Gianni Infantino, der Emir der Fifa

Die arabischen Staaten werden immer mächtiger. Während europäische Politiker und Manager damit hadern, hat der Fifa-Präsident die neue Realität nicht nur akzeptiert. Infantino erkennt sie an und profitiert von ihr wie kaum ein Zweiter.

Eng verbandelt mit Katar: Gianni Infantino (links) zusammen mit dem katarischen Emir Tamim bin Hamad Al Thani bei der Auslosung der WM-Gruppen.

Carl Recine / Reuters

Mitten in seinem einstündigen Monolog sagte Gianni Infantino, Europa müsse sich für seine 3000-jährige Geschichte entschuldigen. Vor 3000 Jahren ging die Bronzezeit zu Ende, eine Idee namens Europa gab es noch lange nicht. Später streckte er beide Arme aus, als sei er Jesus Christus, und rief: «Ihr könnt mich kreuzigen. Dafür bin ich da. Kritisiert niemanden sonst. Kritisiert nicht Katar.» Ausserdem sagte der Fifa-Präsident, er fühle sich schwul, afrikanisch, behindert. Die Debatte um kulturelle Aneignung muss an ihm vorbeigegangen sein.

Der Wutausbruch des 52-jährigen Wallisers vor der Weltpresse, einen Tag vor dem ersten WM-Spiel in Doha, geht in die Sportgeschichte ein. Selten leistete sich ein Sportfunktionär einen polarisierenderen Auftritt. Was in Europa verstörte, wurde in weiten Teilen der Welt bejubelt, das bezeugen Hunderttausende Likes und Kommentare in den sozialen Netzwerken.

Gianni Infantinos denkwürdiger Monolog vor der Weltpresse.

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Der Vortrag verzerrte die Realitäten. Katar ist eines der reichsten Länder der Erde und eine Wohlstandsoase für seine Bürger. Doch Infantino erweckte den Eindruck, es sei das Land der Armen, der Verzweifelten und der Missverstandenen. Im letzten Jahr beherbergte Katar 197 Flüchtlinge. In der Schweiz, nach Einwohnern etwa dreimal so gross wie das Emirat inklusive seiner Gastarbeiter, waren es 600 Mal so viele.

Allerdings hat die Ansprache noch eine tiefere Dimension. Sie spielte sich inmitten einer gewichtigen geopolitischen Verschiebung ab. Katar gehört mit Saudiarabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten zu jenen Staaten, die Macht gewinnen, während Europa sie verliert. Die Länder sind Gas- und Öllieferanten, Grossaktionäre westlicher Firmen, Luxus-Feriendestinationen. Der Trend ist eindeutig, doch er wird in Europa relativiert und beschönigt.

Ulrich Körner, der CEO der Credit Suisse, akzeptiert zwar einen milliardenschweren Einstieg der Saudi National Bank. Doch er beteuert fast trotzig: «Der Charakter der Bank wird dadurch in keiner Weise beeinflusst.» Deutschlands Wirtschaftsminister Robert Habeck verhandelt in Katar über Gas, um vor Ort ein dreiminütiges Video zu veröffentlichen, indem er mit besorgter Miene zum Ausdruck bringt, wie schwer ihm das alles falle.

Im scharfen Kontrast dazu agiert Infantino. Er laviert nicht, er beschwichtigt nicht. Er hat die neue Realität nicht nur akzeptiert, sondern lebt sie voller Überzeugung aus. Er tut dies in einer Konsequenz, die aus seiner besonderen Biografie heraus zumindest teilweise erklärbar ist.

Der Umzug nach Katar

Infantino ist im Prozess, die veränderten Machtverhältnisse anzuerkennen und auszunutzen, weiter als die meisten im Westen. Als seine Spin-Doktoren immer noch betonten, er sei gegen die Wahl Katars als WM-Ausrichter gewesen, war der Fifa-Präsident bereits in das Emirat am Persischen Golf gezogen. Seit über einem Jahr ist Katar Infantinos vorübergehende Wahlheimat. An seinem Steuerdomizil in Zürich, dem Hauptsitz der Fifa, verbrachte Infantino jüngst nur noch etwa eine Woche pro Monat.

