Einmal im Leben aufs Matterhorn

Wie es ist, den 4478 Meter hohen Berg zu besteigen, auf den Spuren tragisch verwobener Familiengeschichten, ausgerechnet im Hitzesommer 2022 und bei akuter Steinschlaggefahr.

Auf Angst hatte ich mich nicht eingestellt, das beklemmende Gefühl kommt unerwartet. Es stellt sich nicht in den ersten eineinhalb Stunden des Aufstiegs ein, obwohl es da am Matterhorn noch stockdunkel ist und die Schwierigkeiten im Voraus nur zu erahnen sind. Auch nicht in den beinahe senkrechten Passagen an den beiden Moseley-Platten, die als Schlüsselstellen gelten. Sondern erst danach, auf einem weniger steilen Abschnitt am Hörnligrat, deutlich oberhalb der 4000-Meter-Grenze. Dort, wo der Gipfel bereits nahe scheint.

Das Problem ist der Blick nach rechts unten. Weniger als zwei Meter entfernt von meinen Füssen fällt die Matterhorn-Nordwand mehr als tausend Meter in die Tiefe. Bisher glaubte ich, kaum Höhenangst zu haben, doch jetzt wird mir unvermittelt flau im Magen, der Fokus geht verloren, fast zittern die Beine.

Ich stelle mir vor, wie der Zermatter Bergführer Andreas Perren, mit dem ich am kurzen Seil verbunden bin, auf die linke Seite des schmalen Grats springen muss, um zu verhindern, dass ich nach einem Fehltritt über die Nordwand abstürze. Und mir geht durch den Kopf, dass die Anspannung ab jetzt mehrere Stunden lang anhalten könnte, bis zur Rückkehr in die Hörnlihütte.

Eine schwierige Vorstellung, aber eine naheliegende: Es gibt auf einer Bergtour keine Stopptaste. All das sind keine hilfreichen Gedanken, wenn es gilt, weiter nach oben zu klettern.

Das Matterhorn galt lange als unbezwingbar

Während ich die Matterhorn-Besteigung plante, verging keine Woche ohne einen schweren Zwischenfall an dem 4478 Meter hohen Berg. Am 4. Juli starben zwei Schweizer Bergsteiger auf der italienischen Seite, die Bergrettung Aostatal barg die Leichen auf 3100 Metern. Am 14. Juli stürzte ein weiterer Schweizer Bergsteiger beim Abstieg auf der gleichen Seite 30 Meter in den Tod.

Am 20. Juli sagten die lokalen Bergführer vorübergehend sämtliche geführten Touren ab, weil nach den heissen Sommerwochen das Dach des Matterhorns schneefrei war und die Steinschlaggefahr zu gross wurde. Am 26. Juli kam ein Ire auf der Höhe der Solvay-Hütte in 4000 Metern zu Fall, er prallte erst 350 Meter tiefer wieder auf. Am 2. August mussten nach einem Erdrutsch 13 Bergsteiger mit einem Helikopter gerettet werden.

Das Matterhorn wird zum kitschigen Symbol entstellt, wenn es mit seiner ikonischen Silhouette Tassen, Kuhglocken und Toblerone-Packungen ziert, ein Symbol für Alpenromantik und gemütliche Hüttenabende. In der Realität gehört es zu den gefährlichsten Bergen der Welt. Lange galt das Matterhorn als unbezwingbar. Erst 1865 gelang die Erstbesteigung, später als bei sämtlichen anderen 4000ern in den Alpen. Seitdem starben am Matterhorn mehr als 600 Menschen.

Momente, die im Gedächtnis bleiben: Die Morgensonne taucht die benachbarten Gipfel in ein rötliches Licht.

Momente, die im Gedächtnis bleiben: Die Morgensonne taucht die benachbarten Gipfel in ein rötliches Licht.

