Frank Schaeffer mobilisierte die Evangelikalen

Sein Vater war ein evangelikaler Guru in der Schweiz. Seine Filme mobilisierten und radikalisierten die Gläubigen in den USA gegen das Recht auf Abtreibung. Heute bereut Frank Schaeffer dies zutiefst.

Frank Schaeffer in seinem Zuhause in Newburyport nördlich von Boston.

Kayana Szymczak für NZZ

Von Huémoz-sur-Ollon, einem kleinen Bergdorf in den Waadtländer Alpen, führt eine direkte Linie zum Sturm von Trump-Anhängern auf das Capitol und zum Ende des nationalen Rechts auf Abtreibung in den USA am vergangenen Freitag. Davon ist Frank Schaeffer überzeugt. Aber wie ist das möglich?

Sein Vater Francis Schaeffer kam mit seiner Frau und seinen Töchtern nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus Amerika in die Schweiz. Hier fanden die fundamentalistischen Protestanten eine intakte Infrastruktur vor, um ihre Missionsarbeit im zerstörten Europa zu organisieren. Frank wurde 1952 in Champéry im katholischen Kanton Wallis geboren. Weil die Eltern einen Einheimischen zu ihrem Glauben bekehrten, musste die Familie das Dorf verlassen, wie sich Frank Schaeffer in seinen Memoiren «Crazy for God» erinnert. Die Schaeffers liessen sich in einem Chalet in Huémoz hoch über dem Rhonetal nieder. Dort gründeten sie eine evangelikale Gemeinschaft: L’Abri (Schutzraum).

Die Abtreibungsfrage war eine katholische Sache

Etwas mehr als zwanzig Jahre alt war Frank, als er seinen Vater zu einer Sache drängte, die er dann während seines weiteren Lebens bereuen sollte. Im Januar 1973 fällte der amerikanische Supreme Court das wegweisende Urteil «Roe v. Wade». Darin anerkannte das Oberste Gericht ein verfassungsmässiges Recht auf Abtreibung. Francis Schaeffer arbeitete zu diesem Zeitpunkt an seinem Buch und der gleichnamigen Dokumentarfilmserie «How should we then live?». Das Thema Abtreibung spielte darin keine Rolle. Es ging um eine Kulturgeschichte: darum, wie die Renaissance und die Aufklärung mit ihrem säkularen Humanismus angeblich den «christlichen Konsens» und damit auch die Grundlage der Freiheit in den USA zersetzen.

Doch Frank Schaeffer drängte seinen Vater dazu, das Skript umzuschreiben und das Recht auf Abtreibung zu kritisieren: «Wie kannst du sagen, dass du an die Einzigartigkeit jedes menschlichen Wesens glaubst, ohne für diese Sache einzustehen?» Doch Francis Schaeffer antwortete: «Ich will nichts zu tun haben mit dieser katholischen Angelegenheit.»

Francis Schaeffer war zu diesem Zeitpunkt bereits eine bekannte und ungewöhnliche Stimme in der evangelikalen Welt. Für ihn war jedes Wort in der Bibel wahr, aber er sprach nicht nur in Bibelversen. Er verstand sich nicht nur als Pastor, sondern auch als Kunsthistoriker und Philosoph. «Er konnte auch Vorlesungen über Bob Dylans Songtexte oder Woody Allens frühe Filme halten», erzählt Frank Schaeffer. Sein Vater teilte die Kritik der linken Hippiegeneration an der materialistischen Bourgeoise, nicht aber ihre Lösungen. Leute wie Jimmy Page, der Gitarrist von Led Zeppelin, oder Eric Clapton sollen Francis Schaeffers Buch «Escape from Reason» gelesen haben. Auch der LSD-Hohepriester Timothy Leary besuchte L’Abri.

Francis Schaeffer an einer Konferenz in Chicago 1981. Unter Evangelikalen war er zu dieser Zeit ein Star.

Francis Schaeffer an einer Konferenz in Chicago 1981. Unter Evangelikalen war er zu dieser Zeit ein Star.

Sieben Chalets und 120 Personen umfasste die Gemeinschaft auf ihrem Höhepunkt: «Die Menschen kamen, um mit meinem Vater zu sprechen. Er war der Guru», erinnert sich Frank Schaeffer.