In der katarischen Hauptstadt Doha soll Infantino an bester Adresse leben, auf der künstlichen Halbinsel «The Pearl» vor der Ostküste. Sie wurde nach dem Vorbild von «The Palm» in Dubai gebaut. Es ist einer der wenigen Orte in Katar, wo auch Ausländer Wohneigentum erwerben können.

Infantinos Frau, eine Libanesin, ist vom neuen Wohnsitz besonders angetan. Sie arbeitete früher beim libanesischen Fussballverband, in jener Zeit lernte sie Infantino kennen. In Katar wird ihre arabische Muttersprache gesprochen. Die beiden jüngeren Töchter gingen zeitweise in eine internationale Schule in Doha, die beiden älteren studieren an anderen Orten.

Nicht einmal die Fifa-Mitarbeiter wurden über den Wohnortswechsel informiert. Mehrere von ihnen hätten erst aus den Medien davon erfahren, sagt ein ehemaliger Angestellter.

Infantino kann machen, was er will

Vieles, was beim Verband kommunikativ schiefläuft, lässt sich mit dem lamentablen Zustand der Organisation begründen. Seit Jahren herrscht in der Medienstelle ein Kommen und Gehen. Es mangelt an einer Persönlichkeit, die Infantino die Stirn bieten könnte. Der Präsident kann letztlich machen, was er will. Dass es für seinen Auftritt in Doha ein Manuskript gab oder wenigstens klare mündliche Absprachen, gilt als unwahrscheinlich.

Während sich Fifa-Mitarbeiter auf dem Zürichberg bisweilen fragen, wo ihr Präsident steckt, hält dieser zumindest den Kontakt zu privat nahestehenden Personen in der Schweiz. Mit seiner Schwester Daniela Infantino telefoniert der Fifa-Präsident beispielsweise regelmässig. «Er ist ein lieber Bruder und für mich der Grösste», sagt die Berufsschullehrerin, doch ausführlicher reden möchte sie ohne das Einverständnis von Gianni nicht.

Die Geschwister eint eine schwierige Kindheit. Ihre Eltern waren in einer Zeit als Gastarbeiter aus Italien in die Schweiz gekommen, als man auf der Strasse über die «Tschinggen» schimpfte. Gianni Infantino litt unter den Anfeindungen. Sie beschäftigen ihn bis heute so sehr, dass er die erlittenen Kränkungen in seiner Rede in Doha thematisierte. Er sei für seine roten Haare und seine Sommersprossen gehänselt worden, sagte er.

Der Fussball hätte ein Weg sein können, bei Gleichaltrigen Anerkennung zu finden, doch ausgerechnet auf dem Pausenplatz kam Infantino nicht weit. Schon alleine, weil der Junge, der in seiner Familie «Piccolino» genannt wurde, zu klein und schmächtig war. Seine Schwester Daniela erzählte einmal der «Rhone-Zeitung», ihr Bruder habe als Viertklässler in einem Aufsatz geschrieben: «Ich möchte Fussballprofi werden. Aber da ich dafür nicht so talentiert bin, werde ich Advokat vom Fussball.»

Einer, der den Fifa-Präsidenten seit Jahren kennt, sagt: «Seine Kindheit hat aus ihm gemacht, wie er geworden ist.» Was passiert sei, sitze tief und lasse sich nicht abschütteln. Trotz seinem steilen beruflichen Aufstieg verstehe er sich immer noch als Aussenseiter, mit Sympathien für Minderheiten. «Dass er sich von der Schweiz und auch Europa distanziert, hat mit seinen Kindergartenerfahrungen zu tun.»

