Historiker zu Seuchen und Impfen: “In der Weimarer Republik wurden Kinder noch mit Gewalt geimpft”

Der Historiker Malte Thießen hat ein Buch über eine Seuche geschrieben, die noch gar nicht vorbei ist: über Corona. Diese Pandemie sei anders als alle anderen vor ihr, sagt er, “und zwar nicht, weil das Virus oder die Verbreitungswege so anders sind, sondern weil die Gesellschaft, auf die das Virus trifft, anders ist”.

ntv.de: Die Welt war auf Corona nicht vorbereitet, obwohl für Experten klar war, dass eine solche Pandemie früher oder später kommen würde. Hatte Sting Recht mit “History Will Teach Us Nothing”?

Malte Thießen: Es war tatsächlich vor allem zu Beginn der Corona-Pandemie ein Problem, dass Geschichte wieder mal als Lehrmeisterin en vogue war. Man hat sich die alten Seuchen angeguckt und war entweder verängstigt oder beruhigt – je nachdem, welche Lehren man aus der Geschichte ableiten wollte.

Warum war das ein Problem?

Malte Thießen ist Leiter des Instituts für westfälische Regionalgeschichte in Münster und lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

(Foto: LWL / Kathrin Nolte)

Wir können aus der Geschichte nicht eins zu eins Lehren ableiten, nach dem Motto: Ach, so haben sie es in der Zeit der Pest gemacht, dann machen wir das auch so oder gerade anders. Aber es gibt durchaus strukturelle Ähnlichkeiten, aus denen man für die Gegenwart Schlüsse ziehen kann.

Vielfach wird eine Parallele zur Spanischen Grippe zwischen 1918 und 1920 gezogen.

Der Verweis auf die Spanische Grippe scheint mir nicht hilfreich zu sein. Ein Vergleich zeigt eher, dass wir heute ganz anders auf die Pandemie reagieren. Das ist allerdings etwas, das wir aus der Geschichte lernen können: Corona ist anders, und zwar nicht, weil das Virus oder die Verbreitungswege so anders sind, sondern weil die Gesellschaft, auf die das Virus trifft, anders ist.

Was ist heute anders?

Wir gehen mit Corona sehr viel aufmerksamer um als alle Gesellschaften vor uns mit vergleichbaren Pandemien. Wir sind eine Gesellschaft, die ein anderes Risikoempfinden hat – am Anfang zu wenig, mittlerweile sehr hoch, was ich, nebenbei bemerkt, sehr richtig finde. Wir möchten auch die Alten und Vorerkrankten schützen und nehmen Gesundheit bis ins hohe Alter ernster als früher.

Das ist offenbar auch ein Unterschied zur Hongkong-Grippe von 1969/1970, an der in der alten Bundesrepublik 50.000 und weltweit 1,5 Millionen Menschen starben, wie ich Ihrem Buch entnommen habe. Warum hat diese Pandemie es nicht ins kollektive Gedächtnis geschafft?

Das ist wirklich ein Phänomen. Vor Corona hatten von der Hongkong-Grippe in Deutschland vermutlich maximal zehn Leute schon mal gehört, wenn überhaupt.

Woran liegt das?

Frühere Gesellschaften sind fatalistischer mit Pandemien umgegangen – trotz der vielen Toten ist die Hongkong-Grippe relativ spurlos durch die Gesellschaft gezogen. Es gab kaum Medienberichte und auch keine großen politischen Diskussionen. Das hatte damit zu tun, dass die Hongkong-Grippe in das Muster passte, das man damals gewohnt war, nämlich: Alle Jahre wieder gibt es eine Pandemie, und die schlägt vor allem unter Alten und Vorerkrankten zu. Und weil die Hongkong-Grippe als “Grippe” bezeichnet wurde, passte sie auch ins Bild der jährlich wiederkehrenden Influenza.

Das heißt, wir haben auch deshalb so stark auf Corona reagiert, weil wir Pandemien nicht mehr gewöhnt sind?

