Fehlende Waffen und hohe Verluste im Donbass

Seit Monaten kämpfen die ukrainischen Truppen im Donbass gegen einen materiell überlegenen Feind. Angesichts hoher Verluste und fehlender Waffen wird die Lage für die Soldaten immer prekärer. Das wirkt sich auch auf die Moral aus.

«Wir haben nur unsere Kalaschnikows und ein paar Panzerabwehrwaffen, sonst nichts», sagt Wolodimir Babenkо. Der Hauptmann der Nationalgarde hat schon 2014 gekämpft. Doch so hart wie jetzt war es noch nie. «Wir haben so viele Männer verloren», sagt er. Babenkоs Einheit war in Sewerodonezk stationiert, der am härtesten umkämpften Stadt an der Front, die nun gefallen ist. In dem tristen Industrieort im Donbass beschossen sich Russen und Ukrainer aus kürzester Distanz mit Granaten und Raketen.

Es sei dort die Hölle gewesen, sagt Babenkо, der sich mit seinen Männern für ein paar Tage in die Nachbarstadt Lisitschansk zurückgezogen hat. Jetzt sitzen die Soldaten im Schatten eines Plattenbaus im Gras und rauchen Zigaretten. Auf der Munitionskiste vor ihnen stehen leere Konservendosen. Die Männer sehen mitgenommen aus. Fast alle tragen Verbände, ihre Gesichter sind schmutzig und ihre Blicke müde und leer. Man kann nur erahnen, was sie in Sewerodonezk durchgemacht haben.

In Sewerodonezk sei es die Hölle, sagt Wolodimir Babenko, ein Hauptmann der ukrainischen Nationalgarde.

In Sewerodonezk sei es die Hölle, sagt Wolodimir Babenko, ein Hauptmann der ukrainischen Nationalgarde.

«Für jede Granate von uns schiessen die Russen zehn ab», sagt Babenkо. Seine Truppe sei zahlenmässig und materiell komplett unterlegen. «Ohne Hilfe können wir zusammenpacken und uns gleich bis nach Lwiw zurückziehen», ruft einer der Soldaten dazwischen.

An der Front fehlt es an allem

Tatsächlich ist der Druck der Russen am anderen Ufer des Donez-Flusses enorm. Immer wieder hört man gegenüber das Grollen der Artillerie, die Brücken zwischen den beiden Städten sind längst zerstört. Man könne nur noch mit Booten oder schwimmend hinübergelangen, sagt Babenkо. Und auch das nur unter enormen Verlusten.

Russisches Vormarschgebiet

Prorussische Separatistengebiete

In Lisitschansk herrscht derweil die Ruhe vor dem Sturm. Die Stadt ist wie leergefegt, die wenigen Zivilisten harren in Kellern aus, und auf den Strassen liegen Trümmer sowie ausgebrannte Autos. Überall stehen Soldaten. Hier wird als Nächstes gekämpft. Die Truppen bereiten sich vor, heben Schützengräben aus und bringen Nachschub in die Stadt, soweit das möglich ist.

Um sie zu halten, brauchen die Ukrainer aber schwere Waffen: Artillerie, Drohnen, mehr Munition und gepanzerte Mannschaftswagen. Denn vier Monate nach dem russischen Überfall fehlt es an der Front im Donbass an allem. Seine Armee verliere täglich bis zu 200 Soldaten, sagte der ukrainische Präsident Selenski kürzlich.

Viele Beobachter schätzen die Verlustzahlen sogar noch höher ein. Wie eine Dampfwalze überfährt das Trommelfeuer der russischen Artillerie die Ukrainer. Nachdem deren Truppen die Russen vor Kiew und Charkiw erfolgreich haben zurückwerfen können, droht die Übermacht Moskaus sie nun im Donbass zu ersticken.

Im Spital von Kramatorsk stehen blutverschmierte Tragebahren bereit für den nächsten Einsatz.

Im Spital von Kramatorsk stehen blutverschmierte Tragebahren bereit für den nächsten Einsatz.

Diese beiden Soldaten sind nur leicht verletzt und kehren nach der Behandlung im Spital von Kramatorsk an die Front zurück.

Diese beiden Soldaten sind nur leicht verletzt und kehren nach der Behandlung im Spital von Kramatorsk an die Front zurück.

«Wir haben fast nur Soldaten hier liegen», sagt Witali Jaroslawowitsch, der im nur zwanzig Kilometer hinter der Front liegenden Zivilspital von Kramatorsk als Militärchirurg arbeitet. «Die Männer werden schrecklich zugerichtet eingeliefert, mit Schrapnell-Wunden, zerschmetterten Gliedmassen und schweren Kopfverletzungen.»

In der Klinik liegen aber nicht nur die schweren Fälle, sondern auch Patienten wie Serhi, der sich den Arm gebrochen hat, als er in der Nacht seine Position wechseln musste. «Wir sind seit Wochen dauernd an der Front, werden permanent beschossen und schlafen so gut wie nie», sagt der 36-Jährige. «In so einem Zustand ist man kaputt, übermüdet, und so etwas kann passieren.»

