Israels Technologiesektor ist erwachsen geworden

Der israelische Hightech-Sektor brummt. Viele der Gründer stammen aus Eliteeinheiten der Streitkräfte. Ideen werden gelegentlich aber auch in den Ferien geboren.

Drohnenaufnahme von Tel Aviv.

Ilan Rosenberg/ Reuters

Manchmal steht am Beginn des Erfolgs das Scheitern. Bei Moshe Shlisel war es so. Nach einer langen Karriere in der israelischen Luftwaffe und der Privatwirtschaft gründete er ein Startup – und scheiterte damit. Jetzt führt er im Industriegebiet von Ramla, einer Kleinstadt im Grossraum von Tel Aviv, ein Unternehmen mit 80 Angestellten und kann sich vor Aufträgen kaum retten.

Dass man mit einer Geschäftsidee scheitert, ist auch in anderen Ländern nicht ungewöhnlich. Aber in Israel sind verschlungene Lebensläufe weit weniger ein Makel als etwa in der Schweiz oder Deutschland. Dazu trägt die Einwanderung bei, die in den meisten Fällen unweigerlich einen Neuanfang bedeutet. Auch der Pioniergeist ist mehr als siebzig Jahre nach der Staatsgründung so lebendig wie eh und je. Wer scheitert, rappelt sich auf und fängt von vorne an.

Moshe Shlisel und Dionis Teshler, heute der CEO und der CTO von GuardKnox, setzten sich zusammen und suchten nach etwas, das sie ausser ihren technischen Fähigkeiten verbindet. Beide haben eine Schwäche für Autos, Shlisel bevorzugt Geländewagen, Teshler liebt es eher sportlich. Und so wurde die Idee geboren: Cybersicherheit in der Automobilbranche. Es war das Jahr 2016, ein britisches Unternehmen hatte damals gerade vorgeführt, wie einfach vernetzte Fahrzeuge gehackt werden können. «Wir wussten sofort, dass wir etwas Neues beisteuern können», sagt Shlisel.

Sicherheit von der Luft auf den Boden bringen

Im blauen Polohemd und in schwarzer Jeans steht Shlisel an der Küchentheke des Unternehmens, als wir durch die Tür treten. Wie eine Armee- oder Luftwaffeneinheit habe eine Firma ihre eigene DNA, ihren eigenen Rhythmus, ihre eigene Kultur, sagt er. Das Geheimnis sei, in jedem zuerst den Menschen zu sehen, ob es der Vizepräsident, ein einfacher Soldat oder ein Entwickler sei. «Und wenn ich kochen kann und es jedem schmeckt – warum nicht?»

Moshe Shlisel

Moshe Shlisel

Von Anwendungen im Bereich Cybersicherheit haben Shlisel und Teshler das Feld auf Logistiklösungen ausgeweitet. Inzwischen wollen sie aber vor allem eines: das autonome Fahren revolutionieren. Die Zukunft, darin ist man sich in der Branche einig, gehört dem «software defined vehicle». Fahrzeugmodelle werden sich nicht mehr grossartig durch ihre Motoren unterscheiden, sondern durch besondere Features ihrer Software und dadurch, wie gut die Software die Hardware integriert. Sie wird eines der wichtigsten Kriterien für den Kauf sein.

Salopp ausgedrückt wollen die beiden Unternehmer Entwicklungen aus luftigen Höhen auf den Boden holen. Shlisel war stellvertretender Kommandant einer Eliteeinheit der Luftwaffe, der «Unit 5101», im Volksmund «Shaldag» (Eisvogel) genannt. In dieser Funktion leitete er die Entwicklung und Anwendung hochkomplexer Sicherheitslösungen. Teshler zeichnete als Chef für Informationssicherheit für die Cybersicherheit von Israels Raketenabwehrsystemen verantwortlich.

Israelische Hightech ist gefragt

Die heutigen Veränderungen in der Autoindustrie habe es in der Luftfahrt bereits vor Jahren gegeben, sagt Teshler. «Wir kannten die Prozesse und sahen einige Entwicklungen voraus. Das gab uns einen gewissen Vorteil.» Die «iPhonisierung» des Autofahrens nennen sie die Entwicklung bei GuardKnox. Wie ein Smartphone auf Rädern müsse man sich das Auto der Zukunft vorstellen. Jederzeit können problemlos neue Apps installiert und das Fahrzeug so den individuellen Bedürfnissen angepasst werden. Seine Erfahrungen in der Armee haben Teshler auch gelehrt, Fragen der Sicherheit nicht ans Ende, sondern an den Anfang der Produktentwicklung zu stellen.