Ja, wir sind ein Stück weit Opfer unserer medizinischen Erfolge. Wir haben vergessen, dass von Infektionskrankheiten eine breite Bedrohung ausgehen kann. Das ist natürlich auch ein Riesenerfolg: Durch Impfprogramme, durch Antibiotika, durch eine medizinische Versorgung, die es zur Zeit der Hongkong-Grippe noch nicht gab, haben wir mittlerweile einen Gesundheitsstandard, in dem Infektionskrankheiten keine Rolle mehr spielen – bei allen Einschränkungen, gerade mit Blick auf die starke soziale Ungleichheit. Nehmen Sie den Begriff “Kinderkrankheiten”: Damit bezeichnet man heute harmlose, anfängliche Schwierigkeiten, die rasch überwunden werden. Für unsere Großeltern waren Kinderkrankheiten dagegen kein Spaß. Viele Kinder starben an den sogenannten Volksseuchen. Tuberkulose war bis in die 1950er, 1960er Jahre noch ein großes Thema. Dank der Impfprogramme haben wir diese Sorgen seit den 1970er, 1980er Jahren vergessen. Mit Corona ist etwas zurückgekommen, das zu unserem Leben nicht mehr dazugehörte.

Und gleichzeitig, Sie haben es angesprochen, möchten wir die Alten und Vorerkrankten schützen.

Die Empathie für Alte und Vorerkrankte ist heute sehr viel höher. Auch das hängt mit den höheren medizinischen Standards zusammen. Noch Ende der 1960er Jahre war das, was wir heute als “goldenen Herbst” oder als “viertes Lebensalter” bezeichnen, eine absolute Minderheitenerscheinung. Es gab nur wenige, die einen langen Lebensabend genießen konnten. Viele waren von der Maloche kaputt. Das ist ein Lerneffekt der letzten dreißig, vierzig Jahre: dass wir ein aktives Leben bis ins hohe Alter genießen können. Deshalb scheint uns die Bedrohung auch so groß. Das gilt ebenso für Vorerkrankte: Noch in den 1960er Jahren war es normal, dass Diabetiker kein langes Leben haben.

Diese Empathie ist allerdings kein allgemeiner Konsens. “Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem Jahr sowieso tot wären”, sagte der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer Ende April 2020, Sie zitieren das in Ihrem Buch.

Dennoch waren die sehr weitgehenden Corona-Maßnahmen durchgehend von einem relativ breiten Konsens getragen. Dass es zugleich intensive Debatten über die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen gab, macht die Seuchenbekämpfung zwar manchmal etwas anstrengend. Aber das ist auch eine Auszeichnung von Demokratien. Ich glaube nicht, dass autoritäre Systeme in der Bekämpfung von globalen Krisen effektiver sind. Gerade Seuchenbekämpfung erfordert einen wissenschaftlichen Dialog und einen intensiven politischen Aushandlungsprozess. Deshalb muss immer wieder darüber gestritten werden, was verhältnismäßig ist und was nicht. Aber selbst, wenn autoritäre Systeme effektiver sein sollten: Wer in einer Demokratie leben will, muss auch den Streit akzeptieren.

Eine historische Konstante ist wahrscheinlich, dass Menschen für Seuchen Sündenböcke brauchen. Sind Epidemien immer auch Hochzeiten für Verschwörungsmythen?

Das war wirklich erschreckend. Ich habe mich ja schon vor Corona mit dem Thema beschäftigt und dachte, dass wir mittlerweile weiter wären – dass es so etwas vielleicht noch in den 1980er Jahren bei Aids gab, aber heute nicht mehr möglich wäre. Das war ein Irrtum. Wenn man sich die Frühphase von Corona anguckt, Februar, März 2020, dann lief das nach dem gleichen Muster ab. Da wurden Bilder von rückständigen Chinesen bemüht, die beängstigend waren. Andererseits ist so etwas auch menschlich. In einem Notfall versuchen Menschen, eine unbekannte Bedrohung einzuordnen, Erklärungen zu finden. Wenn wir keine anderen Erfahrungen haben, greifen wir dafür auf Stereotype zurück. Stereotypen und Verschwörungstheorien machen erklärbar, was nicht erklärbar zu sein scheint. Selbst im braven Münster wurden, als im Juni 2020 bei Tönnies die Infektionen auftraten, Autos mit Gütersloher Kennzeichen zerkratzt.

Sie schreiben: “Die Geschichte der Moderne ist eine Geschichte des Impfens.” Sind Impfskeptiker dann Gegenwartsverweigerer oder Antimodernisten?