«Wir bluten regelrecht aus»

Serhi, der aus der Westukraine stammt, kämpfte als Panzerjäger. Dabei hat er immer wieder erlebt, wie seine Kameraden an ihre Grenzen kamen. «Vor allem die jungen, frisch rekrutierten Soldaten macht der Dauerbeschuss fertig», sagt er. Manche stünden dermassen unter Schock, dass man sie sofort wieder abziehen müsse. «Wir bluten daher regelrecht aus.»

Die Soldaten setzen auf Munitionslieferungen aus dem Westen – und manche auf ihren Glauben.

Zu den schweren personellen Verlusten kommen jene an Material hinzu. Tausende von Fahrzeugen gingen verloren, längst kaufen Freiwillige den Markt für gebrauchte Geländewagen in ganz Europa leer, um Autos für die Front zu besorgen. Sogar an Munition fehlt es inzwischen, denn die meisten Waffenfabriken im Land sind zerstört, und im Ausland lassen sich die passenden Geschosse für die aus der Sowjetzeit stammenden Waffen kaum mehr finden.

Westliche Waffen kommen hingegen immer noch in viel zu kleiner Zahl an. Das macht sich nicht nur im Donbass bemerkbar, sondern auch an den übrigen Frontabschnitten. Nördlich von Mariupol etwa, wo die Front durch liebliche Dörfer und Felder führt, kämpft Ihors Flugabwehreinheit. Sie verfügt über keine einzige Rakete mehr. «Vor ein paar Tagen haben wir mit unserer letzten Igla einen russischen Helikopter abgeschossen», sagt der 41-Jährige stolz. «Jetzt warten wir auf Nachschub.»

Ihors (links) Drei-Mann-Team ist mit dem eigenen Auto unterwegs, einem fast vierzig Jahre alten Lada.

Ihors (links) Drei-Mann-Team ist mit dem eigenen Auto unterwegs, einem fast vierzig Jahre alten Lada.

Aber dieser kommt nicht. Stattdessen müssen die Männer improvisieren. So fahren sie mit ihrem eigenen Auto an die Front, einem klapprigen Lada aus dem Jahr 1984. Ihre Uniformen und Helme haben sie sich ebenfalls selbst zusammengesucht. Normalerweise sollte ein Drei-Mann-Team wie das von Ihor höchstens einen Kilometer Front abdecken. «Hier sind wir inzwischen für vier zuständig», sagt er.

Ähnlich düster sieht es bei der Minenwerfertruppe aus, die in einem verlassenen Gehöft untergekommen ist und deren Vorrat an bulgarischen Granaten zur Neige geht. «Wir brauchen nicht nur neue Minenwerfer, um über weitere Distanzen schiessen zu können, sondern auch die entsprechenden Optiksysteme», sagt der 29-jährige, baumlange Kommandant der Batterie. «Allzu oft kommt das eine ohne das andere an.»

Eine Mörsertruppe ist gerade im Garten eines Bauernhauses unterwegs.

Eine Mörsertruppe ist gerade im Garten eines Bauernhauses unterwegs.

Einer der Soldaten präsentiert eine Granate aus Bulgarien. Aber der Vorrat geht zur Neige, und der Nachschub stockt.

Einer der Soldaten präsentiert eine Granate aus Bulgarien. Aber der Vorrat geht zur Neige, und der Nachschub stockt.

Zum Glück verhalten sich die Russen in diesem Abschnitt zurzeit ruhig. In den zerschossenen Dörfern unmittelbar an der Front herrscht eine gespenstische Stille. Schweine leben in den verlassenen Häusern. Überall stinkt es bestialisch, und in einem der Vorgärten liegt die verwesende Leiche eines russischen Soldaten. «Die meisten unserer Kämpfer hier kommen aus von den Russen besetzten Gebieten», sagt einer der zuständigen Offiziere. «Sie wollen eigentlich unbedingt angreifen, denn die Gelegenheit wäre gut. Aber sie können nicht, weil es an schweren Waffen fehlt.»

Wut auf die Regierung

Nicht überall ist die Moral noch so intakt. Nach monatelangen harten Kämpfen und einem enorm hohen Blutzoll sind manche Soldaten nicht mehr bereit, die prekäre Versorgungslage einfach hinzunehmen. So tauchten im Internet in den letzten Wochen immer wieder Videos auf von ganzen Einheiten, die ankündigen, nicht mehr weiterkämpfen zu wollen, sollte sich an der Situation nicht bald etwas ändern.

Die prekäre Versorgungslage schlägt einigen Soldaten auf die Moral.

«So weit würde ich nicht gehen», sagt Andri, der als Infanterist bei der Territorialverteidigung dient und ebenfalls im Donbass stationiert ist. «Trotzdem bin ich wütend auf unsere Regierung. Unsere Armee wurde jahrelang kaputtgemacht und nicht richtig ausgerüstet. Wir waren auf diesen Krieg einfach nicht gut vorbereitet. Jetzt müssen wir dafür den Kopf hinhalten.»

