Im Umland von Charkiw sind die Wunden des Krieges tief

Im September hat die ukrainische Armee in einem Blitzfeldzug weite Gebiete östlich von Charkiw zurückerobert. Zwei Monate später fürchten die Bewohner den Winter und fragen: Was soll aus uns werden? Szenen aus einem verwundeten Land.

Charkiw: die Bombensammler

Bohdan Schewtschenko kommt aus New York. Aber nicht aus der Stadt in Amerika, sondern aus einem Dorf im Donbass, das genau so heisst. «Es liegt jetzt an der Frontlinie», sagt er. Schewtschenko lebt nicht mehr dort. Er ist nach Charkiw gezogen, wo er als Kommandant eines Minenräumkommandos die Gebiete rund um die ostukrainische Metropole von liegengebliebenen Geschossen säubert. «Für jedes Jahr Krieg musst du zehn Jahre lang aufräumen», sagt Schewtschenko, ehe er sich in seinen verbeulten Geländewagen schwingt.

Jeden Tag fährt er mit seiner Mannschaft durch die Dörfer rund um Charkiw, entschärft Minen, gräbt Reste von Grad-Raketen aus Vorgärten und sammelt in den von Laub übersäten Herbstwäldern Munition und liegengebliebene Panzerfäuste ein. Schewtschenko und seine Männer haben viel zu tun. Denn im Spätsommer eroberte die ukrainische Armee in einem Blitzfeldzug Tausende Quadratkilometer Land zurück, das vorher während Monaten von den Russen besetzt gewesen war.

Der militärische Sieg beflügelte die Ukrainer und verlieh ihnen nach monatelangen, blutigen Abwehrkämpfen neue Hoffnung. Doch den vorrückenden Truppen bot sich in den zurückgewonnenen Gebieten ein schreckliches Bild: Viele Dörfer waren zerstört, unzählige Bewohner tot, die Infrastruktur kaputt.

Zwei Monate später sind die Folgen des Krieges in dem weiten, von Nadel- und Laubwäldern durchzogenen Gebiet hinter Charkiw immer noch überall zu sehen. «Die Menschen brauchen Hilfe, sonst wird es schwer für sie, den kommenden Winter zu überstehen», sagt Schewtschenko. Doch als Erstes müsse man Minen und nicht explodierte Sprengladungen entfernen. «Davor kann keiner mit dem Wiederaufbau beginnen.»

In einem Dorf in der Nähe von Charkiw suchen die Männer von Schewtschenkos Räumkommando nach liegengebliebenen Geschossen und Minen.

In einem Dorf in der Nähe von Charkiw suchen die Männer von Schewtschenkos Räumkommando nach liegengebliebenen Geschossen und Minen.

Bohdan Schewtschenko hat die Reste einer russischen Rakete gefunden. Sie steckt im Fundament eines Hauses, ist glücklicherweise aber nicht mehr scharf.

Bohdan Schewtschenko hat die Reste einer russischen Rakete gefunden. Sie steckt im Fundament eines Hauses, ist glücklicherweise aber nicht mehr scharf.

Schewtschenko und sein Team fahren mit einem gepanzerten Lastwagen in ein kleines Dorf südlich von Charkiw. Den meisten Häusern fehlen die Dächer, manche Wände sind erst gerade repariert worden. Eine Bewohnerin hat die Minenräumer gerufen. Im Fundament ihres Hauses steckt der Rest eine russischen Rakete. Als die Frau erfährt, dass die Dorfverwaltung einen Bagger herbeischaffen muss, um das inzwischen entschärfte Stück zu entfernen, winkt sie ab: «Dann können wir mit der Renovierung ja gleich wieder von vorne anfangen.»

Schewtschenko erlebt solche Szenen immer wieder. «Den Leuten geht es nicht gut», sagt er. «Manche versuchen deshalb, die Geschosse als Altmetall zu verwerten.» Erst vor ein paar Tagen habe eine Familie eine nicht explodierte russische Rakete mit nach Hause genommen. «Als sie sie auseinandernahmen, detonierte sie und tötete alle Anwesenden.»

