Ein Jahr Corona: “Ich muss mich erst mal wieder an die Welt gewöhnen”

Ein Jahr Corona
“Ich muss mich erst mal wieder an die Welt gewöhnen”

© Maksfoto (Symbolfoto) / Shutterstock

Ein Jahr Corona und kein Ende in Sicht. Was macht das Virus mit uns? Es macht uns wunderlich. Unsere Autorin scheitert schon am Kontakt mit Fremden.

Am Wochenende habe ich meinen ersten Ausflug seit dem Herbst gemacht. Ich fuhr mit dem Regionalzug zu Freunden aufs Land, und schon am Bahnhof fühlte ich mich nicht wie nach drei Monaten Winter, sondern wie nach zwölf Monaten Winterschlaf. All diese Menschen – und was die anhaben! Trägt man das jetzt?   

Meine seit Pandemiebeginn eingeübte Hygienestrategie, Türen mit dem Ellenbogen und Knöpfe mit dem Zeigefingerknöchel zu bedienen, scheiterte schon am Ticketautomaten. Die Tasten standen so eng beieinander, dass ich eine meiner Fingerkuppen verseuchen musste. Uah, eklig! Noch nie habe ich mich so nach Desinfektionsmittel gesehnt.

All diese Menschen – und was die anhaben! Trägt man das jetzt?   

Ultimativ kontaminiert fühlte ich mich im Zug, obwohl ich mit maximalem Abstand zu anderen Mitreisenden saß. Die Kopfstützen glänzten so speckig, dass ich es mir unter Androhung von Selbstzüchtigung verbot, mich anzulehnen. Unwillkürlich musste ich an meine letzte Fernreise denken, als ich in einem aseptisch sauberen Schnellzug durch Taiwan raste. Mit jeder Faser konnte ich plötzlich spüren, was Corona ans Tageslicht geholt hat: Dass Deutschland den Anschluss verloren hat, uneinholbar rückständig ist, bei der Digitalisierung, der Bildung, beim Impfen und eben auch bei der Mobilität.

Beim trüben Blick durchs Fenster, das von einem Grauschleier aus Schmutz verhängt war, schoss mir auch immer wieder der Gedanke durchs paranoide Gehirn: “Mit dieser Fahrt im Bummelzug riskiere ich mein Leben.” Ein Jahr Horrornachrichten, Homeoffice und Lockdown hat Spuren hinterlassen.

Wie wunderlich ich wirklich geworden bin, merkte ich aber erst am Ziel meiner Reise, im realen Kontakt zu fremden Menschen. Ich sitze bei den Freunden im Garten, und deren Nachbarn stellen mir ganz normale Fragen: Welche Musik hörst du? Was waren deine besten Reisen? Zeig mal, welches Buch liest du da? Äm ja, wie war das noch gleich, wo war ich noch überall, und wie hießen die Bands, die ich mag? Warum guckt der mich so komisch an? Rede ich zu viel, zu wenig, zu laut? Nach vielen Monaten voller digitaler und rarer realer Kontakte ist schon ein Live-Small-Talk eine Herausforderung.

Ich hoffe, die Lockerungen erfolgen langsam, damit meine verschlossene Lockdown-Psyche hinterherkommt.

Wie soll das erst werden, wenn ich eines Tages nicht mehr nur im Bummelzug, sondern mit dem Flugzeug verreise? Ein Jahr Corona hat mich dem Leben dermaßen entfremdet, dass mir halbwegs entfernte Länder das weltentwöhnte Hirn schlicht wegpusten werden. Und auf einem anderen Kontinent würde ich mich in meiner aktuellen Verfassung wahrscheinlich wie eine Mutantin auf einem falschen Planeten fühlen. Ich denke, ich sollte mit dem Baggersee im Norden der Stadt beginnen, und mich von dort aus langsam bis zur Ostsee hocharbeiten, bevor ich wieder in einen Flieger steige.