Investitionen in israelische Startups 2021

Ausgewählte Branchen in Milliarden Dollar

Angefangen haben sie ganz klein, zu fünft in einem etwa zehn Quadratmeter grossen Raum beim Grosskonzern Taavura, dem ersten Investor. Heute nehmen sie zwei Etagen mit luftigen, hellen Räumen ein. Israelische Hightech ist gefragt. Aber wer in Israel hoch hinauswill, muss sich auch international aufstellen. Der wichtigste Markt für GuardKnox ist die deutsche Autoindustrie.

Wochenlang ist Teshler durch Deutschland gefahren, hat Kontakte geknüpft und sich mit der Arbeitsweise der verschiedenen Firmen vertraut gemacht, die an der Entwicklung eines Autos beteiligt sind. «Ich habe es sehr genossen und viel gelernt.» Ausgerechnet von den deutschen Automobilherstellern, die das Elektroauto verschlafen haben? Es stimme, sagt Shlisel, die meisten deutschen Hersteller seien etwas hintendran. «Aber ich bin mir sicher, sie werden aufholen, und wenn sie aufholen, werden ihre Produkte die höchsten Standards erfüllen.»

Stau auf dem Ayalon-Autobahn bei Tel Aviv.

Stau auf dem Ayalon-Autobahn bei Tel Aviv.

Flash90 / FLASH90

Von der Eliteeinheit in den Gesundheitssektor

Ed Walach, Michael Braginsky und Guy Reiner lernten sich ebenfalls bei der Armee kennen. Alle drei waren Mitglied von Talpiot, einer Forschungs- und Entwicklungseinheit der Armee. Wer der geheimnisumwitterten Einheit angehört, zählt zur Elite des Landes. Walach leitete die Abteilung für künstliche Intelligenz (KI) der Luftwaffe und initiierte Projekte in den Bereichen maschinelles Lernen und Computer-Vision. Braginsky leitete den Einsatz von Bildverarbeitungstechnologien in den Spezialeinheiten, Reiner Forschungsprojekte über Algorithmen in der Cybersecurity-Einheit.

Heute stehen sie Aidoc vor, einem Unternehmen im medizinischen Bereich mit 200 Angestellten in Tel Aviv. 50 weitere Mitarbeiter arbeiten in den USA, Brasilien und Europa. Sie entwickeln eine Software, die mithilfe künstlicher Intelligenz Röntgen- und Computertomografie-Bilder analysiert und damit Ärzten eine schnellere Diagnose ermöglicht und die Behandlung von Patienten verbessert. Die Zahl der Aufnahmen in der Medizin sei wie die von Selfies exponentiell gestiegen, sagt Walach, der CEO. Die Zahl der Radiologen hingegen stagniere. Die Folge seien Engpässe bei der Analyse der Aufnahmen und lange Wartezeiten für die Behandlung.

Die Software sucht in den Aufnahmen nach Anomalien, beispielsweise Brüchen, Lungenembolien oder Schlaganfällen, und alarmiert den Arzt. Auf diese Weise komme der Patient, der dringend behandelt werden müsse, als Erster an die Reihe. Laut den Unternehmern hat sich mithilfe der KI-Anwendung die Wartezeit in Notaufnahmen um einen Fünftel reduziert. Und nicht nur das, ergänzt der CTO Braginsky: «Die besten Spitäler der Welt haben mit unserer Lösung auch Erkrankungen gefunden, die sonst übersehen worden wären.»

Es fehlt an Fachkräften

Zur Kundschaft von Aidoc zählen israelische und amerikanische, aber auch Schweizer Kliniken: die Universitätsspitäler in Basel und Bern sowie das Spital Thun. Auch das Unfallkrankenhaus in Berlin ist seit kurzem Kunde. Das erfordert höchste Sicherheitsstandards hinsichtlich Patientendaten. Aber damit kennen sich die drei aus. Schliesslich gehört Hacken heute zum Handwerkszeug jeder Armee.

Die europäischen Datenschutzrichtlinien seien streng und komplex, sagt Braginsky. «Aber sie haben recht. Die Verwendung von Daten nimmt zu. Wir müssen dafür sorgen, dass das Wachstum nachhaltig ist, andernfalls geht alles wieder zugrunde.» Während wir uns in den weitläufigen Räumen des Unternehmens mit eigener Grossküche, Sitznischen und grosser Terrasse in einem Tel Aviver Bürogebäude treffen, ist uns Walach per Video-Link aus Florida zugeschaltet, wo es noch Nacht ist. Das Arbeiten über Zeitzonen hinweg ist Alltag in der israelischen Hightech-Industrie.