Nackte Plastik-Babys am Toten Meer

Irgendwann tauchte auch Genie Walsh in Huémoz auf. Sie war schön, aber nicht gläubig. Der 17-jährige Frank verliebte sich auf den ersten Blick in die 18-jährige Hippie-Prinzessin. Seine zukünftige Frau war mit ihrer Schwester auf einer Zugreise durch Europa unterwegs. «Sie wussten über L’Abri nur, dass der Aufenthalt umsonst war.» Genie liebte die Beatles, und Frank hatte deren neustes Album, «Abbey Road». Alles ging sehr schnell: «Ich schwängerte sie.» Und bald kam Tochter Jessica in Vevey zur Welt.

Das junge Familienglück bestärkte Frank Schaeffer in seiner Meinung gegen Abtreibungen. Noch wichtiger aber war der Einfluss von Everett Koop, Chefchirurg des Kinderspitals in Philadelphia und später «Surgeon General» unter Präsident Ronald Reagan. Der evangelikale Christ und Abtreibungsgegner war ein langjähriger Familienfreund der Schaeffers. «Er war sehr charismatisch und eine Koryphäe auf seinem Gebiet», erklärt Frank Schaeffer. Darum habe er auf ihn gehört.

Francis Schaeffer gab dem Drängen seines Sohnes nach. Das Skript der zehnteiligen Dokumentarfilmserie «How should we then live?» wurde umgeschrieben. Am Ende der neunten Episode nennt Schaeffer das Urteil des Supreme Court von 1973 zum Abtreibungsrecht als Beispiel für eine «willkürliche Gesetzgebung», ohne christliches und damit auch moralisches Fundament.

Francis Schaeffer schrieb das Skript der Dokumentarfilmserie «How should we then live?» nachträglich um. In Folge neun kritisiert er das Recht auf Abtreibung als Beispiel für den Zerfall der christlichen Werte in den USA.

Frank Schaeffer, der die Filme produzierte, überredete seinen Vater gemeinsam mit Koop zu einer weiteren Serie, die sich allein auf die Themen Abtreibung, Kindstötung und Sterbehilfe konzentrierte: «Whatever happened to the human race?» Mit aufwühlender Musik und eindringlichen Bildern wecken die Episoden starke Emotionen. In einer Szene steht Doktor Koop am versalzten Ufer des Toten Meeres, das mit nackten Plastik-Babys übersät ist: «Das ist der Ort, an dem Sodom einst stand, die korrupteste Stadt der Welt. Sodom kommt einem in den Sinn, wenn man über das Übel der Abtreibungen und den Tod des moralischen Gesetzes nachdenkt.»

Die Evangelikalen in den USA interessierten sich auch Jahre nach «Roe v. Wade» jedoch nicht sonderlich für die Abtreibungsfrage. Die erste Tournee 1977 mit «How should we then live?» sei ein riesiger Erfolg gewesen, weil es vor allem um Theologie, Kultur und Geschichte gegangen sei, sagt Frank Schaeffer. «In New York füllten wir den Madison Square Garden und auch anderswo Stadien mit 25 000 Leuten. Die ganze christliche Prominenz kam.» Doch «Whatever happened to the human race?» sei zwei Jahre später ein totaler Flop gewesen: «Wir konnten nicht einmal die erste Reihe füllen, weil es um Abtreibungen ging. Niemand war interessiert.»

Die Steuervögte in Washington erzürnen die Evangelikalen

Die Anführer der Evangelikalen wollten von Schaeffers zweitem Filmprojekt nichts wissen. «Niemand mochte mitmachen», sagt Frank Schaeffer. Erst der republikanische Parteistratege und konservative Aktivist Paul Weyrich habe dies geändert. Der Architekt der amerikanischen religiösen Rechten war selbst Katholik. Doch weil die katholischen Wähler im Norden mehrheitlich für progressive Demokraten stimmten, hatte Weyrich seit vielen Jahren versucht, die evangelikalen Weissen, die vor allem im Süden und im Mittleren Westen leben, für seine Sache zu mobilisieren.

