Generalinspekteur im Interview: Breuer: Ukrainische Soldaten fragen uns, “Wo sind denn eure Drohnen?”

Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, hat seinen neuen Counterpart in der Ukraine getroffen. Über effektive Hilfe für Kiews Truppen, Herausforderungen für deutsche Soldaten, und warum zum Üben auch eine Drohne aus dem Elektromarkt taugt, spricht er mit ntv.de.

ntv.de: Sie haben uns etwas voraus, Herr Breuer. Sie haben den neuen Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte schon kennengelernt. Wollten Sie schnell ein Gefühl für Ihren neuen Counterpart bekommen?

Carsten Breuer: Ich bin noch auf Einladung von General Saluschnyj in die Ukraine gereist. Das stand schon länger fest. Ich wollte mich mit ihm treffen, um an unsere Gespräche im vergangenen Jahr anzuknüpfen und diese weiterzuführen. Ich wollte mir ein eigenes Bild davon machen, dass unsere Unterstützung zielgerichtet dem Bedarf der Ukraine entspricht. Und dabei feststellen, wo wir etwas verbessern können. Dazu war auch ein Treffen mit dem ukrainischen Verteidigungsminister geplant.

Dann entließ Präsident Selenskyj General Saluschnyj, während Sie in Kiew waren?

Erst wurde der Termin mit General Saluschnyj um eine halbe Stunde verlegt, dann fiel er ganz aus, weil Saluschnyj zum Präsidenten musste. Am nächsten Tag war General Oleksandr Syrskyj im Amt. Wir konnten dann schnell und unkompliziert ein Treffen arrangieren. Das Interesse von General Syrskyj war hoch, auch weil Deutschland einer der größten Unterstützer der Ukraine ist. Wir hatten ein sehr gutes und ausführliches Gespräch.

Wie war Ihr Eindruck von ihm als Person?

Bei unserem Treffen dort habe ich ihn als sehr überlegten, klugen Mann kennengelernt. Wir haben operative Fragestellungen besprochen und ich habe den Eindruck gewonnen, dass er einen klaren Plan hat, wohin er will und wie er einen Unterschied herbeiführen könnte. Ich denke, General Syrskyj ist ein Oberbefehlshaber, der die Truppe mit kühlem Kopf und unter Berücksichtigung aller wesentlichen Faktoren führen wird.

Seine Karriere hat Erfolge und Misserfolge – er war federführend bei der Verteidigung Kiews, bei der Offensive in Charkiw, aber hat auch Bachmut mit verloren. Aus Awdijiwka haben sich die Ukrainer vor zwei Wochen zurückgezogen. War das eine Lehre aus den hohen Verlusten von Bachmut?

Ich weiß gar nicht, ob das eine “Lesson learned” ist oder einfach die nüchterne Lagebeurteilung. Sie können eine jeweilige Situation ja nie eins zu eins übertragen. Man kann vielleicht Parallelen erkennen, aber es lässt sich nie sagen: Weil das dort so war, mache ich das jetzt anders. In Awdijiwka drohte der Versorgungskorridor geschlossen zu werden, man hätte dann eine vom Nachschub abgeschnittene Stadt, vom Nachschub abgeschnittene Truppe gehabt. Vor diesem Hintergrund entschied General Syrskyj – das hat er sehr klar gesagt -, die Truppen dort abzuziehen, um das Leben der Soldatinnen und Soldaten zu schonen. Ich glaube, bei Bachmut war die Situation aufgeladener, hatte eine Symbolkraft gewonnen, die man jetzt in Awdijiwka vermeiden wollte.

Überall an der Front mangelt es an Granaten für die Artillerie und an anderer Munition. Zugleich sind viele Soldaten seit zwei Jahren im Krieg, manche auch schon seit 10 Jahren. Wie viel Kraft ist noch in der Truppe?

Ich war nicht direkt an der Front. Die Soldaten, mit denen ich sprechen konnte, habe ich, trotz aller Entbehrungen, als unverändert sehr entschlossen erlebt. Da war keine Resignation. Die Moral ist, glaube ich, nach wie vor sehr hoch. Obwohl man Mensch und Material natürlich anmerkt, wie lange dieser Krieg schon andauert. Es macht etwas mit den Soldatinnen und Soldaten, wenn sie über Monate hinweg in einem so furchtbaren Krieg kämpfen. In der derzeitigen Lage sind größere Bewegungen an der Front kaum möglich. Beide Seiten können nur unter hohem Blutzoll auf dem Gefechtsfeld vorrücken. Besonders das stetig verbesserte Zusammenspiel von Minen, Drohnen und Artillerie erschwert jede Bewegung. Die ukrainischen Soldatinnen und Soldaten räumen Minen nicht mehr mit Großgerät, sondern machen das vielfach in händischer Arbeit mit Minensuchnadeln, und das Ganze unter Luftbedrohung, unter Bedrohung vor allem durch Drohnen. Gerade deshalb beschränken sich diese Aktivitäten vielfach auf die Nacht.