Schewtschenko redet wenig. Er und seine Kollegen gehen ihrer Arbeit schweigsam nach. Es hat fast etwas Zen-artiges, wie sie seelenruhig durch Wälder oder Trümmerhalden marschieren und mit blossen Händen Sprengkörper bergen. Die Sonne scheint durch die Wipfel der Bäume. Man hört nichts als das Rascheln des Laubs. «Natürlich haben wir Angst», sagt Schewtschenko. «Und das ist gut so. Denn sobald wir uns nicht mehr fürchten, werden wir unachtsam. Dann passieren Unfälle.»


Isjum: «Gott wird sie richten»

Der Angriff kam in der Nacht. Trotzdem schafften es die 27 Menschen, die hier Zuflucht gefunden hatten, den Keller rechtzeitig zu verlassen. «Wie durch ein Wunder kam niemand ums Leben», sagt Olexander Bahri. Der Mann mit dem von tiefen Falten durchzogenen Gesicht ist der Prediger einer kleinen, freikirchlichen Gemeinde in Isjum, deren Haus von einer Rakete getroffen wurde. Von dem Gebäude sind nur noch Trümmer übrig.

Der Prediger Olexander Bahri unterwegs in Isjum. Wie so viele Bewohner der Kleinstadt hat er Schlimmes erlebt.

Der Prediger Olexander Bahri unterwegs in Isjum. Wie so viele Bewohner der Kleinstadt hat er Schlimmes erlebt.

Das Gebäude, in dessen Keller Bahri und zwei Dutzend weitere Bewohner unterkamen, wurde bei einem Angriff zerstört.

Das Gebäude, in dessen Keller Bahri und zwei Dutzend weitere Bewohner unterkamen, wurde bei einem Angriff zerstört.

Die Kleinstadt Isjum liegt rund zwei Stunden südöstlich von Charkiw. Im Frühling fiel sie nach harten Kämpfen an die russischen Truppen, ehe es den Ukrainern im September gelang, die strategisch wichtige Stadt zurückzuerobern. Wer nach Isjum hineinfährt, muss den Fluss Donezk auf einer schwankenden Pontonbrücke überqueren und sich dann eine schlammige Strasse hochquälen, vorbei an Häusern, die aussehen, als habe man sie zum Zielschiessen benutzt.

Im Stadtzentrum sitzen alte Frauen auf Bänken und erzählen immerfort vom Beschuss. Ihre Wohnungen sind kalt und oft ohne Fensterscheiben. Rund 30 Prozent aller Gebäude seien völlig zerstört, sagt Konstantin Petrow von der Stadtverwaltung. Er zählt auf, was es alles brauche, um die Stadt wieder herzurichten: Baumaterial, eine neue Wasserversorgung, Gas zum Heizen. Petrows Augen wirken müde. An der Wand seines Büros hängt eine Fahne mit drei Weintrauben. Es ist das Stadtwappen von Isjum.

Die kaputten Häuser und Strassen sind das eine. Die Wunden in Isjum gehen aber viel tiefer. Den Bewohnern sieht man an, dass sie Schlimmes erlebt haben. Sie sind still und ernst. «Viele haben schreckliches durchgemacht und furchtbare Verluste erlitten», sagt der Prediger Bahri. Seine Gemeinde verteilt deshalb nicht nur Lebensmittel und Baumaterial an die Einwohner, sondern auch ein Büchlein mit dem Titel: «Wie man mit schlimmen Dingen umgeht.»

Der Prediger weiss, wovon er spricht. Sein Schwiegersohn kam bei einem Artillerieangriff ums Leben. Später verlor er mehrere Gemeindemitglieder, als eine russische Fliegerbombe einen Wohnblock zerstörte und über 40 Menschen in dem darunterliegenden Bunker starben. Das Gebäude sieht aus, als sei es mit einer riesigen Axt durchschlagen worden. Vorne im Gras, zwischen den Trümmern, haben Angehörige ein paar Fotos und Blumen aufgestellt.