Als mir auf dem Hörnligrat mulmig wird, rufe ich dem Bergführer zu, gut aufzupassen, es sei nicht auszuschliessen, dass ich abrutschen würde. «Es geht schon», antwortet Andreas, ohne sich umzudrehen. Einen kurzen Moment lang erscheint mir die Reaktion wenig sensibel. Dann stelle ich fest, wie passend sie in ihrer schlichten Direktheit ist, wie hilfreich sie sich auswirkt. Denn es geht ja tatsächlich. Andreas hat mich lange genug beim Klettern beobachtet. Die Passage ist leichter als viele andere, die wir bereits hinter uns haben. Sie ist problemlos machbar, trotz dem Abgrund auf der rechten Seite. Meter für Meter kehrt das Selbstvertrauen wieder zurück.

Paradoxe Kombination aus Unbeschwertheit und Anspannung

«Es geht schon»: Das kann auf einer anspruchsvollen Bergtour ein grandioses Gefühl sein. Wenn es flüssig vorangeht, setzt schon unterwegs eine Euphorie ein, die anderswo im Leben schwierig zu finden ist. Während sich die ganze Aufmerksamkeit darauf richtet, den nächsten Griff und den nächsten Tritt zu finden, werden die gewohnten Gedanken und Sorgen aus dem Alltag nicht nur kleiner. Sie sind völlig verschwunden, wie ausgelöscht. So fühlt sich Freiheit an.

Die paradoxe Kombination aus Unbeschwertheit und Anspannung mindestens einmal im Leben am Matterhorn zu suchen, diesem wunderschönen Berg mit seiner unverwechselbaren Pyramidenform, ist naheliegend. Schon der Erstbesteiger Edward Whymper sagte einst: «Das Matterhorn zog mich einfach durch seine Grossartigkeit an.»

Dazu kommt noch etwas völlig anderes. Zwei alpinistische Pioniere prägten die Geschichte des Matterhorns im 19. Jahrhundert mehr als alle anderen, viel mehr auch als Whymper: Peter Taugwalder aus Zermatt und Josef Marie Lochmatter aus St. Niklaus. Taugwalder ist der Ururgrossvater des Bergführers Andreas. Lochmatter ist der Urururgrossvater meiner Frau. Die Schicksale der beiden Männer sind auf tragische Weise miteinander verwoben, wie noch zu erzählen sein wird.

Am Berg verdichtet sich alles, manchmal sogar Familiengeschichten. Sie faszinieren mich mindestens so sehr wie das Ziel, den Gipfel zu erreichen.

Am 8. August kehren die Zermatter Bergführer wieder zurück ans Matterhorn, das sie einige Tage lang gemieden hatten. Im Gipfelbereich sei Schnee gefallen, heisst es nun im Tal, das Wagnis sei wieder kalkulierbar. Eine Woche später sind wir unterwegs.

Hektische und erhebende Momente

Vor dem Start in der Hörnlihütte ist von der Grossartigkeit des Berges nichts zu spüren. Stattdessen wird es hektisch. Wir schlingen am Frühstücksbuffet, das ab vier Uhr geöffnet ist, nur einige Bissen hinunter, weil wir uns vorgenommen haben, schon zehn Minuten später an der von innen verschlossenen Türe zu stehen. Helme und Klettergurte haben wir bereits angezogen.

Wenn die Türe um 4 Uhr 20 geöffnet wird, gilt es, möglichst weit vorne zu starten. Zuerst dürfen die Zermatter Bergführer mit ihren Gästen los, dann die Teams der auswärtigen Bergführer und am Ende die selbständigen Alpinisten. Die Reihenfolge innerhalb der Gruppen ist offen. Manche Gipfel-Aspiranten kämpfen mit Ellbogeneinsatz um die begehrtesten Plätze, manche fluchen leise, manche wirken apathisch, dem Schicksal ergeben.

Anspannung vor dem Aufbruch: Manche fluchen leise, manche wirken apathisch.

Anspannung vor dem Aufbruch: Manche fluchen leise, manche wirken apathisch.

Etwa 70 Bergsteiger versuchen sich an diesem Tag am Matterhorn. Das sind weniger als sonst an guten Tagen. Aber auch mit 70 Personen kommt es bereits nach fünf Gehminuten zu Wartezeiten. Dann ist mithilfe eines Fixseils und von künstlichen Tritten eine zehn Meter hohe Einstiegswand zu überwinden.