Das ist eine Wurzel von Impfkritik. Impfungen gelten schon kurz nach ihrer Einführung als Paradewerkzeug der Moderne. Die Vorstellung, die Zukunft gestalten zu können, ist etwas Revolutionäres, und entsprechend euphorisch wird das Impfen von Ärzten und von Gesundheitspolitikern im 19. Jahrhundert gefeiert. Der Staat versucht, über Impfprogramme in die Fläche vorzurücken und seine Leistungsfähigkeit zu demonstrieren. Das stößt auf Abwehr.

Und es gibt die Kritik am Impfen als unnatürliche Maßnahme aus der Anthroposophie und der Esoterik. Auch das ist eine Tradition, die sich bis heute gehalten hat: die Vorstellung, es sei viel natürlicher, wenn der Körper aus sich selbst heraus Abwehrkräfte entwickelt. Auch hier kann Geschichte helfen – nicht dabei, ein Rezept zu entwickeln, wie man Impfgegner vom Impfen überzeugt. Aber die Geschichte zeigt, dass es ganz unterschiedliche Motive gibt, wenn Impfungen abgelehnt oder skeptisch gesehen werden.

Was bedeutet das mit Blick auf die heute debattierte Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen?

Eine Impfpflicht wird schon im 19. Jahrhundert diskutiert, mit genau denselben Argumenten wie heute: Wer bestimmt über den Körper? Ist es der Staat oder ist es der Einzelne? Aus heutiger Sicht war das Kaiserreich nicht sehr demokratisch, aber schon damals wurden solche Fragen öffentlich debattiert, schon damals ging es um Grundrechte. Das ist die liberale Tradition. Aber auch antisemitische Begründungen für Impfkritik gibt es von Anfang an: das Impfen als jüdische “Rassenschande” ist schon im 19. Jahrhundert ein geläufiger Verschwörungsmythos.

Gab es in der Bundesrepublik neben der Pocken-Impfpflicht je eine echte allgemeine Impfpflicht?

Es gab im Baden-Württembergischen für zwei Jahre eine Impfpflicht gegen Diphterie, 1947 bis 1949, aber das wurde schnell fallengelassen. Nur die Impfpflicht gegen Pocken bleibt bis in die 1970er Jahre bestehen, auf Basis der “Reichsimpfpflicht” von 1874. Aber diese Impfpflicht wird nach dem Krieg nicht mehr so rigide durchgesetzt. Noch in der Weimarer Republik waren Kinder aus den Schulen geholt und mehr oder weniger mit Gewalt geimpft worden – das war nicht die Regel, aber ungefähr 30 Mal pro Jahr kam so etwas vor. In der Bundesrepublik belässt man es bei einer Geldstrafe, wenn jemand sich nicht gegen Pocken impfen lassen will. 50 Mark kostet das. In manchen Landkreisen gibt es in den 1960er Jahren Impfquoten von nur noch 50 Prozent. Von einer echten Impfpflicht kann da keine Rede mehr sein.

War denn die Pockenimpfung kontrovers?

Die freiwilligen Impfungen hatten immer relativ hohe Impfquoten – sehr viel höhere Impfquoten als die Pocken-Impfung, meist über 90 Prozent. Die Pocken-Impfung war auch unbeliebt, weil sie starke Nebenwirkungen hatte. Noch in den 1970er Jahren gab es bei jeder zehn- bis zwanzigtausendsten Impfung einen schweren Impfschaden, also lebenslange Behinderung oder Tod. Das war eine Frage der Verhältnismäßigkeit, die damals nicht nur unter Eltern diskutiert wurde, sondern auch im Bundesgesundheitsamt, das es damals noch gab.

Übrigens werden die Pocken in den 1960er Jahren wieder zu einer echten Bedrohung. Die Reichsimpfpflicht hatte dazu geführt, dass die Krankheit sehr stark zurückgeht, seit Anfang des 20. Jahrhunderts spielen Pocken kaum noch eine Rolle. In den 1960er Jahren kommt allerdings der Alptraum aller Epidemiologen ins Spiel: das Flugzeug. Politik und Gesellschaft geraten in helle Aufregung, als die Pocken wieder eingeschleppt werden, denn es ist klar, dass das Land nicht voll immunisiert ist. Dann geschieht etwas sehr Naheliegendes: Dort, wo die Pocken auftreten, gibt es einen regelrechten Run auf die Impfstellen. Das führt dazu, dass die Gefahr schnell gebannt ist. Im Bundesgesundheitsamt zieht man die Schlussfolgerung, dass eine Impfpflicht nicht nötig ist.

Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Eine indirekte Impfpflicht wurde 2019 bei Masern eingeführt, und zwar für den Besuch von Kitas und Schulen sowie für das Personal dort.

Wird diese Impfpflicht denn durchgesetzt?

Das scheint mir nicht der Fall zu sein, und wenn, dann eher bei Kindern als bei Beschäftigten.

Da ist es leichter.

Und das ist eine Kontinuität in der Geschichte. Zum Reichsimpfgesetz von 1874 gibt es zwei lange Reichstagsdebatten. Ursprünglich sieht der Gesetzentwurf vor, dass auch Erwachsene pflichtgeimpft werden. Die Impfpflicht ist im Reichstag umstritten, aber in einer Sache sind sich alle einig: Eine Impfpflicht für Erwachsene, das geht den Abgeordneten denn doch zu weit. Das ist sofort vom Tisch.

Sie schreiben in Ihrem Vorwort, beim Abschluss des Manuskripts Ende Juni 2021 habe sich “ein vorläufiges ‘Happy End’ der Pandemie” abgezeichnet. Wie sehr haben Sie diesen Satz schon bereut?

(lacht) Sehr! Historiker sind in der Tat die letzten, die man nach Prognosen fragen sollte. Dass die vierte Welle kommt, war klar, aber ich dachte, das wird eine kleine Woge, die an der Impfmauer bricht. Ich lag auch mit dem globalen Engagement für weltweite Impfungen im Frühjahr 2021 total daneben. Das ist wieder sehr zurückgegangen, auch wenn alle wissen, dass Corona erst vorbei ist, wenn es überall vorbei ist.

Haben Sie den Eindruck, dass Deutschland sein Selbstbild, ein gut organisiertes Land zu sein, mal überprüfen sollte, wenn alles vorbei ist?

Ich hoffe, dass das geschieht. Ich hoffe vor allem, dass das Bewusstsein für die strukturellen Probleme in diesem Land wach bleibt, die durch die Pandemie offenkundig geworden sind – für die Probleme im Gesundheitswesen und für die soziale Ungleichheit. Vor der Seuche sind eben nicht alle gleich, wie es immer heißt. Ärmere haben ein höheres Ansteckungsrisiko, und sie wurden auch von den Eindämmungsmaßnahmen härter getroffen. Dass das in der Corona-Krise eine so geringe Rolle gespielt hat, muss in Erinnerung bleiben, wenn wir an dieser Stelle besser werden wollen.

Sie schreiben in Ihrem Buch auch über die Anfänge einer Corona-Erinnerungskultur. Wie würden Sie sich wünschen, dass die Gesellschaft sich künftig an Corona erinnert?

Zunächst muss man feststellen: Es wird eine Erinnerungskultur geben. Die Pest ist in wenigen ikonischen Bildern überliefert, für alle anderen Pandemien haben wir kaum Zeugnisse. Bei der Spanischen Grippe muss man lange suchen, bis man Berichte und Fotos findet. Bei Aids verhält es sich ein bisschen anders, da gibt es Betroffenenberichte und Initiativen, die das zu ihrem Thema machen, auch eine popkulturelle Verarbeitung. Für Corona haben wir aber einen sehr viel größeren Erinnerungsschatz. Spätestens ab Mitte März 2020 gab es in den europäischen Gesellschaften das Gefühl, einen historischen Moment zu durchleben. Dieses Bewusstsein führte dazu, dass Quellen gesammelt, dass Corona-Tagebücher geführt wurden und vieles mehr. Deshalb wird es eine breite Erinnerungskultur geben.

Wenn ich mir was wünschen dürfte, dann, dass wir Corona nicht auf eine einfache Formel bringen. Wir sollten uns an Corona erinnern in all den Widersprüchen, in all der Vielfalt und auch in dem Schmerz, der in der kollektiven Erinnerung schnell in Vergessenheit gerät. Die Chance ist nicht sehr groß, weil sich solche Krisen schnell in beruhigende Großnarrative auflösen. Dann dominiert die Erinnerung, alles sei gut gemeistert worden. Aber vielleicht kann Corona auch hier etwas Neues sein.

Mit Malte Thießen sprach Hubertus Volmer

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