Isjum hat unter den Kämpfen schwer gelitten. In diesem Plattenbau kamen über 40 Menschen ums Leben, als eine Fliegerbombe niederging.

Isjum hat unter den Kämpfen schwer gelitten. In diesem Plattenbau kamen über 40 Menschen ums Leben, als eine Fliegerbombe niederging.

Massengrab in Isjum. Hier lagen 14 ukrainische Soldaten verscharrt. Insgesamt wurden in dem Waldstück am Stadtrand nach dem Rückzug der Russen mehr als 400 Tote gefunden, unter ihnen viele Zivilisten.

Massengrab in Isjum. Hier lagen 14 ukrainische Soldaten verscharrt. Insgesamt wurden in dem Waldstück am Stadtrand nach dem Rückzug der Russen mehr als 400 Tote gefunden, unter ihnen viele Zivilisten.

In Isjum herrscht eine Mischung aus Schock und Sprachlosigkeit. Der Horror hängt wie eine finstere Wolke am Himmel über der Stadt. Kurz nach der Rückeroberung waren ukrainische Truppen in einem Wald am Stadtrand auf lauter unmarkierte Gräber gestossen. Hier waren während der russischen Besetzung offenbar Hunderte Menschen verscharrt worden. Gefallene Soldaten, aber auch tote Zivilisten. Viele der Leichen waren übel zugerichtet.

Die Exhumierungen sind inzwischen abgeschlossen. Aber in dem Wald, in dem die Toten lagen, ist das Grauen immer noch allgegenwärtig. Überall sind Löcher im Boden, die weissen Schutzanzüge der Bergungstrupps liegen noch da. In manche der leeren Gräber wurden schlichte Holzkreuze gesteckt. Zwischen den Baumstämmen sind Plastikbänder gespannt. Sie flattern im Wind.

Man habe diejenigen Leute im Ort, die mit Russland kollaboriert hätten, verhaftet oder unter Hausarrest gestellt, erklärt Petrow. Aber lindert das den Schmerz und die Fassungslosigkeit? «Es ist schwer», sagt Bahri, der Prediger. «Trotzdem ist es nicht an uns, zu richten und zu hassen. Diejenigen, die das getan haben, werden sich irgendwann vor Gott dafür zu verantworten haben.»

Russisch besetzte Gebiete


Vor der Front: die Brücke über den Oskil

Da, wo die Strasse von Kupjansk über den Fluss Oskil hinweg nach Osten führt, klafft in der Fahrbahn ein grosses Loch. Unten fliesst das Wasser, oben, auf der zerstörten Brücke, lässt sich Pawlo Suschko die Lage erklären. Der Politiker aus Charkiw, der für Selenskis Partei im Parlament sitzt, befindet sich auf einer Inspektionstour. «Es ist tief bewegend, dass wir unser Land befreit haben», sagt er. «Aber es schmerzt, zu sehen, welche Verheerungen die Russen hier angerichtet haben.»

Der Parlamentsabgeordnete Pawlo Suschko (Mitte) aus Charkiw besucht eine kaputte Brücke in der Nähe von Kupjansk.

Der Parlamentsabgeordnete Pawlo Suschko (Mitte) aus Charkiw besucht eine kaputte Brücke in der Nähe von Kupjansk.

Freiwillige übermalen die Farben Russlands am Geländer einer Brücke. Sie wollen damit zeigen, dass das Land hier der Ukraine gehört.

Freiwillige übermalen die Farben Russlands am Geländer einer Brücke. Sie wollen damit zeigen, dass das Land hier der Ukraine gehört.

Dann listet er im Stakkato auf, was die Region alles braucht: «Lebensmittel, Baumaterial, Strom und so weiter.» Aber Suschkos Staat kann das allein nicht liefern. Nach acht Monaten Krieg ist die Ukraine finanziell am Ende. «Wir sind deshalb auf Hilfe angewiesen», sagt der Abgeordnete. Als er mit seinem Tross zurück zum Auto läuft, bitten ihn ein paar junge Männer und Frauen um ein Selfie. Es sind freiwillige Helfer aus Charkiw, die fast jeden Tag in den verwüsteten Landstrichen östlich von ihrer Heimatstadt unterwegs sind.