Ich fühle im Rücken beobachtende Blicke, als ich hinaufklettere. Die Stirnlampen der Wartenden lassen nur kleine Lichtkegel entstehen, doch für Momente wirken sie auf mich wie grelle Flutlichter im Stadion. Sich jetzt nur keine Blösse geben, dürfte hier jeder denken. Sonst setzen die nächsten Seilschaften sofort zu Überholmanövern an, man könnte regelrecht überrollt werden.

Die Zermatter Bergführer haben ein durchwachsenes Image. Wer im Internet Tourenberichte sucht, stösst auf Verrisse. Ihnen wird ein überzogenes Tempo vorgeworfen. «Bergführer machen ihren Job und möchten, so schnell es geht, wieder unten sein», behauptet ein Alpinist, «so können sie bei zwei oder drei Bier im Sonnenschein auf der Hüttenterrasse noch einen schönen Nachmittag verbringen.» Ein anderer schreibt: «Die schlimmste Schande wäre es, eine führerlose Seilschaft wäre schneller auf dem Berg und wieder unten als eine geführte.»

Meine Wahrnehmung ist zunächst fundamental anders. Gehetzt fühle ich mich im unteren Teil des Aufstiegs nie. Klettereien über Felsblöcke und Rinnen wechseln sich mit Quergängen über Bänder und Geröllhalden ab. Für sich genommen ist keine Stelle allzu anspruchsvoll. Am Stück werden sie zur Ausdauerbelastung, die pausenlose Konzentration erfordert, aber vor allem Spass macht.

Dass wir eher schnell unterwegs sind, obwohl Andreas nie zur Eile mahnt, liegt nicht zuletzt daran, wie gut er den Berg kennt. Das erste Mal stand der Nachfahre des Matterhorn-Pioniers Taugwalder im Jahr 1988 auf dem Gipfel. Seitdem hat er den Aufstieg fast 200-mal wiederholt. Der 53-Jährige kann auf Griffe hinweisen, ohne hinzuschauen, einfach aus dem Gedächtnis heraus.

Ich stelle mir vor, wie oft ich in den Geröll-Labyrinthen allein nach dem idealen Weg suchen müsste. Der Hörnligrat ist unübersichtlicher, als aus der Ferne zu vermuten wäre. Womöglich wäre ich immer wieder im Zickzack unterwegs.

Nach eineinhalb Stunden taucht die Morgensonne die benachbarten Gipfel in ein rötliches Licht. Weit unten im Tal leuchten in den Chalets von Zermatt die ersten Lichter. Momente dieser Art, in denen die Natur so intensiv zu spüren ist wie selten, können sich lebenslang ins Gedächtnis einbrennen.

Vor der Solvay-Hütte, einer Notunterkunft für Verspätete und Gestrauchelte, verstauen wir die Stirnlampen. Die Sonne wärmt die Felsen schon jetzt, um sechs Uhr morgens. Meine Jacke brauche ich nie, ein Fleece-Pulli reicht. «Das Matterhorn ist ein heisser Berg», sagt Andreas.

Berge holen das Beste und das Schlechteste aus Menschen heraus

Nach den trügerisch lockeren Momenten schlägt die Stimmung ein wenig um. Erst muss ich am Hörnligrat meine kleine Krise überstehen. Wenige Minuten später wird es an den Fixseilen, die den Weg aufs Dach des Matterhorns erleichtern, eng. Jeder hat es an diesem Tag hier oben eilig, eiliger als in den Rinnen nach dem Einstieg.

Für sich genommen ist keine Kletterpassage allzu anspruchsvoll, am Stück werden sie zur Ausdauerbelastung.

Für sich genommen ist keine Kletterpassage allzu anspruchsvoll, am Stück werden sie zur Ausdauerbelastung.

Ein auswärtiger Bergführer klettert mit seinem Gast hinter uns her. Er drängelt. Immer wieder kommt er mir von unten so nahe, dass er mit seinen Händen Griffe in Anspruch nimmt, die ich gerne als Tritte verwenden würde. An den Haken verknoten sich unsere Seile.

Berge holen das Beste und das Schlechteste aus Menschen heraus, das war schon immer so. Die Erstbesteiger waren 1865 zu siebt unterwegs gewesen. Edward Whymper und drei weitere Briten, der Franzose Michel Croz sowie Taugwalder, der Vorfahre von Andreas, mit seinem Sohn. Kurz vor dem Gipfel kappten Whymper und Croz das gemeinsame Seil und rannten ungesichert nach oben. Sie wollten unbedingt die Ersten sein.

