Die Schlacht um Charkiw: Wie sie verlaufen ist

Während 200 Kilometer weiter weg die heftigsten Kämpfe toben, drängt die Ukraine bei Charkiw die Angreifer immer mehr zurück. Das könnte für Russland zum Problem werden.

Die erwartete Begrüssung mit Blumen blieb aus, als Teile der russischen 1. Garde-Panzerarmee Charkiw erreichten. Drei Monate leisteten ukrainische Verteidiger erbitterten Widerstand, bis sie schliesslich das russische Militär immer weiter zurückdrängen konnten – an gewissen Stellen bis zur Landesgrenze. Nach Kiew scheitert Putins Armee – so sieht es gegenwärtig zumindest aus – auch an der zweitgrössten ukrainischen Stadt.

Mit dem Rückschlag der Invasoren verliert Russland nicht nur den Zugang zu einer wirtschaftlich bedeutenden Metropole. Gleichzeitig rücken jene Strassen und Eisenbahnlinien, über welche die eigenen Truppen im Osten mit Nachschub versorgt werden, in Artillerie-Reichweite der Ukrainer. Die Ereignisse um Charkiw könnten selbst die gegenwärtigen Kämpfe an der Ostfront beeinflussen.

Anhand verschiedener Datenquellen zeigen wir die Phasen der Schlacht um Charkiw, wieso Russland bisher an der Eroberung der Millionenstadt scheiterte und wo der Angreifer nun selbst zum Angegriffenen werden könnte.

Der misslungene Angriff: die ersten Tage des Krieges

Der Krieg beginnt im Morgengrauen. Am 24. Februar gegen 5 Uhr, so sagt es der ukrainische Grenzschutz, überquert die russische Armee die Landesgrenze. Eine Überwachungskamera zeigt einen Konvoi mit Panzern, Lastwagen und Geländewagen, die langsam an der Zollstelle vorbeifahren. Sie scheinen keine Gegenwehr zu erwarten, die Panzerbesatzung sitzt ungeschützt auf ihren Fahrzeugen.

Die ersten Panzer rollen über die ukrainische Grenze.

Staatlicher Grenzschutzdienst der Ukraine

Von der Grenze nach Charkiw ist es ein Katzensprung. Die Fernstrasse M-20 führt fast schnurgerade ins Herz der Millionenstadt. 45 Minuten dauert die Fahrt mit dem Auto. Wann die russischen Truppen auf erste Gegenwehr stiessen, lässt sich nicht genau eruieren. Ein Video, das am gleichen Tag veröffentlicht wird, zeigt zwei ausgebrannte Militärfahrzeuge bereits rund 6 Kilometer nach der Grenze.

Doch noch kommt Putins Armee schnell vorwärts, Soldaten dringen sogar bis an den Stadtrand vor. Verbürgt ist: Dort dreht zumindest ein Teil des Konvois nach links und besetzt eine wichtige Einfahrtsstrasse im Nordosten der Stadt. Erste Videos werden um 7 Uhr 02 von Autofahrern auf Twitter publiziert und zeigen Soldaten und Panzer an einer Kreuzung.

Hier wurden russische Truppen gesichtet

Hier wurden russische Truppen gesichtet

Vermutlich endete hier der russische Vorstoss am ersten Kriegstag. Bilder, die wenige Stunden später von derselben Kreuzung veröffentlicht wurden, zeigen verlassene Schützenpanzer. Im Hintergrund schwarzer Rauch, ein Fahrzeug scheint zu brennen.

Nach tagelangem Artilleriefeuer und verschiedenen Angriffen unternimmt Russland am vierten Tag einen erneuten Versuch, ins Herz der Stadt vorzustossen. Dieser Angriff ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Erstens deuten Daten darauf hin, dass danach kein russisches Fahrzeug der Innenstadt mehr so nahe kam. Zweitens zeigt das Vorgehen, dass Russland selbst nach vier Tagen Krieg den ukrainischen Verteidigungswillen immer noch unterschätzt.