Vor kurzem hat mir eine Frau in der Ukraine von ihrem Mann an der Front berichtet, dessen Truppe Panzer, die sie aus russischen Stellungen kommen sieht, nicht beschießt. Lieber bewahren sie die Munition, es könnte ja eine Situation kommen, die noch prekärer ist.

In einer Situation wie der aktuellen, muss jeder in seinem Abschnitt kritisch den Einsatz von Munition abwägen. So etwas wird trainiert, auch in der Bundeswehr. Zu einer Situation, wie Sie sie gerade beschrieben haben, kann es in jedem Krieg kommen: Sie haben gekämpft, es ist nur noch wenig Munition übrig und Sie wissen: Erstmal kommt kein Nachschub, der kommt erst in zwei, drei, vier Stunden oder am nächsten Tag. Das ist soldatisches Handwerk. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ukraine zwingend auf weitere westliche Unterstützung angewiesen ist – Nachschub kann nur dann an die Front kommen, wenn Munition vorhanden ist, die auch nachgeschoben werden kann.

Weil Sie eben Drohnen erwähnten: Dass man Artilleriegranaten und Patriot-Munition nicht in drei Tagen produziert, ist nachvollziehbar. Aber Drohnen – da stellen die Ukrainer Baupläne ins Internet und sagen: “Leute, baut die zuhause nach und schickt sie an die Front.” Warum schickt der Westen nicht massenweise Drohnen in die Ukraine?

Der Kampf mit Drohnen hat eine ganz andere Bedeutung eingenommen als viele vor Jahren noch vermutet hätten. Wir sehen bei Drohnen technische Möglichkeiten, die sich sehr viel schneller entwickeln lassen als andere Munition. Der Kriegsdruck, der Druck, sich zu wehren um zu überleben, hat den Innovationszyklus noch weiter beschleunigt. In Deutschland habe ich aus dem Verteidigungsministerium heraus eine Task Force Drohnen eingesetzt, die auf der einen Seite laufende Projekte bündelt, die aber auch dafür sorgen soll, Beschaffung schneller zu ermöglichen – so dass wir Drohnen schneller einsetzen, aber auch abwehren können. Bei dieser Entwicklung müssen wir unbedingt Schritt halten.

In welchen Dimensionen denken Sie da? Geht es schon um Massenproduktion?

Wir machen beides. Wir schauen weiter in die Zukunft, aber wir blicken auch sehr konkret auf die Gegenwart. Derzeit trainieren wir ukrainische Soldatinnen und Soldaten auch in Deutschland. Im vergangenen Herbst war eine der ersten Fragen: “Wo sind denn eigentlich eure Drohnen?” Inzwischen sorgen wir dafür, dass Drohnen auch für die Ausbildung zur Verfügung stehen. Gleichzeitig bringen wir die Kampferfahrung der Ukrainer auch in unsere Ausbildung mit ein. Und wir haben Möglichkeiten geschaffen, Drohnen auch einfach in einem Elektromarkt kaufen zu können. Die sind weder bewaffnet, noch elektromagnetisch gehärtet, aber zur Ausbildung hervorragend nutzbar. Wir haben die Bedeutung erkannt und darauf reagiert.

Mit den Drohnen kann man jeden Quadratmeter des Schlachtfelds aufklären. Den Gegner zu überraschen, ist fast unmöglich und die schweren Waffen werden kaum eingesetzt.

Sie werden schon eingesetzt, aber eingeschränkt und anders als bisher. Auf dem Gefechtsfeld verändert sich gerade unglaublich viel. Und diesen rasanten Prozess muss man beobachten, analysieren und dann Konsequenzen daraus ziehen. Das ist in jedem Krieg der Fall. In diesem passiert es vielleicht besonders schnell, weil wir an einem Kipppunkt sind, an dem neue technologische Möglichkeiten auf eine sich sehr schnell wandelnde Welt- und Sicherheitslage treffen.

Erwarten Sie aus militärischer Sicht als nächste Waffe, die eine der Parteien in Vorteil bringt, eine bessere Drohne oder eine Waffe, die Drohnen wirksamer bekämpft? Verbessern oder Ausschalten?

Kein entweder oder, sondern beides wird Hand in Hand gehen. Wir müssen auf beide Richtungen blicken, auch in Deutschland.

Wenn man zehn Ukrainer zur Lage an der Front befragt, sagen gefühlt neun: Wir brauchen Taurus – so zumindest war es gerade, als ich in der Ukraine war. Wie war bei Ihrem Besuch die Quote?

Ich bin auf Taurus überhaupt nicht angesprochen worden. Und wenn ich angesprochen worden wäre, hätte ich immer dasselbe geantwortet: Das ist eine politische, keine militärische Frage.

Die Antwort habe ich von Ihnen auch schon gehört.

Ich würde Sie auch noch mal wiederholen.

Aber abseits der politischen Entscheidung, rein militärisch betrachtet: Welche Wirkkraft könnte Taurus haben, wenn er in der aktuellen Situation der Unterlegenheit russische Nachschubwege stören würde?