Als sie am höchsten Punkt standen, bemerkten sie auf der italienischen Seite, weit unten am Grat, eine andere Gruppe von Bergsteigern. Whymper warf Steine vom Gipfel, um ihnen klarzumachen, dass sie schneller gewesen waren.

Warum auch 157 Jahre später alle Bergsteiger schnell übers Dach wollen, obwohl heute keine Rekorde zu brechen sind, wird einige Minuten unter dem Gipfel offensichtlich. Die Aussage der Ortskundigen, die Kuppe sei wieder schneebedeckt, entpuppt sich als kreative Interpretation der tatsächlichen Verhältnisse. In einigen Schattenlöchern finden sich Schneereste, einzelne Tritte sind vereist. Doch niemals genügt das, den gefürchteten Steinschlag zu verhindern. Jederzeit können sich Brocken lösen, vor allem durch andere Bergsteiger.

Dass das Matterhorn seit dem 8. August wieder von Zermatter Bergführern begangen wird, ist kaum mit veränderten Bedingungen im Gipfelbereich erklärbar. Eher liegt der Schluss nahe, dass sich das kommerziell motivierte Interesse durchsetzte, den Rest der Saison zu retten.

Anspannung und Stress beim Abstieg

Die letzten Meter bewältigen wir mit Steigeisen, was angesichts der Schneeknappheit nicht zwingend wäre, aber auch bei dünnen Eisschichten hilfreich ist. Etwas mehr als drei Stunden nach dem Aufbruch bei der Hörnlihütte erreichen wir den höchsten Punkt. Der Gipfelaufenthalt ist kurz. Es geht sofort wieder hinunter, um dem zu erwartenden Ansturm zuvorzukommen.

Auf dem Weg nach unten weist mich Andreas an, den Körper eng gegen die Wand zu drücken, falls von oben Steine fliegen sollten. Nur dieses einzige Mal nehme ich ihn an diesem Tag angespannt wahr. Später erfahre ich, dass die heiklen Bedingungen im Gipfelbereich bereits am Vortag ein Gesprächsthema waren, als sich die Bergführer in der Hörnlihütte zusammengesetzt hatten.

An den Fixseilen seilt mich Andreas ab, weiterhin darum bemüht, keine Zeit zu verlieren. Er fordert mich auf, mir nötigenfalls Platz zu verschaffen, wenn uns Bergsteiger entgegenkommen, «anständig, aber bestimmt». Einmal fragt er mich von oben, ob ich das Seil eingehängt habe, um nachklettern zu können. Ich suche in diesem Moment noch nach einem stabilen Halt, doch eine zufällig neben mir stehende Bergführerin ruft Andreas voreilig zu, das Seil sei im Haken.

Am Vortag hatte mich die Bergführerin beim Aufstieg zur Hörnlihütte überholt, am Morgen tänzelte sie leichtfüssig durch die Wand. Sie ist topfit. Doch jetzt gerät auch sie, die erfahrene Alpinistin, durch die um sich greifende Hektik in Stress.

Seilschaften beim Abstieg: Vor allem an den Fixseilen wird es eng.

Seilschaften beim Abstieg: Vor allem an den Fixseilen wird es eng.

Seilscha

Die Erstbesteiger hatten noch ganz andere Sorgen als Steinschlag. Sie kletterten zunächst weiter links ab, in einem Couloir, das etwas weniger steil ist als die heute durch Fixseile entschärfte Passage. Doch das Couloir befindet sich direkt über der Nordwand; wer dort strauchelt, findet kaum noch Halt.

Nach der Erstbesteigung kommt es zum Drama

Einer der Briten rutschte entkräftet aus und riss drei seiner Kollegen mit. Taugwalder konnte das gemeinsame Seil um einen Felsen werfen und den Fall zunächst stoppen. Doch dann riss die Sicherung. Das Seil war nur aus Hanf und zudem alt und dünn. Womöglich kam es erst zum Einsatz, nachdem Whymper und Croz ihr besseres Seil unter dem Gipfel zerschnitten hatten.