Der Angriff erfolgt erneut im Morgengrauen. Nur leicht gepanzerte, dafür schnelle Tigr-Geländewagen und Lastwagen fahren mit hoher Geschwindigkeit von Nordwesten der Stadtgrenze Richtung Innenstadt. Das zeigen verschiedene Videos, die zwischen 6 Uhr 42 und 7 Uhr 07 veröffentlicht werden. Im Hintergrund sind Schüsse zu hören.

Fahrzeuge des Typs Tigr und Lastwagen fahren in die Innenstadt von Charkiw.

Später tauchen weitere Aufnahmen mit Fahrzeugen des gleichen Typs in der Innenstadt sowie in der Nähe des Sokilniki-Flughafens auf. Laut der englischen Zeitung «The Independent» mit Berufung auf das ukrainische Militär war das Rathaus das Ziel. Russische Marinesoldaten und tschetschenische Kämpfer hätten die Regierung entführen sollen. Sie hätten das Gebäude jedoch leer vorgefunden.

Zum Zusammenstoss kommt es schliesslich rund 2 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Vier Tigr-Fahrzeuge werden von ukrainischen Soldaten beschossen. Ein Strassenkampf entbrennt. Russische Soldaten flüchten aus ihren Fahrzeugen und suchen in der Schule 134 Schutz, so heisst es in den sozialen Netzwerken, und dies belegen auch Videos, die später veröffentlicht werden.

Russische Soldaten fliehen aus ihren Fahrzeugen und suchen Schutz in der Schule 134.

«Wir haben sie gejagt, und sie flüchteten in die Schule. Es gab für sie keinen Weg hinaus», sagt Oleg Posohow, Hauptfeldwebel des ukrainischen 226. kosakischen Freiwilligenbataillons gegenüber «The Independent». Auch eine Rettungsaktion der Russen scheiterte. Verschiedene Videoaufnahmen aus einem Wohnquartier zeigen, wie ein Konvoi – vermutlich jener, der zur Unterstützung in die Stadt geschickt wurde – orientierungslos um die Wohnblöcke herumzirkelt.

Ein russischer Konvoi in einem Wohnquartier an der Schewtschenkostrasse in Charkiw. Ob es sich um die gleichen Fahrzeuge wie im Norden der Stadt handelt, ist unbekannt.

Videoaufnahmen, die später veröffentlicht wurden, zeigen das Schulhaus fast bis auf die Mauern niedergebrannt. Davor liegen Leichen. An der Uniform eines toten russischen Soldaten prangt das Sankt-Georgs-Band. Früher wurde es in Gedenken an den Deutsch-Sowjetischen Krieg getragen. Seit der Annexion der Krim tragen es Unterstützer von Putin.

Damit kommt Russland auch am vierten Kriegstag dem Regierungsgebäude und damit der Kontrolle über die Stadt keinen Schritt näher. Wieso scheiterte die vermeintliche russische Übermacht an Charkiw?

Einer der Gründe: falsche Geheimdienstinformationen. Die Mehrheit der Einwohner von Charkiw spricht Russisch, die Stadt ist stark durch den Nachbarn geprägt. Russlands Geheimdienste scheinen eine gewaltlose Übergabe der Stadt erwartet und den Verteidigungswillen der Ukrainer unterschätzt zu haben. Aber auch das Gelände könnte eine Rolle gespielt haben, wieso die Stadt ihren Angreifern so lange standhalten konnte.

Die Strasse vom Norden führt durch Wälder, im Osten über offene Felder

Die Strasse vom Norden führt durch Wälder, im Osten über offene Felder

Die Strasse aus Russland verzweigt sich kurz vor der Stadt. Der direkte Weg wie der Abzweiger nach Osten führen durch ein Waldstück ohne Fluchtwege. Panzer sind Angriffen aus dem Dickicht schutzlos ausgeliefert. Die Zufahrtsstrasse aus dem Westen wird für die Verteidiger strategisch günstig flankiert von Hügeln und Wäldern.

Später versuchten die russischen Truppen, sich von Osten her Zugang zur Stadt zu verschaffen. Die einzige Zufahrtsstrasse, welche aus russisch besetztem Gebiet in die Stadt führt, verläuft flach an Landwirtschaftsflächen vorbei. Ein Angriff in der Breite ist nur über offenes Terrain möglich. Es besteht die Gefahr, dass die schweren Fahrzeuge in der nassen Erde stecken bleiben.