Der evangelikale Viertel der amerikanischen Bevölkerung galt als politisch apathisch. Weyrich habe dieses ungenützte Wählerreservoir erkannt, meint Schaeffer. «Er sah in meinem Vater eine Brücke zu diesem riesigen Publikum.»

Der Katholik und rechte Aktivist Paul Weyrich sah in Francis Schaeffer eine Brücke zu den Evangelikalen. Hier spricht er 1995 an der Jahreskonferenz der Christlichen Koalition in Washington.

Der Katholik und rechte Aktivist Paul Weyrich sah in Francis Schaeffer eine Brücke zu den Evangelikalen. Hier spricht er 1995 an der Jahreskonferenz der Christlichen Koalition in Washington.

Andrew Lichtenstein / Corbis / Getty

«Die Evangelikalen betrachteten die Abtreibungsfrage in den siebziger Jahren als eine katholische Angelegenheit», sagt auch der Historiker Randall Balmer. Die Southern Baptist Convention, die mächtigste evangelikale Kraft in den USA, habe 1971 eine Resolution für die Legalisierung von Abtreibungen verabschiedet und diese in den folgenden Jahren bestätigt.

Der tatsächliche Ursprung der evangelikalen Mobilisierung liege in der Aufhebung der Rassentrennung in den fünfziger und sechziger Jahren, erklärt Balmer, Professor für Religion an der Universität Dartmouth. Als Reaktion auf die Vorgaben aus Washington nahmen die Weissen in den Südstaaten ihre Kinder aus den öffentlichen Schulen und gründeten private Akademien als religiöse Nichtregierungsorganisationen. Diese waren steuerbefreit. Ein Gericht in Washington urteilte 1971 jedoch, dass eine Privatschule, die Rassendiskriminierung praktiziert, kein Anrecht auf eine Steuerbefreiung hat.

Als die Steuerbehörden in Washington begannen, das Urteil durchzusetzen, suchten die Evangelikalen nach einem geeigneten Thema, um ihren Widerstand zu mobilisieren. Weil sie nicht mit einer Vorliebe für Rassentrennung argumentieren konnten, beriefen sie sich zunächst auf die religiöse Freiheit und fanden dann in der Abtreibungsfrage die Lösung. Eines der evangelikalen Zugpferde war Jerry Falwell, ein Fernsehprediger, Gründer der christlichen Liberty-Universität und Gegner der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. «1978 predigte er erstmals gegen Abtreibungen», sagt Balmer. Wenig später formte er mit Weyrich die «Moral Majority». Die konservative Aktionsgruppe verhalf Ronald Reagan 1980 zum Wahlsieg.

Mit dem Meinungsumschwung in der evangelikalen Elite bekam auch Schaeffers zweite Dokumentarserie mehr Anerkennung. «Es war wie mit ‹Blade Runner›. Er fiel in den Kinos durch, aber wurde später zum Kultfilm», erzählt Frank Schaeffer. Sein Vater rief derweil in seinem neuen Buch «A Christian Manifesto» zum zivilen Ungehorsam auf. Und nicht nur das: «Es wird die Zeit kommen, in der Gewalt, auch physische Gewalt, angebracht ist.»

Das Buch und die Filme inspirierten und radikalisierten die Anhänger des wachsenden Pro-Life-Movement, der Bewegung der Abtreibungsgegner. Sie demonstrierten vor Kliniken, bedrohten die Anbieter von Schwangerschaftsabbrüchen und töteten Ärzte. Einer der Mörder war James Kopp. Er hatte Francis Schaeffer einen Fanbrief geschrieben und war nach Huémoz zu L’Abri gepilgert.

Das Gewissen quält ihn bis heute

«Ich verspüre bis heute enorme Reue für das, was passierte», sagt Frank Schaeffer, der nun in den USA nördlich von Boston lebt. In den Jahren vor dem Tod seines krebskranken Vaters 1984 war er selbst zu einem begehrten Redner und Autor in evangelikalen Kreisen geworden. «Falwell gab mir sein Privatflugzeug und einen Piloten, damit ich alle Einladungen wahrnehmen konnte.» Frank Schaeffer hätte in die Fussstapfen seines Vaters treten können. «Ich hätte einer der Leute sein können, die Trump ins Weisse Haus brachten. Der Mann im Bild hinter ihm im Oval Office.»

