Freeski-Star Eileen Gu ist Chinas olympische Titelheldin

Die 18-jährige Ausnahmeathletin befindet sich seit einem Nationenwechsel zwischen den Fronten der zerstrittenen Supermächte USA und China. Eileen Gu ist ein Vermarktungswunder, exklusiv für sie und ihre Entourage wird in China auch einmal ein Jumbo gechartert.

So gross der Hype bereits vor den Spielen war, so souverän hielt Eileen Gu dem immensen Druck stand. Am Freitag wird sie auch noch Olympiasiegerin in der Halfpipe.

Reuters

Eileen Gu war 15 Jahre alt, als sich Trolle über sie hermachten, ihr sogar mit dem Tod drohten. Im Winter zuvor hatte die Freeskierin aus San Francisco den ersten Weltcup-Sieg geschafft, in der Disziplin Slopestyle, für die USA, das Land des Vaters. Doch im Juni 2019 gab Gu auf Instagram bekannt, fortan für China anzutreten, das Land der Mutter.

Jetzt, mit 18, ist Gu in China das prominenteste Gesicht der Winterspiele, die omnipräsente (Werbe-)Figur in der Olympiastadt Peking, im Fernsehen, im Internet. Gu ist ein Vermarktungswunder in der ersten wie in der zweiten Heimat, also in den grössten beiden Volkswirtschaften der Welt, die in einem erbitterten Handelsstreit liegen. Sportmarketing-Experten schätzen, dass sie bereits zu den bestverdienenden Athletinnen der Welt gehört. 30 Millionen Dollar soll Gu allein mit Werbung schon verdient haben, dank über 30 Partnerschaften.

So gross der Hype bereits vor den Spielen war, so souverän hielt Eileen Gu dem immensen Druck stand. Am Freitag wurde sie auch noch Olympiasiegerin in der Halfpipe, nachdem sie schon Gold im Big Air und Silber im Slopestyle gewonnen hatte. In der Halfpipe, ihrer stärksten Disziplin, ist sie in dieser Saison noch ungeschlagen. Gu stand bereits vor ihrem letzten Run als Olympiasiegerin fest und konnte zum Abschluss einen reinen Show-Run ohne schwierigen Trick zeigen.

In den ersten beiden Olympiafinals hatte sie sich in extremis nach vorne gekämpft. Im Big Air war Gu vor dem letzten Sprung Dritte, dann wagte sie erstmals einen Trick mit viereinhalb statt vier Drehungen – und gewann den hochklassigen Wettkampf. Im Slopestyle verbesserte sie sich im letzten Durchgang vom achten auf den zweiten Platz – 0,33 Punkte hinter der Olympiasiegerin Mathilde Gremaud aus dem Greyerzerland.

Zwei Flaggen – das gibt es nicht im Sport

Als Athletin ist Eileen Gu vielseitig, und als Mensch ist sie beides, Amerikanerin und Chinesin, ein California Girl, das fliessend Mandarin spricht, aber immer noch in der Geburtsstadt San Francisco lebt, in einem Frauenhaushalt mit der Mutter und der Grossmutter. Doch beides gibt es nicht in der Welt des Sports, da muss sich jede und jeder für eine Flagge entscheiden, und wer die Nation wechselt, muss befürchten, in der ersten Heimat des Verrats bezichtigt zu werden.

Das eine Land bildet aus, das andere Land profitiert davon – die Schweiz kennt solche Debatten aus dem Fussball: Ivan Rakitic und Mladen Petric, die Aargauer, die für Kroatien spielten statt für die Schweiz. Doch was ist das schon im Vergleich zu einem Wechsel zwischen den USA und China, den zwei Supermächten?

Eileen Gu schrieb im Juni 2019 auf Instagram von einem «unglaublich schwierigen Entscheid». Während der Olympischen Spiele 2022 in Peking Millionen junger Menschen im Geburtsland ihrer Mutter zu inspirieren, sei eine einmalige Gelegenheit, den Sport zu promoten, den sie liebe. Sie hoffe, durch das Skifahren Menschen zu vereinen, das gegenseitige Verständnis zu fördern, Freundschaften zwischen Nationen zu formen. Die Nachricht endete mit einer US-Flagge, einer China-Flagge, einem Herzen.

Ein Problem war: Eileen Gu und ihrer Mutter, der treibenden Kraft in dieser Karriere und bei diesem Wechsel, wurde wirtschaftliches Kalkül unterstellt. Ausgerechnet in den USA, wo es doch eigentlich zum guten Ton gehört, alles herauszuholen. Und dann hatte der Schritt eben auch noch eine politische Dimension.

Über Politik redet sie nicht

«Ich mache Corks in einem eisigen, 22 Fuss hohen, U-förmigen Gebilde aus Schnee», sagte Gu gegenüber der «New York Times». «Das ist nicht politisch. Es geht darum, menschliche Grenzen auszureizen, und das verbindet Menschen.» Gegenüber dem Nachrichtenmagazin «Time» artikulierte sie sich so: «Im Sport sind Rasse, Geschlecht, Religion und Nationalität egal.»