Arbeitskräfte im Hightech-Sektor in Israel und anderen Ländern

Anteil in Prozent

Wie viele IT-Firmen sucht Aidoc nach Mitarbeitern. Doch es mangelt an Fachkräften. Wegen seiner Innovationsfähigkeit ist der israelische Hightech-Sektor ein Eldorado für Risikokapital. Im vergangenen Jahr lockte er über 25 Milliarden Dollar an Investitionen an. Das führt auch zur Gründung von Firmen, die oft nur kurz Bestand haben, aber Arbeitskräfte binden. Insgesamt gibt es derzeit mehr als 4000 offene Stellen.

Die Gehälter sind hoch. Früher lockten Unternehmen neues Personal mit «Geschenken» wie mehrtägigen Ausflügen und Partys in exklusiven Resorts. Aber diese Zeiten seien vorbei, sagt Walach. «Die Leute wissen, dass sie gut verdienen können. 5 Prozent mehr oder weniger sind für sie nicht mehr so wichtig.» Stattdessen trete die Zufriedenheit und Identifikation mit der Arbeit in den Vordergrund. «Das bekommen wir zu spüren.»

Die Armee als Boot-Camp

Aber was hat die Aidoc-Gründer bewogen, ausgerechnet in den Medizinbereich einzusteigen? «Wir wussten, dass wir nach dem Armeedienst in den Gesundheitssektor wollten», sagt Walach. «In der Armee sagten sie uns immer, wir müssten unsere Talente für einen höheren Zweck einsetzen. Das hat mich persönlich stark geprägt.» Der Gesundheitssektor sei einer der schwierigsten, zugleich aber auch einer, in dem man sehr direkt für viele Menschen etwas bewirken könne. «Mit anderen Worten», sagt Braginsky, «wir wollen unsere Zeit auf Erden nicht nur mit Geldverdienen verbringen.»

Klingt romantisch? Mag sein. Aber es ist das ursprüngliche zionistische Ideal, das darin durchscheint: Alle tragen zum Aufbau des Landes bei und geben zurück, was es ihnen gegeben hat. Israels Stärke heute sei, dass es strategisch in den Hightech-Sektor investiere, indem es die Ausbildung in der Armee fördere, sagt Walach. Dies zahle sich aus.

Ihre Ausbildung bei Talpiot vergleichen er und Braginsky mit einem Boot-Camp. «Du schläfst im gleichen Zelt, im gleichen Apartment. Dadurch entsteht Vertrauen», sagt Braginsky. «Ich kann dir nicht sagen, wie wichtig das ist, wenn man über Hunderte von Millionen Dollar verfügt, superschwierige Entscheidungen fällt und Risiken handhabt.» Dieses gewachsene Vertrauen sei die Basis dafür, dass sie heute effizienter seien und bessere Entscheidungen träfen.

Israelische Soldaten bei der Mittagspause in einem Trainingszentrum für Häuserkampf, das auch als Mini-Gaza bekannt ist. Auf dem Wandbild ist der verstorbenen Hamas-Führer Sheikh Ahmad Yassin zu sehen.

Israelische Soldaten bei der Mittagspause in einem Trainingszentrum für Häuserkampf, das auch als Mini-Gaza bekannt ist. Auf dem Wandbild ist der verstorbenen Hamas-Führer Sheikh Ahmad Yassin zu sehen.

Oded Balilty / AP

Der Supermarkt von morgen

Eher handfest geht es bei Trigo zu. Das Startup in einem schicken Bürogebäude im Zentrum von Tel Aviv hat sich die Digitalisierung des Detailhandels vorgenommen, genauer gesagt, den Supermarkt von morgen. In einem Testladen zeigt Shay Ziv, wie das funktioniert: in den Laden gehen, Waren in den Einkaufskorb legen, hinausgehen. Kurz danach erscheint in der App, in der man sich zuvor mit der Kreditkarte registrieren muss, der Kassenzettel. Alles tadellos. Zurückgelegte Produkte stehen nicht auf der Rechnung.

Ermöglicht wird dies durch jede Menge Kameras an der Decke, in den Ecken und vor den Regalen und Sensoren in den Regalböden sowie KI. Die Kameras erfassen den Kunden, die Sensoren registrieren Gewichtsveränderungen – etwas verschwindet oder kommt hinzu –, die KI analysiert die Daten in Echtzeit. Das Ergebnis ist der Kassenzettel. Aber natürlich lässt sich damit noch viel mehr machen: Einkauf und Lagerhaltung optimieren, die Ladengestaltung verbessern, das Kundenverhalten analysieren. Zudem liessen sich Kundenprofile anlegen.

Shay Ziv

Shay Ziv

Die Trigo-Lösung könne das jedoch nicht, sagt Ziv, stellvertretender Marketingchef. Sie erstelle eine zufällige ID. «Wir wissen nichts über die Person, speichern keine persönlichen Informationen.» Der Händler könne dies natürlich. Das israelische Startup hat sich erst einmal den europäischen Markt vorgenommen. Im Oktober eröffnete die britische Supermarktkette Tesco in London einen ersten «Pick and Go»-Laden, in dem die Trigo-Lösung zum Einsatz kommt.