Frank Schaeffer gibt sich nachdenklich in seinem Haus nördlich von Boston. Bis heute bereut er seine frühen Dokumentarfilme zutiefst.

Frank Schaeffer gibt sich nachdenklich in seinem Haus nördlich von Boston. Bis heute bereut er seine frühen Dokumentarfilme zutiefst.

Kayana Szymczak für NZZ

Immer mehr aber schien ihm alles verlogen: «Das war ein falsches Christentum.» Dessen Prediger verdienten viel Geld mit dem Glauben ihrer Anhängerschaft. Seine Eltern hingegen lebten in der Schweiz stets bescheiden, hatten nie ein Auto, und es gab selten Fleisch auf dem Tisch. Schaeffer missfielen die schwulen- und frauenfeindlichen Ansichten der Pastoren. Seine eigenen immergleichen Reden langweilten ihn: «Abtreibung ist Mord, der säkulare Humanismus zerstört uns, geht zurück zu den christlichen Wurzeln, stimmt republikanisch.» Und so wechselte Frank Schaeffer schliesslich die Seiten.

Für Hollywood drehte Schaeffer zunächst drei wenig erfolgreiche Filme, bevor er mit autobiografisch geprägten Romanen wie «Portofino» oder «Zermatt» die eigene Geschichte aufarbeitete. «Wir hatten damals mehr Geld auf dem Büchertisch nach dem Ende unserer grossen Seminare, als ich heute in einem Jahr verdiene. Es waren Hunderttausende von Dollars.» Aber der Ausstieg habe auch seine Ehe mit Genie gerettet, mit der er nun bereits seit 52 Jahren verheiratet sei.

«Wir müssen den Frauen vertrauen»

Wie gross der Einfluss seiner evangelikalen Filme war, ist auch für Schaeffer schwer messbar. Aber er sagt: «Wenn wir die Serie mit Doktor Koop nicht gemacht hätten, wäre die amerikanische Politik eine andere. Das ist keine Frage.» Frank Schaeffer und sein Vater trugen dazu bei, dass die evangelikalen Christen praktisch geschlossen die Republikaner wählen, weil diese das Recht auf Abtreibung bekämpfen.

Ohne ihre Stimmen wäre George W. Bush 2000 nicht Präsident geworden, der Krieg im Irak hätte nicht stattgefunden, Donald Trump hätte 2016 gegen Hillary Clinton verloren und den Supreme Court nicht mit konservativen Richtern besetzen können, der Sturm auf das Capitol wäre ausgeblieben, und das Oberste Gericht hätte am Freitag das verfassungsmässige Recht auf Abtreibung nicht aufgehoben.

Schaeffer befürwortet dieses Recht heute. Allerdings würde er es nicht so breit auslegen wie der Supreme Court 1973. «Roe v. Wade» verfügte eine äusserst liberale Regelung, die Abtreibungen praktisch bis zur 24. Schwangerschaftswoche erlaubte. «Die Amerikaner wollen ein Recht auf Abtreibung, aber sie sind entsetzt über die Möglichkeit später Schwangerschaftsabbrüche», sagt Schaeffer. Die Linke habe es verpasst, diese ethischen Bedenken ernst zu nehmen. «Sie betrachtete das Urteil stets als unabänderliches Gesetz. Aber das war es nicht. Es brachte uns während 50 Jahren einen politischen Kampf, den die Rechte nun gewonnen hat.»

Im Zentrum dieses Kampfes stand meist die Frage nach dem Beginn des Lebens. Schaeffer jedoch sieht dies anders: «Die Frage muss lauten: Wem vertraue ich?» In der evangelikalen Welt seien die Frauen zweitklassige Wesen. «Die Religion lehrte mich als Mann, dass ich Frauen nicht vertrauen kann.» Aber kein Richter, kein Politiker und kein Priester könne die Abtreibungsfrage so gut entscheiden wie die betroffene Frau. «Es muss jene Person diese Wahl treffen, welche die schwersten Konsequenzen daraus zu tragen hat. Deshalb müssen wir den Frauen vertrauen.»

Ein Blick auf Frank Schaeffers Schreibtisch.

Ein Blick auf Frank Schaeffers Schreibtisch.

Kayana Szymczak für NZZ

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