Wenn es nur so einfach wäre. Im Sport. Und im Leben von Eileen Gu.

Gu weicht politischen Fragen, Themen wie der Menschenrechtslage in China, konsequent aus, und natürlich schützt sie so auch ihre kommerziellen Interessen. Aber vor allem schützt sie sich selbst. Gu ist zwischen den Fronten, ob sie will oder nicht. Würde sie sich kritisch äussern, in die eine oder in die andere Richtung – es käme auf der einen Seite gut an und auf der anderen Seite schlecht. Also hält sie sich zurück. Und sagt immer wieder diesen Satz: «Wenn ich in den USA bin, bin ich Amerikanerin, aber wenn ich in China bin, bin ich Chinesin.»

Ist Gu bloss neutral? Oder opportunistisch? Darf man einer 18-Jährigen oder überhaupt jemandem in ihrer Situation vorwerfen, keine mutigere Haltung einzunehmen?

In den USA wird Gu argwöhnischer gesehen als in China, die USA sind ja auch das Land, von dem sie sich als Athletin abgewendet hat. Und China ist das Land, in dem allfällige Kontroversen um einen staatlich anerkannten Star im Keim erstickt würden.

Eileen Gu startet jetzt als Ailing Eileen Gu. In China nennt man sie Schneeprinzessin, das Land hat keinen zweiten Wintersportstar wie sie mit einer internationalen Strahlkraft. In der US-Olympiadelegation wäre sie eine auffallende, aber nicht die überragende Figur, da gibt es Mikaela Shiffrin, die alpine Skirennfahrerin, oder Shaun White, den Halfpipe-Snowboarder.

Eileen Gu ist in China das wohl prominenteste Gesicht der Olympischen Winterspiele. Ihr Portfolio an Sponsoren und Werbepartnern ist so umfassend, dass man leicht den Überblick verliert.

Eileen Gu ist in China das wohl prominenteste Gesicht der Olympischen Winterspiele. Ihr Portfolio an Sponsoren und Werbepartnern ist so umfassend, dass man leicht den Überblick verliert.

Tingshu Wang / Reuters

Doch auch Gu ist eine absolute Ausnahmeathletin, Weltklasse in allen drei Freeski-Disziplinen, Slopestyle, Big Air, Halfpipe – solche Allround-Qualitäten hat sonst keine. «Ich hoffe auf zweimal Gold und eine dritte Medaille», hatte Misra Noto, ihr Schweizer Trainer, zwei Tage vor der Eröffnungsfeier gesagt. Und seine Hoffnungen erfüllten sich.

China hatte an den letzten Winterspielen 2018 in Pyeongchang nur einmal Gold, sechsmal Silber und zweimal Bronze gewonnen; 15 Nationen waren erfolgreicher. Da kam hochkarätige Verstärkung gerade recht. Nach Gus zweitem Olympiasieg am Freitag stand China mit achtmal Gold, viermal Silber und zweimal Bronze da; nur Norwegen, Deutschland und die USA lagen im Medaillenspiegel vor dem Heimteam.

Über den Vater ist nichts bekannt

Eileen Gu posierte schon vor drei Jahren, noch vor dem Nationenwechsel, mit dem Staatspräsidenten Xi Jinping, in Gesellschaft anderer chinesischer Sportlerinnen und Sportler. Sie reist seit frühester Kindheit fast jeden Sommer nach Peking, in die Heimatstadt der Mutter.

Diese Mutter, Yan Gu, zog Eileen ohne den Vater gross. Auch der Vater ist ein Tabuthema, die Öffentlichkeit weiss nichts Gesichertes über ihn. Yan Gu war vor etwa dreissig Jahren als Studentin in die USA immigriert, eine Zeitlang jobbte sie als Skilehrerin im kalifornischen Gebiet Northstar. Yan Gu sagt, sie habe Eileen in einen Freestyle-Kurs geschickt, weil es ihr Angst gemacht habe, wie schnell und furchtlos das Mädchen geradeaus gefahren sei.

Auch Yan Gu äussert sich nicht zu Politik. Gegenüber der «New York Times» erklärte sie, sie lasse sich zu ihrer Tochter nur zitieren, wenn ihr keine politischen Fragen über China gestellt würden und wenn man ihr den Artikel vor der Publikation vorlege. Worauf sich die Zeitung nicht einliess.

Um die Frage, ob Eileen Gu ihren US-Pass habe abgeben müssen, weil China keine doppelten Staatsbürgerschaften erlaubt, wird ein Geheimnis gemacht. Red Bull, ein wichtiger Sponsor der Athletin, schrieb auf der eigenen Website, Gu habe die US-Staatsangehörigkeit mit 15 Jahren aufgegeben, um in Peking für China antreten zu können. Als das «Wall Street Journal» die Information bei Red Bull verifizieren wollte, erhielt die Zeitung keine Antwort – und die entsprechende Passage verschwand von der Website. Der Gedanke, dass China für jemanden wie Gu eine Ausnahme machte und sie den US-Pass behalten durfte, liegt nahe.