Bereits in seiner Zeit bei der Uefa wurde Infantino als misstrauisch wahrgenommen. Er habe wenig Kontakt zu anderen Mitarbeitern gesucht, habe irgendwo allein zu Mittag gegessen und auf Kaffee-Einladungen verzichtet, erzählte einmal ein Uefa-Kadermann.

Kaum hatte der aufstrebende Jurist den europäischen Verband verlassen und war 2016 Fifa-Präsident geworden, kam es zum Bruch. Seine grossen und bisher erfolglosen Projekte trieb er stets in Konfrontation zu seinem ehemaligen Arbeitgeber voran, von der Erweiterung der Klub-WM über die globale Nations League bis zur Verdopplung des WM-Rhythmus. Europäische Anliegen galten jetzt nichts mehr.

In Afrika herrscht Begeisterung

Fast wirkt es, als suche Infantino den Konflikt mit der Uefa. Wahrscheinlicher ist aber, dass er nach Anerkennung strebt. Irgendwann muss er zu der Überzeugung gelangt sein, diese in anderen Teilen der Welt eher zu finden als in Europa. Sein Vertrauter sagt, der Fifa-Präsident sei hochgradig frustriert, dass man im Westen nicht anerkenne, wie er den Verband reformiert habe. In Afrika herrscht Begeisterung über die Expansionspläne der Fifa, dort stehen die nationalen Verbände geschlossen hinter Infantino.

Kommerziell hat die Fifa unter Infantino den schleichenden Übergang zur neuen ökonomischen Realität bereits adaptiert. Neue Partner des Verbandes sind die Wanda Group aus China, Qatar Airways und Qatar Energy. Westliche Firmen stiessen in den letzten Jahren nicht mehr zur wichtigsten Sponsoren-Kategorie. Es blieben höchstens jene, die längst dabei sind.

Infantino muss das kaum stören. Der Umsatz der Fifa war im Zyklus von 2019 bis 2022 mit 7,5 Milliarden Dollar so hoch wie nie zuvor. In allen wesentlichen Bereichen stiegen die Einnahmen. Der Verband könnte es sogar verkraften, wenn in Europa das Interesse am Fussball abebbte.

Die laufende WM wird unter anderem auch von den chinesischen Konsumgüterfirmen Hisense und Vivo unterstützt sowie von Crypto.com, einer Börse für digitale Währungen. Diese sind in Katar zwar eigentlich verboten, doch sobald es um Geld geht, zeigt sich das Emirat moralisch gelegentlich flexibel.

Vieles spricht dafür, dass sich Infantino in diesem aufstrebenden Land besonders gut verstanden fühlt. Er trifft dort auf Amtsträger, die sich vom Westen mindestens so sehr missverstanden fühlen wie er. Vor dem Turnierstart beklagte sich der WM-Organisationschef Hassan al-Thawadi über «Fehlinformationen» und «rassistische Aussagen», die auf «lang gehegten Vorurteilen und Stereotypen gegenüber dem Nahen Osten und der arabischen Welt» beruhten. Selbst der Emir, Tamim bin Hamad Al Thani, sprach im Vorfeld von einer «grausamen Kampagne».

Als sich schliesslich Infantino zu Wort meldete, griff er die katarische Underdog-Erzählung nicht nur auf. Er spitzte sie in seiner Ansprache zu und formulierte die Anklage noch lauter und noch schriller. Fast wie ein Konvertit, der seine neue Religion besonders entschieden vertritt.

Das heikle Strafverfahren

Nicht zu unterschätzen ist der mögliche Einfluss des Strafverfahrens, das in der Schweiz gegen Infantino läuft. Es steuert zu einem Zeitpunkt auf einen Entscheid zu, der für ihn heikel sein könnte. Im Sommer war der Fifa-Präsident von den beiden Sonderstaatsanwälten Hans Maurer und Ulrich Weder einen ganzen Tag lang vernommen worden.