Die exakten Umstände des Unfalls wurden nie geklärt. Fest steht, dass drei Briten und Croz zu Tode stürzten. Nur Whymper und die beiden Taugwalders überlebten.

Als sie wieder in Zermatt waren, wurde nicht Whymper mit Vorwürfen überhäuft, sondern der Vorfahre meines Bergführers. Er wurde mit der kaum haltbaren Anschuldigung konfrontiert, das Seil durchschnitten zu haben, um sich und seinen Sohn zu retten. «Es waren Neid und Missgunst im Spiel», sagt Andreas.

Nach dem Vorfall sei sein Ururgrossvater ein gebrochener Mann gewesen. Taugwalder wanderte in die USA aus. Jahre später kehrte er wieder zurück, doch seine grosse Zeit war vorbei.

Lochmatter, der Urahne meiner Frau aus St. Niklaus, half bei den Bergungsarbeiten. Später übernahm er am Matterhorn das Kommando, er füllte Taugwalders Lücke. Vielleicht heroisiere ich Lochmatter, vielleicht bin ich nicht ganz neutral. Aber nach der Lektüre der historischen Fakten stelle ich mir einen Mann vor, der bei allem Ehrgeiz nicht nur an sich dachte, sondern immer auch an die Sicherheit aller anderen Alpinisten. Und er dürfte schon damals erkannt haben, dass der Berg das Potenzial zum Touristenmagnet besitzt.

1868 gelang Lochmatter die Zweitbesteigung über den Hörnligrat. Bemerkenswert ist aber vor allem, dass er am Vortag des Gipfelsturms eine Schutzhütte auf 3800 Metern fertigstellte. Diese machte Übernachtungen am Berg gefahrloser und trug wesentlich dazu bei, anderen den Aufstieg zu erleichtern. Im gleichen Jahr gelangen acht weitere Gipfelbesteigungen. Lochmatter war noch etliche Male oben.

Die Schutzhütte stand auf einem Felsabsatz unterhalb der Schulter am Hörnligrat. Ein Holzscheit ist bis heute von ihr übrig geblieben. Wir kommen im Abstieg daran vorbei. Ich berühre das Holz mit der Hand und bin gerührt. Im Museum wäre es kaum erlaubt, einen Gegenstand von solch historischem Wert anzufassen, denke ich. Hier liegt er einfach so herum.

Zuvor ist es beim Abstieg über die untere Moseley-Platte zu einem weiteren Zwischenfall gekommen. Ich warte an einem Standplatz auf Andreas, als ein Bergsteiger unser Seil ergreift und aus dem Haken nimmt. Er möchte Platz für sein eigenes Seil schaffen. Ich herrsche ihn an, packe das Seil, hänge es wieder ein. Nichts ist passiert, viel hätte passieren können.

Vorbilder und Einzelkämpfer – die zwei Typen im steilen Gelände

Menschen machen den Berg gefährlich. Vor allem deswegen wurde die Hörnlihütte bei ihrer Renovierung im Jahr 2015 von 170 auf 130 Schlafplätze verkleinert. Vorher, beteuert Andreas, sei es am Matterhorn noch ganz anders zu- und hergegangen. Vor allem in den 1990er Jahren, als viele Bergsteiger aus dem ehemaligen Ostblock angereist seien, schlecht ausgebildet und mit dem brennenden Wunsch, verpasste Erlebnisse nachzuholen. In jener Dekade sei zudem der Anteil von Alpinisten, die sich ohne Bergführer auf den Hörnligrat gewagt hätten, noch viel höher gewesen.

Natürlich liesse sich argumentieren, dass 130 Gipfel-Aspiranten pro Tag immer noch zu viel seien. Doch entscheidender als die Zahl der Bergsteiger ist ihr Verhalten. Grob vereinfacht, gibt es im steilen Gelände zwei Typen: Einzelkämpfer, die in kritischen Situationen bewusst oder unbewusst in Kauf nehmen, andere zu gefährden. Und jene, die stets an die Sicherheit aller denken.