Andris Einheit liegt nördlich von Slowjansk. Auch hier drücken die Russen in Richtung der ukrainischen Linien, auch hier fehlt es an allem. Dazu kommt aber noch ein anderes Problem: «Viele der Einheimischen hier mögen uns nicht. Sie sehen uns als Fremde und machen uns für den Krieg verantwortlich», sagt Andri.

Tatsächlich beäugen die alten Frauen im Plattenbauviertel, wo die Truppe kurzfristig untergekommen ist, die Soldaten mit Argwohn. «Die sollen alle verschwinden», sagt eine von ihnen. «Wir wollen, dass das endlich vorbei ist.»

Andri und seine Einheit sind in dem Viertel, in dem sie kurzfristig untergekommen sind, nicht wirklich willkommen.

Andri und seine Einheit sind in dem Viertel, in dem sie kurzfristig untergekommen sind, nicht wirklich willkommen.

Die meisten Bewohner des Donbass sprechen Russisch. Das macht sie noch lange nicht zu Anhängern Moskaus. Trotzdem gibt es unter jenen, die nicht geflohen sind, auch solche, die mit Russland sympathisieren. «Die warten nur darauf, dass wir hier weg sind», sagt Andri. Manche würden dem Feind sogar die Positionen der ukrainischen Truppen verraten. «Ich verstehe das nicht», sagt ein anderer Soldat, der ebenfalls in der Nähe von Slowjansk einen Checkpoint bewacht. «Wenn es ihnen hier nicht passt, dann sollen sie doch einfach nach Russland gehen.»

Entsprechend ermüdet und abgestumpft wirken die Soldaten. Wenn sie nicht kämpfen, blicken sie auf ihre Mobiltelefone oder hören Musik. Über den Krieg sprechen wollen viele nicht mehr. Stattdessen sagen sie oft nur einsilbige Worte wie: «Es ist schon okay» oder «so ist der Krieg nun mal». Das ganze Land, so scheint es, hat sich inzwischen auf einen langen Kampf eingestellt. Die Züge, die in den Nächten aus dem Osten in Richtung Westen fahren, sind voll von Soldaten auf Fronturlaub.

Statt Psychologen gibt es Priester

Viele geben sich hart, tragen Tätowierungen und Sonnenbrillen. Doch bei ebenso vielen richtet der Krieg Schlimmes an. «In unserer Armee gibt es keine Psychologen, die sich darum kümmern», sagt Oleh Ladnjuk. «Deshalb bleibt das an uns hängen.» Der katholische Priester dient als Kaplan bei der Armee.

Seit Kriegsbeginn ist er fast immer im Frontgebiet unterwegs und betreut sowohl Zivilisten als auch Soldaten. «Manche bitten mich darum, für sie zu beten», sagt er. «Auch wenn sie nicht darüber reden wollen, spüre ich, dass sie Angst haben. Ich versuche, ihnen so gut wie möglich Trost zu spenden.»

Der Militärkaplan Oleh Ladnjuk kümmert sich auch um die Traumata der Soldaten.

Zudem seien viele Soldaten wütend und voller Hass. Er habe immer wieder mit ihnen darüber gesprochen, erzählt Ladnjuk. «Ich sage ihnen, dass das Töten zum Krieg gehöre. Aber auch, dass sie Gnade walten lassen und die verwundeten oder gefangenen Russen gut behandeln sollten.» Das komme nicht immer gut an. Umso erleichterter sei er gewesen, als eine Einheit, mit der er gesprochen habe, sich das tatsächlich auch zu Herzen genommen habe. «Ich habe ihnen gesagt, man könne auch in diesen finsteren Zeiten ein guter Christ sein.»

Babenkо und seine Männer in Lisitschansk hingegen haben vorerst ganz andere Probleme. Sie müssen in Kürze wieder an die Front und brauchen dazu Feuerschutz durch die Artillerie. Aber eine der so dringend benötigten Panzerhaubitzen ist nicht angekommen. Das Gefährt steckt ein paar Kilometer hinter der Front auf einer Landstrasse fest.

«Die Steuerung funktioniert nicht mehr, das verdammte Ding fährt nur noch geradeaus», sagt einer der Männer, die die fünfzigjährige Sowjet-Haubitze vom Typ 2S1 eigentlich ins Gefecht fahren sollten. Später kommt der Kommandant der Batterie hinzu, ein breitbeiniger Typ mit Sonnenbrille und nach hinten gedrehter Baseball-Mütze. Aus seinem Toyota-Landcruiser dringt harter, ukrainischer Hip-Hop.

Diese Panzerhaubitze ist kaputt und muss repariert werden.

Diese Panzerhaubitze ist kaputt und muss repariert werden.

Den Soldaten bleibt deshalb nichts anderes übrig, als auf Nachschub zu warten.

Den Soldaten bleibt deshalb nichts anderes übrig, als auf Nachschub zu warten.

Von den ehemals 18 Panzerhaubitzen in seiner Einheit sind nur noch 5 gefechtsbereit. «Sag deinen Leuten in der Schweiz, wir brauchen Paladin-Panzerhaubitzen, M777-Geschütze und Munition, und zwar schnell», sagt er, ehe er den Befehl gibt, das kaputte Gerät zur Reparatur abzuschleppen.

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