islamisten zum Märtyrer.

Anhänger der pakistanischen Partei Jamaat-i-Islami beten für Mohammed Mursi: Sein Tod während einer Gerichtsverhandlung im Juni 2019 machte ihn für viele Islamisten zum Märtyrer.

Imago

Letztlich blieb die Mehrheit der Muslimbrüder aber bei ihrer Ablehnung von Gewalt – umso mehr, als sich abzeichnete, dass die Splittergruppen mit ihren Anschlägen die Macht des Regimes nicht würden brechen können. Bei der Ablehnung der Gewalt spielten neben einem negativen Kosten-Nutzen-Kalkül auch das traditionelle Selbstverständnis der Muslimbrüder als gewaltlose Bewegung eine Rolle sowie die ablehnende Haltung der etablierten Führung.

Heute haben sich die Befürworter der Gewaltlosigkeit in der Bewegung wieder durchgesetzt. Allerdings bietet die Absage an Gewalt noch keine Antwort auf die Frage nach der Strategie in Zeiten der Repression. Die Debatte über den Kurs der Bewegung hält daher an. Erst im vergangenen Herbst kam es zu einem ungewöhnlich offen ausgetragenen Konflikt zwischen dem amtierenden Führer Ibrahim Mounir in London und dem Generalsekretär Mahmud Hussein in Istanbul.

Während Hussein die Finanzen und Satellitensender der Muslimbrüder kontrollierte, repräsentierte Mounir die Bewegung nach aussen. Als er nach der Festnahme des bisherigen Führers Mahmud Ezzat im September 2020 zu seinem Nachfolger gewählt worden war, galt er als Strohmann von Hussein. Doch im Oktober 2021 erklärte Mounir den Generalsekretär und fünf weitere Mitglieder des Shura-Rats für suspendiert. Diese verkündeten daraufhin, Mounir sei abgesetzt.

Opfert die Türkei die Muslimbruderschaft?

Laut dem Experten Khalil al-Anani zeigt der Streit die tiefe Spaltung der Bewegung und wirft zahlreiche Fragen zu ihrer Zukunft auf. Heute sei die Bruderschaft nicht nur ideologisch, sondern auch organisationell gespalten. Die Führung der einst so geeinten Bewegung sei über die Türkei, den Sudan, Katar, Malaysia und Grossbritannien verstreut. Sie habe keine Strategie, um in Ägypten aus der Isolation zu kommen oder die Freilassung der Zehntausenden von inhaftierten Mitgliedern zu erreichen. Auch der regionale Kontext sei nicht hilfreich.

Tatsächlich droht ihr der Verlust ihrer Basis in Istanbul. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte die Muslimbrüder nach Mursis Sturz entschieden unterstützt und rund 11 000 ihrer Anhänger Zuflucht gewährt. Inzwischen bemüht sich Ankara aber, das Verhältnis zu Kairo zu kitten. Nach der Wiederaufnahme der diplomatischen Kontakte im April 2021 wies Ankara die Satellitensender der Muslimbrüder in Istanbul an, ihre Kritik an Sisi zu mässigen.

Nach einem Besuch Erdogans bei Sisis Verbündetem Saudiarabien gab der Ikhwan-Sender Mekamelin im März bekannt, seinen Betrieb in Istanbul einzustellen. Der prominente Muslimbruder Yasser al-Omda erklärte zudem, die Türkei habe ihn nach einem Aufruf zum Sturz von Sisi zum Gehen aufgefordert. Kairo gibt sich damit aber nicht zufrieden und beharrt auf der Schliessung aller Sender der Muslimbrüder. Der Druck auf ihre Anhänger in der Türkei dürfte daher weiter steigen.

Die Aussichten auf eine Erholung sind ungewiss

In dieser Situation stellt sich die Frage, ob die Muslimbruderschaft wird überleben können. Noch sei es zu früh, einen Nachruf auf die Bewegung zu verfassen, schrieben die Forscherinnen Lucia Ardovini und Erika Biagini in einem kürzlich veröffentlichten Artikel. Sie habe schon andere Phasen der Repression überstanden und sich als äusserst resilient erwiesen. Dass die Jugend und die Frauen gegen die alte Führung aufbegehrten, könne auch eine Chance sein und zu neuen Formen des Aktivismus sowie zu neuen Allianzen führen.

Rosig sind die Aussichten aber nicht. Heute wirken die Freudenfeiern nach dem Wahlsieg von Mohammed Mursi wie aus einer anderen Zeit. Seine so kurze wie katastrophale Präsidentschaft erscheint im Rückblick als vertane Chance – für die Demokratie in Ägypten, aber auch für die Muslimbruderschaft. Mursi selbst hat bereits den Preis dafür bezahlt: Nach seinem Sturz war er von Sisi ins Gefängnis geworfen worden. Als er am 17. Juni 2019 vor Gericht auftrat, brach er während der Anhörung zusammen. Kurz darauf starb er im Spital.

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