Die Nagra und das Endlager

Seit fünfzig Jahren bohrt die Nagra Löcher in den Schweizer Boden. Doch ein Tiefenlager für radioaktive Abfälle ist bis heute nicht gebaut. Früher versenkte man den Atommüll einfach im Meer. Ein Blick zurück.

Wohin mit dem Atommüll? Anlage für schwachradioaktive Abfälle am Eidgenössischen Institut für Reaktorforschung in Würenlingen im Jahr 1982.

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Selten ist ein Satz eines Nobelpreisträgers so schlecht gealtert wie jener von Werner Heisenberg. «Was den Atommüll betrifft, so genügt es, ihn in einer Tiefe von drei Metern zu vergraben, um ihn vollkommen unschädlich zu machen», sagt der deutsche Physiker 1955. Schön wär’s. Der Abfall des Atomzeitalters bleibt uns erhalten: Was während weniger Jahrzehnte angehäuft wird, strahlt noch jahrtausendelang bedrohlich weiter.

Dabei befassen sich die Experten schon seit Heisenbergs Zeit mit dem Problem. An den internationalen Atomkonferenzen in Genf Mitte der 1950er Jahre wird euphorisch die friedliche Nutzung der Kernkraft bejubelt, aber auch bereits über die Lagerung der gefährlichen Spaltprodukte diskutiert. Einfach ins Meer damit? Oder ins unwirtliche Hochgebirge? «Die Ansicht herrscht vor, dass es besser wäre, diese Stoffe an Orten unterzubringen, wo sie kontrolliert werden können – zum Beispiel in unbenützten Tunnels oder alten Bergwerken –, bis man etwas mehr Erfahrung über deren Verhalten gesammelt hat», berichtet eine Zeitung. Die Weltgesundheitsorganisation denkt 1956 bereits über die Errichtung internationaler Sperrzonen nach. Und die NZZ rechnet 1958 vor: «In 42 Jahren wird die Menge radioaktiver Abfälle – gemäss Schätzungen des Weltbedarfs für friedlich genutzte Atomkraft für das Jahr 2000 – jedes Jahr 40 000 Hektaren Land als ‹Abfallgrube› erfordern.»

An phantastischen Vorschlägen fehlt es nicht. Der Münchner Physiker Bernhard Philberth will den Atommüll als Bomben über den Polargebieten abwerfen, wo sich die Geschosse durch die abgestrahlte Wärme von allein immer tiefer in das Eis eingraben würden. 1960 berichtet das «Volksrecht» bewundernd über Philberth: «Er denkt daran, dass ein Atommeiler einen Flugzeugstartplatz und ein Spezialflugzeug besitzt, um die Abfälle in mit Blei abgeschirmten Kabinen in Form von Bomben direkt nach Grönland zu befördern.» Auch das All wird jahrelang als Deponie geprüft. Die amerikanische Weltraumbehörde Nasa will noch Anfang der 1970er Jahre den radioaktiven Abfall mit Raketen aus unserem Sonnensystem befördern. Doch es wäre zu kostspielig – und vor allem zu gefährlich: nicht auszudenken, wenn es beim Start oder kurz danach zu einem Unfall käme!

Klappe auf, Müll raus

In der Schweiz wird die Entsorgungsfrage zum Politikum, als ab Ende der 1960er Jahre die ersten AKW gebaut werden und in Betrieb gehen. Zuvor galt die bundesrätliche Devise: «Das Problem ist nicht sehr dringend, da es keine grossen Mengen an Abfall gibt.» Vor allem die Reaktorsicherheit war der heikle Punkt. Nun soll auch beim Atommüll gehandelt werden. 1972 wird die Nagra gegründet, die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle. Beteiligt sind die Eidgenossenschaft sowie die grossen Stromkonzerne, die ein AKW betreiben oder planen. Der Auftrag der Nagra ist unmissverständlich: die «Errichtung und der Betrieb von Lagern für radioaktive Abfälle und der dazu notwendigen Anlagen».

Nach der Reaktorsicherheit wird auch die Abfallfrage zum Politikum: Luftaufnahme der Baustelle des AKW Beznau II vom November 1968.

Nach der Reaktorsicherheit wird auch die Abfallfrage zum Politikum: Luftaufnahme der Baustelle des AKW Beznau II vom November 1968.