Es ging in der Befragung um Infantinos nicht dokumentierte Treffen mit dem ehemaligen Bundesanwalt Michael Lauber sowie weiteren Gesprächspartnern, aber auch um eine Rückreise aus Surinam nach Genf, die er im April 2017 in einem Privatjet absolviert hatte. Kein Thema war dagegen bisher eine New-York-Reise im Oktober 2015, über deren Zweck zuletzt die «Süddeutsche Zeitung» spekuliert hatte.

Infantino kooperierte mit den Staatsanwälten, ebenso wie die anderen sechs Beschuldigten. Sein Umfeld gibt sich zuversichtlich, dass ihm kein Fehlverhalten nachgewiesen werden könne. Doch es ist auch zu hören, dass der Fifa-Präsident das Verfahren als anstrengend und frustrierend empfinde. Es dürfte die innere Distanz zur alten Heimat noch vergrössert haben.

Im Januar sind weitere Zeugenbefragungen geplant. Anschliessend ist nach Einschätzung eines Prozessinvolvierten ein baldiger Entscheid denkbar, ob das Verfahren eingestellt, mit einem Strafbefehl beendet oder zur Anklage gebracht wird.

Das ist brisant, weil sich Infantino am 16. März 2023 am Fifa-Kongress in Kigali im Präsidentenamt bestätigen lassen möchte. Einen Gegenkandidaten gibt es nicht. Aber ein kurz zuvor veröffentlichter juristischer Vorwurf könnte die sicher geglaubte Wiederwahl gefährden. Weder und Maurer machen wie gewohnt keine Angaben zum Stand des Verfahrens.

Während er sich in der Schweiz mit juristischem Ärger herumplagen muss, zeigt sich Infantino im Ausland auffallend häufig mit Saudiarabiens Kronprinz Mohammed bin Salman. So an der laufenden WM in Katar, an der letzten WM in Russland, bei einem Boxkampf zwischen Anthony Joshua und Oleksandr Usyk, bei Gesprächen in Riad. Oft lachen und scherzen die beiden. Die suggerierte Nähe ist konsequent. Infantino fühlt sich im Westen als Paria. Bin Salman war es aus einem völlig anderen Grund, wegen der Tötung des Journalisten Jamal Khashoggi, zeitweise tatsächlich.

Ziemlich beste Freunde: Gianni Infantino während des WM-Eröffnungsspiels im vertrauten Geplauder mit Saudiarabiens Kronprinz Mohammed bin Salman.

Ziemlich beste Freunde: Gianni Infantino während des WM-Eröffnungsspiels im vertrauten Geplauder mit Saudiarabiens Kronprinz Mohammed bin Salman.

Amin Mohammad Jamali / Getty

Monarchische Züge

Ein ehemaliger Fifa-Mitarbeiter bezeichnet Infantinos Führungsstil als monarchisch. Niemand wisse, ob und wann er da sei, aber alles Wichtige laufe über seinen Tisch. Dies passiere, obwohl die Geschäftsordnung vorsehe, dass die Generalsekretärin an der operativen Spitze stehe. Infantino führt den Verband nach seinen Vorstellungen und weniger nach einer Geschäftsordnung.

Das passt ebenfalls ins Bild. Die Machthaber des Nahen Ostens von Katar bis Saudiarabien sind tatsächliche Monarchen. Wie die umstrittenen Entscheide der ersten WM-Tage getroffen wurden, vom Bierverbot in den Stadien bis zum Verbot der One-Love-Armbinden, ist alles andere als überraschend. Alles passierte äusserst spät, ohne offene Konsultation der Betroffenen, garniert mit Drohungen. Wie in Monarchien üblich.

Es ist eine Welt, in der auf demokratische Prozesse, Partizipation und Transparenz kaum Wert gelegt wird. Infantinos Welt.

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