Die Zerstörung: drei Monate lang Granatenregen

Der Sturm auf Charkiw ist vorerst abgewehrt, und Russland wechselt die Strategie: Was nicht eingenommen werden kann, wird zerstört.

Einen Tag nach der Schiesserei in der Schule schlagen Granaten in eine Wohnsiedlung im Norden der Stadt ein. Verschossen wird von der internationalen Gemeinschaft geächtete Streumunition, wie Videoaufzeichnungen vermuten lassen. Die Geschosse platzen in der Luft auf und verteilen ihre explosive Ladung über eine weite Fläche. Zielen ist damit nur begrenzt möglich – und auch nicht erwünscht. Möglichst viel Schaden sollen diese Angriffe anrichten. Videos zeigen das Ergebnis: Leichen liegen zwischen ihren Einkäufen auf der Strasse. Neun Personen kommen ums Leben. Eine Familie mit zwei Kindern verbrennt lebendig in ihrem Auto, wie «The Guardian» schreibt. Human Rights Watch wird den Angriff später als mögliches Kriegsverbrechen bezeichnen.

Seitdem verging kaum ein Tag, an dem keine Granaten einschlagen. Bis Ende April seien mehr als 2000 Gebäude beschädigt oder zerstört worden, sagt Oleh Sinehubow, Gouverneur der Oblast Charkiw, gegenüber dem «Guardian». Das Ergebnis der wochenlangen Belagerung zeigen auch Daten von Masae Analytics, einem Unternehmen, das sich auf satellitengestützte Analysen spezialisiert hat. Wie Radarmessungen vor und während des Angriffs zeigen, blieb kaum ein Stadtteil von der Zerstörung verschont.

Beschädigte oder zerstörte Häuser anhand von Satellitendaten

Der Rückschlag: Erfolge der letzten Wochen

Erste erfolgreiche Gegenangriffe der Ukrainer beginnen im April. Um den 26. April seien Soldaten in Ruska Losowa eingetroffen, sagen Einwohner gegenüber der «New York Times». Es ist nicht die erste Gemeinde um Charkiw, aus der die russische Armee vertrieben wird, aber eine der wichtigen. Das Dorf mit seinen rund 5000 Einwohnern liegt nördlich von Charkiw auf einer Anhöhe. 16 Kilometer trennen Haubitzen und Stadtzentrum. Nach der Rückeroberung von Ruska Losowa muss sich Russlands Artillerie Dorf für Dorf weiter von Charkiw zurückziehen. Im Mai schliesslich dringen ukrainische Verbände entlang des Flusses Donez innerhalb von wenigen Tagen fast bis zur russisch-ukrainischen Grenze vor.

Die neue Frontlinie verläuft nun rund 25 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Charkiw ist damit schon fast ausser Reichweite der herkömmlichen russischen Artillerie. «In den letzten fünf Tagen wurde die Stadt nicht mehr beschossen», sagt ihr Bürgermeister am 14. Mai gegenüber der BBC.

Ganz zur Ruhe kommt Charkiw indes noch nicht, in den letzten Tagen schlugen wieder russische Raketen in die ukrainische Millionenstadt ein. Die ukrainische Gegenoffensive bleibt trotzdem bemerkenswert. Was hat dazu geführt?

Da wären acht Jahre Planung zu nennen. Seit der Annexion der Krim hat sich die ukrainische Armee auf eine mögliche Invasion vorbereitet. Während in Charkiw russische Granaten einschlugen, konnte die ukrainische Armee dem Angreifer herbe Verluste zuführen. Manche russische Einheiten, wie etwa die 200. motorisierte Schützenbrigade, soll, inklusive ihres Befehlshabers, fast gänzlich zerstört worden sein. Auch die 25. motorisierte Schützenbrigade soll solche Verluste erlitten haben, dass sie nach Belgorod zurückverlegt werden musste.