Wäre auf dem Dach des Matterhorns jeder mit maximaler Vorsicht unterwegs, um Steinschlag zu vermeiden, sich auf losem Geröll Schritt für Schritt vorwärts tastend, wäre die Situation anders. Dass es die Bergführer zeitweise eilig haben, rührt kaum von ihrem Wunsch her, schnell beim Bier auf der Hüttenterrasse zu sein. Sondern eher von ihrem Wissen, dass nicht jeder vorsichtig genug ist.

Am späten Nachmittag wirft das Matterhorn seinen langen Schatten talwärts. Im Hintergrund ist der Gornergletscher zu sehen.

Am späten Nachmittag wirft das Matterhorn seinen langen Schatten talwärts. Im Hintergrund ist der Gornergletscher zu sehen.

Christoph Ruckstuhl / Nzz

Zu den Vorbildern, die immer das grosse Ganze im Blick hatten, zähle ich in meiner subjektiven Voreingenommenheit den Pionier Lochmatter, der viele Bergsteiger sicher aufs Matterhorn führte, sogar den Engländer Whymper, der einige Jahre nach seiner Erstbesteigung noch einmal hochwollte.

Mit grosser Wahrscheinlichkeit gehörte auch Taugwalder zu den Umsichtigen, den Schmähungen seiner Zermatter Nachbarn zum Trotz. Heute gelingt es Andreas, seinem Ururenkel, nicht eine Sekunde den Überblick über die anderen Seilschaften zu verlieren, Ratschläge und Ermunterungen zu verteilen und nicht nur mir ein gutes Gefühl zu vermitteln.

Doch auch die grösste Achtsamkeit bietet keine Garantie, den Gipfel zu erreichen. Das schneefreie Matterhorn-Dach im Hitzesommer 2022 wirft ein Schlaglicht darauf, wie sehr der Klimawandel das Bergsteigen verändert. Vielleicht gibt es künftig immer weniger Tage, an denen die Bedingungen Matterhorn-Besteigungen zulassen. Der Traum, diesen meistfotografierten Berg der Welt zu besteigen, dürfte sich dadurch bei vielen eher noch intensivieren.

Die Rolling Stones bewarben eine Europatournee mit dem Matterhorn

Taugwalder und Lochmatter legten das Fundament für ein Phänomen, das so gross wurde, wie sie niemals hätten ahnen können. Das Matterhorn ist ein Symbol der Schweiz, und eigentlich überstrahlt es das Land sogar. In Amerika oder Asien ist der Berg so bekannt, dass er kontinentale Assoziationen weckt. 1976 warben die Rolling Stones für eine Europatournee. Sie druckten Plakate von sich vor dem Matterhorn.

So etwas gibt es sonst kaum. Der Eiffelturm ist französisch, das Brandenburger Tor ist deutsch, der Buckingham Palace ist englisch. Nur das Matterhorn wurde manchenorts zu einer länderübergreifenden Institution.

Als wir fast unten sind, es fehlt noch eine letzte steile Seillänge, schauen wir zurück. «Ein schöner Berg», sage ich. «Eher ein Geröllhaufen», antwortet Andreas, «aus der Ferne sieht das Matterhorn eindrücklicher aus.» Das sollte vielleicht nur ein Witz sein. Aber eigentlich hat er recht. Wer die Matterhorn-Besteigung hinter sich hat, für den schrumpft der mythisch überhöhte Berg wieder zu einer gesunden Grösse zurück.

Voraussetzungen für eine Matterhorn-Besteigung

smb. · Die Bergführer-Vereinigung Zermatts nennt auf ihrer Website für eine geführte Besteigung des Matterhorns folgende Anforderungen: «Du hast bereits einige 4000er in der Tasche und bist sehr gut akklimatisiert. Der Umgang mit Pickel und Steigeisen fällt dir leicht. Gratklettereien bis zum dritten Schwierigkeitsgrad und steiles Gelände auf Fels und Eis stellen für dich kein Problem dar.»

Grundvoraussetzung ist eine ausreichende Ausdauer für die in der Regel acht- bis neunstündige Tour ab der Hörnlihütte. Viele Bergführer empfehlen unmittelbar vor dem Besteigungsversuch eine Vorbereitungstour, zum Beispiel eine Traversierung des Breithorns.

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