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Es beginnt die Endlosgeschichte eines Endlagers in der Schweiz. In Stollen und Kavernen, Hunderte von Metern unter der Erde, sollen die in Fässer einbetonierten Abfälle einst versenkt werden, damit sie keinen Schaden mehr anrichten. Und das kann sehr lang gehen, Jahrhunderte, Jahrtausende, vielleicht auch eine Million Jahre. Es sind Deponien für die Ewigkeit: Getrennt von allem Lebendigen, eingeschlossen in wasserundurchlässiges Wirtgestein, geschützt vor Erosion, Erdbeben oder Explosionen.

Doch zunächst kann die Schweiz die Entsorgungsfrage bequem auslagern. Die abgebrannten Brennstäbe werden in die Wiederaufbereitungsanlagen nach La Hague im Nordwesten Frankreichs sowie nach Sellafield an der Irischen See geschafft. Die Verträge der Schweizer AKW-Betreiber sehen keine Rücknahme der hochaktiven Abfälle vor, erst Ende der 1970er Jahre wird sich die Praxis ändern. Und auch für die schwach- und mittelradioaktiven Abfälle, die in der Schweiz anfallen, gibt es anfangs eine günstige Methode, die man im Ausland abgeschaut hat: die «Verklappung» auf hoher See. Klappe auf, Atommüll raus – aus den Augen, aus dem Sinn.

Ab 1969 fährt die Eidgenossenschaft Fässer voll einbetoniertem strahlendem Material mit Güterzügen durch Europa, verschifft sie in den Niederlanden und versenkt sie im Nordatlantik. Als im Parlament 1972 kritisch nachgefragt wird, beschwichtigt der Bundesrat: «Die radioaktiven Abfälle gelangen in unzerstörter Verpackung auf den Meeresboden, und diese Art Beseitigung bleibt gefahrlos, auch bei einer späteren Korrosion der Behälter und allmählicher Vermischung der Abfälle mit Wasser.» Die Schweiz hält auch noch an der umstrittenen Praxis fest, als Staaten wie Deutschland, Frankreich oder Schweden längst Abstand genommen haben.

Brisante Fracht: Fässer mit radioaktiven Abfällen werden 1976 mit der Bahn in die Niederlande gebracht, wo sie verschifft und im Nordatlantik versenkt werden.

Brisante Fracht: Fässer mit radioaktiven Abfällen werden 1976 mit der Bahn in die Niederlande gebracht, wo sie verschifft und im Nordatlantik versenkt werden.

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Erst die spektakulären Aktionen der Umweltorganisation Greenpeace sorgen für öffentlichen Druck. Auch die spanische Regierung, vor deren nordwestlicher Küste die Fässer versenkt werden, protestiert gegen die Ozeanverschmutzung. Als 1983 ein freiwilliges Moratorium beschlossen wird, hat die Schweiz 7420 Fässer entsorgt, 5321 Tonnen schwer. Bis zum endgültigen Verbot im Jahr 1993 lässt sich die Schweiz die Option weiter offen. Noch 1991 sagt der damalige Energieminister Adolf Ogi im Parlament, «umfassende wissenschaftliche Abklärungen» hätten ergeben, dass die versenkten Abfälle zu keiner Gefährdung von Lebewesen geführt hätten. «Es wäre deshalb falsch, heute aus politischen Gründen endgültig auf die Möglichkeit der Meeresversenkung zu verzichten.»

«Gesucht: Idiotengemeinde»

Die Nagra schaut derweil bereits auf eine zwanzigjährige Geschichte zurück. Die Suche nach dem passenden Gestein und dem perfekten Standort für ein Endlager hat viel Aufruhr, aber wenig Zählbares gebracht. Zuerst fahndet man erfolglos nach grösseren Salzvorkommen. Dann interessiert man sich für das Gestein Anhydrit und wird in drei Gemeinden fündig – in Airolo im Tessin, im waadtländischen Bex und im aargauischen Wabrig. Zwischen 1973 und 1975 werden erste Probebohrungen durchgeführt.

Es zeigt sich dort, was künftig zum Standard wird, wenn die Nagra irgendwo auftaucht: Es formiert sich heftiger Widerstand. Die Bevölkerung befürchtet, die Sondierung führe direkt zu einem Endlager. Billigen Strom wollen alle, aber niemand will den dabei produzierten Abfall vor der Haustür. «Gesucht: Idiotengemeinde für Atommülldeponie», heisst es auf einem Banner von Anti-AKW-Aktivisten auf dem Bundesplatz.