Besonders die Artillerie hat sich als schlagkräftige Waffe gegen die Besatzer erwiesen. Verschiedene Videos zeigen, wie die ukrainische Armee an Zielgenauigkeit zugelegt hat – und wieso westliche Artilleriegeschütze ganz oben auf ihrer Wunschliste stehen. Mitte Mai etwa schoss russische Artillerie aus dem Vorgarten einer Villa in Pitomnik in Richtung Charkiw. Ein Video zeigt die ukrainische Antwort in Form von Konterartillerie-Feuer. Manche der Soldaten können sich ins Gebäude retten, die ukrainischen Granaten treffen Munition und lösen ein Feuer aus. Andere Videos zeigen zerstörte russische Konvois und russische Panzer auf der Flucht.

Aber auch ungewöhnliche Angriffsmethoden der Ukrainer zermürben den Feind. Mehrere Videos aus dieser Region zeigen handelsübliche Drohnen, die Granaten auf Soldaten abwerfen. Der Schaden, der damit angerichtet werden kann, hält sich zwar in Grenzen, die überraschenden Angriffe aus der Luft können jedoch die Moral der russischen Truppen schwächen.

Wie es weitergehen könnte

Die Kämpfe fokussieren sich momentan um Rubischne und Starizja. Beide Ortschaften liegen am Fluss Donez, der gegen Osten den Frontverlauf bildet. Der ukrainische Gegenschlag ist ins Stocken geraten, wohl auch, weil Russland wieder mehr Truppen in die Region um Charkiw verlegt. Charkiw einzuverleiben, ist wohl kaum mehr ein Ziel der russischen Armee. Der Streifen nördlich von Charkiw bleibt jedoch strategisch von Bedeutung. Denn stünden ukrainische Panzer an der ukrainisch-russische Landesgrenze, könnten diese Russland gleich mehrfach in Bedrängnis bringen.

Zu nennen ist etwa eine für Russland wichtige Eisenbahnverbindung. Ausgehend von Belgorod, liefert diese Nachschub – Munition, Panzer, Essen – im Osten des Donez bis an die Ostfront, und damit ins Epizentrum der gegenwärtigen Gefechte. Rund 20 Kilometer trennen die Eisenbahnlinie von den zurückeroberten Gebieten der Ukrainer. Das liegt je nach Munition noch im Bereich von vielen von den Ukrainern eingesetzten Haubitzen aus sowjetischer Produktion.

Je nach Geschütz und Munition könnte die Ukraine bis nach Belgorod schiessen

Je nach Geschütz und Munition könnte die Ukraine bis nach Belgorod schiessen

Aber ukrainische Haubitzen könnten auch Ziele in Russland selbst ins Visier nehmen. Zwischen der internationalen Grenze und Belgorod liegen verschiedene russische Stützpunkte. Und selbst die Stadt Belgorod, könnte – als erste russische Stadt – den Krieg direkt zu spüren bekommen. Kann die Ukraine bis zur Grenze vorstossen, trennen Belgorods Stadtzentrum und ukrainische Kanonen nur rund 35 Kilometer. Die von den Amerikanern und den Kanadiern gelieferten M777-Geschütze erreichen mit der GPS-gesteuerten Präzisionsmunition Excalibur eine Reichweite von rund 50 Kilometern. Noch weiter schiessen die von Joe Biden versprochenen Raketenwerfer M142 Himars. Ziele in gut 70 Kilometer Reichweite können diese treffen.

Mit westlichen Waffen könnte die Ukraine den russischen Nachschub für die Ostfront stören, Ziele in Belgorod angreifen und damit Russland zwingen, weitere Truppen nach Charkiw zu verlegen. Gleichzeitig steigt mit jedem Schuss aus einer amerikanischen Waffe nach Russland die Spannung zwischen Russland und dem Westen. Joe Biden liess sich deshalb das Versprechen geben, dass die neuen Raketenwerfer nur gegen Ziele in der Ukraine eingesetzt würden. Ob das auch für andere Waffen gilt, bleibt offen.

Mitarbeit: Georg Häsler, Werner J. Marti
Für diesen Artikel wurden Daten aus verschiedenen Quellen ausgewertet. Wir haben uns nur auf Daten gestützt, die geolokalisiert – also einem konkreten Ort zugewiesen – sind. Dazu stützen wir uns auf Daten von GeoConfirmed, Cen4infoRes, liveuamap und uawardata.


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