Ohne sie könnten die Menschen hier kaum überleben. Heute haben sie statt Hilfsgüter Farbe mitgebracht. Damit übermalen sie das Geländer der kaputten Brücke, welches die Besatzer in den Farben der russischen Trikolore gestrichen hatten. Nun leuchtet es wieder in Gelb und Blau, wie die Flagge der Ukraine. «Wir wollen zeigen, dass das unser Land ist», sagt Olha Harjunowa, die vor dem Krieg im Management eines Supermarktes gearbeitet hat.

Normalerweise verteilt ihre Gruppe Baumaterial, Lebensmittel und Medikamente in den umliegenden Dörfern. «In vielen dieser Orte fehlt es an allem. Sie werden vergessen», sagt Harjunowa. Vor allem der hereinbrechende Winter stellt die Leute vor grosse Probleme. Auf der Brücke sieht man immer wieder Frauen und Männer in dicken Anoraks, die Fahrräder oder Töffs voller Proviant vorbeischieben.

Sie sind unterwegs in jene Gebiete, die als Letztes zurückerobert wurden: Dort sieht es aus wie auf Fotos aus dem Ersten Weltkrieg: mit verbrannten Baumstümpfen, Bombentrichtern und Häusern, von denen nur noch die Grundmauern übrig sind. Panzer und Mannschaftswagen der ukrainischen Armee quälen sich durch den Schlamm, im Hintergrund hört man das Donnern der Artillerie. Überall liegen verdorrte Felder, auf denen wegen des Kriegs die Ernte nicht eingetragen werden konnte.

Verdorrte Sonnenblumen östlich von Kupjansk. Wegen der Besetzung und des Kriegs konnte auf vielen Feldern nicht geerntet werden.

Verdorrte Sonnenblumen östlich von Kupjansk. Wegen der Besetzung und des Kriegs konnte auf vielen Feldern nicht geerntet werden.

Ukrainische Panzertruppen auf dem Weg an die Front. Im September eroberten sie das Gebiet hier in einem Blitzfeldzug.

Ukrainische Panzertruppen auf dem Weg an die Front. Im September eroberten sie das Gebiet hier in einem Blitzfeldzug.

In Kiwschariwka haben sich die Bewohner eines Plattenbaus draussen im Hof versammelt. Sie kochen mit Brennholz aus dem nahen Wald. «In unseren Wohnungen ist es inzwischen so kalt, dass ich in meiner Jacke und mit drei Decken schlafe», sagt die Rentnerin Walentina Makarenko. Es gibt keinen Strom, kein fliessendes Wasser und keine Heizungen. Bei den Kämpfen wurde zudem der Markt zerstört, in dem viele Bewohner gearbeitet haben. «Wir haben nichts mehr, keine Arbeit, kein Geld. Und auf staatliche Hilfe warten wir vergebens.»

In der Nacht werden die Bewohner immer wieder von den Explosionen der nahen Front geweckt. «Was soll jetzt aus uns werden?», fragt Makarenko. Sie freue sich, sagt sie, dass die Russen weg seien, auch wenn man sie im Ort nur wenig zu Gesicht bekommen habe. «Aber am Ende sind wir einfach nur müde. Wir wollen, dass das alles endlich vorbei ist.»

Rauchfahnen von Raketen in der Nähe von Kupjansk. Die Front ist von hier nur ein paar Kilometer entfernt.

Rauchfahnen von Raketen in der Nähe von Kupjansk. Die Front ist von hier nur ein paar Kilometer entfernt.

Im Dorf Kiwschariwka gibt es keinen Strom und kein Wasser. Die Einwohner der Plattenbauten am Ortseingang wissen nicht, wie sie den Winter überstehen sollen.

Im Dorf Kiwschariwka gibt es keinen Strom und kein Wasser. Die Einwohner der Plattenbauten am Ortseingang wissen nicht, wie sie den Winter überstehen sollen.

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