Als Gu die Nation wechselte, war erst ansatzweise zu erkennen, dass sie ihren Sport einst dominieren könnte. Doch vor einem Jahr ging sie durch die Decke. An den X-Games in Aspen, dem zweitwichtigsten Anlass neben den Olympischen Spielen, feierte sie zwei Siege und einen dritten Platz – nie zuvor war eine Debütantin so erfolgreich gewesen. An den Weltmeisterschaften am selben Ort kam sie auf die gleiche Bilanz.

Gu ist beides, Amerikanerin und Chinesin, ein California Girl, das fliessend Mandarin spricht.

Gu ist beides, Amerikanerin und Chinesin, ein California Girl, das fliessend Mandarin spricht.

Austin Colbert / AP

Als sie durch die Decke geht: Gu an den Weltmeisterschaften 2021 in Aspen.

Als sie durch die Decke geht: Gu an den Weltmeisterschaften 2021 in Aspen.

Imago

Ihr Schweizer Trainer erlebt ein Abenteuer

Trotzdem suchte Gu für die Olympiasaison einen neuen Coach. Und verpflichtete Misra Noto. Noto hatte bis zum Ende der Olympiasaison 2017/18 das erfolgreiche Schweizer Team trainiert. Seither arbeitet er in einer Indoor-Surfanlage in Ebikon. Von diesem Job hat er eine siebenmonatige Auszeit genommen, um Gu zu betreuen. Was Noto jetzt zu erzählen hat, klingt wie das Abenteuer seines Lebens.

Begonnen hatte die Saison noch ziemlich normal, mit Trainingscamps in Saas-Fee und Österreich, mit all den Wettkämpfen in Nordamerika, von denen Gu die meisten gewann. Normal heisst bei ihr, dass sie ein Trainingslager unterbricht, für einen Kurztrip in einem Privatjet an die Paris Fashion Week oder das Pendant in New York. Gu ist auch ein gefragtes Model, in ihrem Zweitberuf arbeitet sie für Labels wie Victoria’s Secret oder Louis Vuitton.

Misra Noto.

Auf der Tour bestand das Privatteam nur aus der Athletin, ihrer Mutter und Misra Noto. «Doch seit wir vor zweieinhalb Wochen in China ankamen, sind wir mit zehn, zwölf Leuten unterwegs», sagte Noto zwei Tage vor der Eröffnungsfeier, «Verbandsoffizielle, Servicemann, medizinische Betreuer, zwei Köche, Chauffeur.» Als noch niemand auf den Olympiaanlagen trainieren konnte, reisten Gu und ihre Entourage für einige Tage in ein anderes Gebiet in China, «in einer Boeing 747, die nur für uns gechartert war». Die Frage, wohin genau sie denn geflogen seien, beantwortet Noto nicht. «Ich weiss nicht, was ich alles erzählen darf, da bin ich lieber vorsichtig.»

Gu und Noto sind nicht im olympischen Dorf untergebracht, sondern in Hotels, wie alle chinesischen Topathletinnen und Topathleten. «Wir werden abgeschottet, und wenn wir irgendwo hinfahren, eskortieren uns Polizeiautos, und Autobahneinfahrten werden gesperrt. Es ist eine ziemlich wilde Geschichte. Wo wir auftauchen, zücken alle ihre Handys, so etwas habe ich noch nie erlebt.»

Die vorolympische PR- und Medienarbeit im Veranstalterland hatte Gu im Sommer erledigt. Ihr Portfolio an Sponsoren und Werbepartnern aus China wie aus dem Westen ist so umfassend, dass man leicht den Überblick verliert. Gu inszeniert sich und wird inszeniert, durchgestylt, massentauglich, als makellose junge Superfrau, die auch noch gut Klavier spielt und ab Herbst an der Eliteuniversität Stanford studieren wird. In einer Red-Bull-Doku aus der vergangenen Saison sagt Gu, während des Krafttrainings höre sie Podcasts der «New York Times» oder des «Wall Street Journal».

Gu an einem Termin in Peking im Dezember 2019. Die vorolympische PR- und Medienarbeit im Veranstalterland erledigte sie im Sommer.

Gu an einem Termin in Peking im Dezember 2019. Die vorolympische PR- und Medienarbeit im Veranstalterland erledigte sie im Sommer.

Imago

Misra Noto beeindruckt nicht nur der Hype um Eileen Gu. Sondern auch ihr Fleiss. «Sie schläft jede Nacht zehn Stunden, steht auf und ist mit Leichtigkeit und Freude produktiv, bis sie wieder ins Bett geht. Unvorstellbar, wie sie mit allem umgeht, auch mit dem Druck.» Wenn sich andere nach einem Wettkampf ausruhen, trainiert sie schon wieder – anders wäre es selbst für eine wie sie kaum möglich, in allen Disziplinen gleichzeitig auf dem höchsten Niveau zu sein.

Eileen Gu war die chinesische Titelheldin, noch ehe die Spiele begonnen hatten. Nun haben sie die Spiele noch grösser gemacht, hat sie sich selber noch grösser gemacht. In China, den USA, in der ganzen Welt des Wintersports.

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