Alles, was ich jetzt zu Taurus sagen würde, würde in den politischen Bereich reichen. Sehen Sie es mir nach, wenn ich mich nicht dazu äußere. Bei meinem Ukraine-Besuch ging es vielfach darum, wie wir in dem sehr breiten Spektrum unserer Ausstattungs- und Ausbildungshilfen besser unterstützen können. Andere Waffen waren dabei kein Thema. Wir haben besprochen, wie man die Instandsetzung von beschädigtem Material verbessern kann. Wie kann man Ersatzteile schneller an die Front liefern? Wie können Liefermengen erhöht werden?

Wenn wir den Krieg in der Ukraine verfolgen, beziehen wir was dort passiert auch auf unsere eigenen militärischen Fähigkeiten. Da hat Boris Pistorius neulich mit dem Ziel “kriegstüchtig” zu werden, einen Pflock eingehauen. Den Ausdruck hatte er bei Ihnen abgeguckt, oder?

Mir sind die Inhalte des Ausdrucks “Kriegstüchtigkeit” wichtig. Der Begriff ist lange und intensiv diskutiert worden. Kriegstüchtigkeit zielt auf materielle und personelle Einsatzbereitschaft und eine Gedankenwende ab. Es geht darum, die Einstellung aller auf Landes- und Bündnisverteidigung auszurichten. Das heißt auch zu verstehen, dass wir jederzeit einsatzbereit sein müssen. Nur dann funktioniert Abschreckung.

Wenn es darum geht, ein Mindset an neue Realitäten anzupassen, denken Sie eher an den Mindset in der Bundeswehr oder den aller 80 Millionen?

Sowohl als auch. Dabei geht es um die Wehrhaftigkeit, die Resilienz der Gesellschaft. Wir beschäftigen uns in Deutschland wieder mit einem Thema, das wir vor Jahren weggeschoben hatten, das keine Rolle mehr spielte. Wir waren ja von Freunden umgeben. Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim vor fast genau 10 Jahren hat sich das verändert und seit dem 24. Februar 2022 sollte jedem bewusst sein, dass die Zeit des Beiseite-schiebens vorbei ist. Wir müssen jetzt die richtigen Konsequenzen ziehen.

Welche wären das aus Ihrer Sicht?

Über Jahre hat die Bundeswehr Einsätze bestritten: in Afghanistan, auf dem Balkan, in Mali. Das war jeweils, wenn Sie so wollen, ein “war of choice”. Wir konnten über Art und Umfang des Einsatzes entscheiden. Das können wir zukünftig nicht mehr. Heute sind wir mit einem möglichen “war of necessity” konfrontiert. Eine Bedrohung, die uns von außen vorgegeben wird, der wir nicht ausweichen können. Das heißt: Wir müssen mit all dem, was wir haben, kriegstüchtig sein und kämpfen können. Diesen Mindset-Wechsel haben viele schon vollzogen, aber der Wandel von einer Einsatzarmee hin zu einer Armee in der Landes- und Bündnisverteidigung muss weiter nach vorne gebracht werden.

Wir haben 18 Leopard 2 an die Ukraine gegeben und 18 nachbestellt, keinen einzigen zusätzlich. Reicht das, um kriegstüchtig zu werden, wenn wir nur auffüllen, was wir im Minus waren?

Wir tun da mehr. Ungefähr 80 Prozent des Sondervermögens sind bereits in Verträgen festgelegt. Dabei haben wir hauptsächlich Ausstattung off the shelf, aus dem Regal, bestellt. Artikel, die fertig entwickelt sind und nur noch produziert werden müssen. Die Produktion und Auslieferung braucht allerdings Zeit. Genau in diesem Tal befinden wir uns jetzt. Wir haben schon viel Geld gebunden, das Material läuft aber der Bundeswehr noch nicht zu, weil es noch produziert werden muss. Ihre Frage zielt aber darauf ab: Wie machen wir es zukünftig? Wir haben die Beschaffung deutlich beschleunigt. Aber auch hier brauchen wir einen Mindset-Wechsel.

Worauf zielen Sie dort vor allem ab?

Zwischen den Bedürfnissen der Truppe und dem, was die Industrie anbietet, hat man sich in der Vergangenheit immer wieder gegenseitig hochgeschaukelt. Wir hatten wenig Geld, aber viel Zeit. Es entwickelte sich eine Spirale, die bei vielen Beschaffungen zu komplexen Goldrandlösungen führten. Dem haben wir einen Riegel vorgeschoben. Heute haben wir sehr wenig Zeit, aber mehr finanzielle Mittel. Wir haben klare Verantwortlichkeiten verteilt: Einer, der letztendliche Nutzer, sagt, was notwendig ist. Und kontrolliert am Ende vor der Beschaffung auch, ob das ausgehandelte Ergebnis das ist, was er braucht. Damit weichen wir von den bisherigen prozessualen Vorgaben ab und können Projekte schneller realisieren. Die neuen Maßnahmen greifen schon, das ist aber kein Schalter, den man umlegt, und plötzlich geht alles in die neue Richtung. Es ist allemal ein zäher Prozess mit vielen unterschiedlichen Beteiligten. Wir sind aber auf dem richtigen Weg und werden diesen konsequent weiter beschreiten.

Mit Carsten Breuer sprach Frauke Niemeyer

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