Wo die Nagra auftaucht, gibt es Widerstand: Nidwaldner Bürger demonstrieren 1988 gegen den geplanten Sondierstollen am Wellenberg.

Wo die Nagra auftaucht, gibt es Widerstand: Nidwaldner Bürger demonstrieren 1988 gegen den geplanten Sondierstollen am Wellenberg.

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Die Nagra und die AKW-Betreiber geben sich dennoch zweckoptimistisch. Im 1978 publizierten Bericht «Die nukleare Entsorgung in der Schweiz» betonen sie: «Aufgrund der heutigen Kenntnisse steht fest, dass für jeden Endlagertyp mindestens eine geeignete Gesteinsformation vorhanden ist.» Bis 1985 sei mit einem Endlager zu rechnen, heisst es. Der Unternehmer Michael Kohn, «Atompapst» genannt, bezeichnet die Abfallbeseitigung als rein politisches Problem: «Ich halte es vom Stand der Technik her gesehen für gelöst.»

Der Bundesrat bleibt ebenfalls zuversichtlich. «Eine Technik, die Mondflüge ermöglicht, sollte eher früher als später auch dieses Problem bewältigen können», sagt 1978 der damalige Energieminister Willi Ritschard. Aber die Politik macht nun auch Druck auf die Nagra. Bei der Revision des Atomgesetzes fliessen die Anliegen der AKW-Gegner mit ein. So wird künftig «die Rahmenbewilligung für Kernreaktoren nur erteilt, wenn die dauernde, sichere Entsorgung und Endlagerung der aus der Anlage stammenden radioaktiven Abfälle gewährleistet ist».

Für die Nagra bedeutet das, dass sie bis 1985 einen Entsorgungsnachweis erbringen muss. Im Projekt «Gewähr» stürzt sie sich neu auf das kristalline Gestein – wie es das Vorbild Schweden vorgemacht hat. Man baut das Felslabor Grimsel, um Experimente durchzuführen. 1980 stellt die Nagra Gesuche für Bohrungen und Messungen in zwölf Gemeinden in den Kantonen Solothurn, Aargau, Zürich und Schaffhausen. Wiederum ist der Protest gross: 527 Einsprachen gehen ein. Als die Bohrer dann endlich ansetzen können, stellt man fest, dass die geologischen Formationen viel komplexer sind als gedacht. Der Granit der Nordschweiz ist zum Teil überlagert von einem sogenannten Permokarbontrog. Und er ist stark zerklüftet, also untauglich als Tiefenlager für hochradioaktive Abfälle.

Die Nagra baut das Grimsel-Felslabor, um Experimente im kristallinen Gestein durchzuführen.

Die Nagra baut das Grimsel-Felslabor, um Experimente im kristallinen Gestein durchzuführen.

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Für ein Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle macht die Nagra drei weitere Standorte ausfindig: den Oberbauenstock im Kanton Uri, den Piz Pian Grand in Graubünden und den Bois de la Glaive im waadtländischen Ollon. Diesmal gehen 3000 Einsprachen gegen Bohrgesuche ein. Im Winzerdorf Ollon vertreiben später aufgebrachte Bauern mit Mistgabeln die Nagra-Männer.

In die Wüste Gobi?

Rudolf Rometsch, der Präsident der Nagra, ist ein Meister der Schönfärberei. Er sagt 1980: «Wenn die Abfälle so verpackt sind, wie dies die Nagra tut, nehme ich sie unter mein Bett.» Und sein oberster PR-Mann erklärt: «Ich hätte nichts dagegen, ein Häuschen über einem Endlager zu bauen.»

Atommüll unter dem Bett lagern: der Nagra-Präsident Rudolf Rometsch bei einer Bohrstelle im aargauischen Riniken, 1983.

Atommüll unter dem Bett lagern: der Nagra-Präsident Rudolf Rometsch bei einer Bohrstelle im aargauischen Riniken, 1983.

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Die AKW-Kritiker, unter ihnen die Schweizerische Energie-Stiftung, fordern den Abbruch der Übung oder zumindest den Beizug international bekannter Experten. 1985 präsentiert die Nagra schliesslich fristgerecht ihren 3000-Seiten-Bericht. Sie kommt zu dem Schluss, dass Endlager «für Mensch und Umwelt zu keiner Zeit eine Gefährdung» darstellen würden, selbst unter Annahme der «pessimistischsten Voraussetzungen, die überhaupt denkbar sind». Auch ein Comic wird gedruckt, das Nagra-Männchen trägt einen Handbohrer.

Doch es fehlt weiterhin die Beschreibung von Standorten und der Geologie der künftigen Lagerstätten. Die Nagra kann die bundesrätliche Auflage im Grunde nicht erfüllen, was besonders die politische Linke skandalisiert. Doch mit viel Goodwill lässt es die Landesregierung dabei bewenden – und die Reaktoren bleiben am Netz. Eduard Kiener, Chef des Bundesamts für Energiewirtschaft, erklärt, die AKW müssten nur stillgelegt werden, «wenn sicher gezeigt werden könnte, dass die Endlagerung der Abfälle unmöglich ist».

Angesichts der Misserfolge im Inland liebäugelt die Politik weiter mit einer Auslandstrategie. Angebote gibt es: 1979 bietet die argentinische Militärjunta der Schweiz Verhandlungen über eine Endlagerung der radioaktiven Abfälle an. Die Argentinier, die ein eigenes Atombombenprogramm lanciert haben, sind an der Extraktion von Plutonium aus den abgebrannten Brennelementen interessiert. Man kommt – auch auf Druck der USA – nicht ins Geschäft.

Anfang 1984 erhält die Schweiz ein Angebot von China, das ebenfalls radioaktive Abfälle zur Wiederaufbereitung und Endlagerung übernehmen will. Der Atommüll soll in der Wüste Gobi entsorgt werden. Der Bundesrat hält einschränkend nur fest: «Selbstverständlich könnte sich unser Land nicht an internationalen Lagern beteiligen, wenn Zweifel an der Erfüllung der Sicherheitsanforderungen bestünden.» 1986 wird ein Abkommen unterzeichnet, das den Austausch von «Nukleargütern» für friedliche Zwecke ermöglichen soll. Doch zu einem Atommüll-Deal kommt es nicht. Noch 1997 erklärt die Landesregierung aber: «Internationale Lösungen für Endlager hochradioaktiver Abfälle könnten sowohl aus sicherheitstechnischen als auch aus ökonomischen Überlegungen durchaus sinnvoll sein.»

Bei den Plänen für ein Schweizer Endlager sind ab den späten 1980er Jahren die Tongesteine in den Vordergrund gerückt, besonders der Opalinuston, das neue Zaubergestein. Im Mont Terri bei Saint-Ursanne wird ein weiteres Felslabor geschaffen. 2006 anerkennt der Bundesrat den Entsorgungsnachweis der Nagra für ein Lager mit hochradioaktiven Abfällen im Opalinuston. Vier Jahre später hält die Regierung fest: «Der in der Nordschweiz vorliegende Opalinuston mit einer Mächtigkeit von rund 100 Metern besitzt ein sehr hohes Rückhaltevermögen für radioaktive Stoffe, was die Wahl dieser Gesteinsformation als bevorzugtes Wirtgestein rechtfertigt.»

Mehr erfahren über den Opalinuston im Untergrund: seismische Messungen in der Gemeinde Benken im Zürcher Weinland.

Mehr erfahren über den Opalinuston im Untergrund: seismische Messungen in der Gemeinde Benken im Zürcher Weinland.

Christoph Ruckstuhl / NZZ

Nach dem direktdemokratischen Scheitern eines Endlagerprojekts im Wellenberg in Nidwalden hat sich die Nagra seit Ende der 1990er Jahre auf Standorte im Zürcher Weinland und im Aargauer Bözberg sowie auf die Region Nördlich Lägern im Zürcher Unterland fokussiert. Die Proteste der Bevölkerung sind geblieben. Und sie werden andauern, gerade in der Gemeinde Stadel in Nördlich Lägern, die von der Nagra nun definitiv auserkoren worden ist. Gemäss den Plänen der Nagra, deren Suche bisher über 1,7 Milliarden Franken gekostet hat, soll das Tiefenlager frühestens 2050 in Betrieb genommen werden. Bis dahin lagern die radioaktiven Abfälle des Landes weiterhin in strahlensicheren Behältern im oberirdischen Zwischenlager in Würenlingen – rund 100 000 Kubikmeter Atommüll, ungefähr das Volumen der Zürcher Bahnhofshalle.

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