Vom Kibbuz in die weite Welt

Im gleichen Monat folgte die deutsche Kette Rewe mit einem Laden in Köln und im Dezember der deutsche Discounter Netto mit einem Geschäft in München. Deutschland gilt wie bei GuardKnox und Aidoc auch bei Trigo als Königsklasse, wenn es um Datenschutzbestimmungen geht. «Wir sind sehr stolz, dass unser System die deutschen Bestimmungen erfüllt.» Rewe stieg auch als Investor ein.

Gegründet wurde Trigo 2018 von dem Brüderpaar Michael und Daniel Gabay, auch sie hochrangige Armeeveteranen. Michael Gabay brachte als Leiter interdisziplinärer Forschungsprojekte die Managementerfahrung mit, Daniel, wie die Aidoc-Gründer ein Talpiot-Absolvent, das technische Know-how. Die ersten Schritte, so erzählt man sich bei Trigo, hätten die Brüder in einem kleinen Kibbuz gemacht. Sie hätten im lokalen Supermarkt gefragt, ob sie ein paar Kameras installieren könnten, um ihre Idee auszuprobieren.

Die Geschichte klingt verrückt. Sie illustriere aber gut das Besondere am israelischen Ökosystem: den Forscherdrang, die einzigartigen Beziehungen und die geringe Bürokratie, sagt Ziv. «Jemand hat eine verrückte Idee, geht damit zu einem Bekannten und probiert sie aus. Wenn er scheitert, probiert er das Nächste aus. Am Ende kommt eines dieser grossen Unternehmen heraus.»

Trigo beschäftigt heute 180 Mitarbeiter – und will weiter wachsen. Oder in den Worten des Marketingmannes Ziv: «Im Detailhandel findet heute eine digitale Transformation statt, vergleichbar mit der im Bankenwesen vor zwanzig Jahren. Trigo ist führend und baut die dazu erforderliche Infrastruktur auf. Wir können ein richtig grosses Unternehmen werden.»

Inspektionen aus der Luft

Manchmal stehen am Beginn einer guten Geschäftsidee auch Ferien. Dor Abuhasira und Raviv Raz kam ihre Idee beim Snowboarden in Österreich. Dabei trugen sie Go-Pro-Kameras. Ihr Hobby war derweil der Bau von Drohnen. So kamen sie auf die Idee, eine Go-Pro-Kamera in einer Drohne zu installieren. Sie mussten aber schnell feststellen, dass das nicht funktioniert.

«Wir waren jung, hatten keine Familie. Wir warfen unsere Jobs hin und begannen, nach einer autonomen Lösung mit Computer-Vision zu suchen», sagt Abuhasira. «Wir schlugen uns von Monat zu Monat durch. Aber wir hatten Glück. Drohnen waren damals das grosse Ding. Und wir waren das richtige Team.» Aus der Snowboard-Idee von 2013 entstand ein Jahr später Percepto, ein Unternehmen mit 160 Mitarbeitern in der Kleinstadt Modiin, das heute in der vollautomatisierten Überwachung von Industrieanlagen zu den Weltmarktführern zählt.

Ihr Erfolgsprodukt ist die «drone-in-a-box». Das System besteht aus einer Drohne, der Box, die als Gehäuse und Ladestation dient, und der Software, die das System steuert. Die Drohne fliegt automatisch von der und zur Ladestation, während der Flugzeit inspiziert sie zum Beispiel Ölanlagen, Kraftwerke oder Minen. Die Kameras liefern hochauflösende Bilder, die entweder in Echtzeit oder zu einem festgelegten Zeitpunkt an den Betreiber geliefert werden. Eine KI wertet die Bilder aus und verbessert kontinuierlich die Erkennung von Schäden. Ähnliches bietet die Firma mit Robotern an.

Dor Abuhasira

Dor Abuhasira

Die Inspektion solcher Anlagen ist aufwendig und findet oft nur alle paar Jahre statt. Mit Drohnen oder Robotern könne sie häufiger erfolgen und sei genauer, sagt Abuhasira. «Wir können Schäden finden, an die niemand gedacht hat, und Katastrophen verhindern. Es ist eine Revolution.» Das System funktioniert laut Abuhasira selbst unter Extrembedingungen. In den USA, dem Hauptmarkt, testeten sie es während Schneestürmen und Hurrikans von bis zu 240 Kilometern pro Stunde.

Die Startup-Szene ist erwachsen geworden

Der «Revolution» voraus gingen im Fall von Abuhasira, dem CEO, Erfahrungen im Silicon Valley. Raviv Raz, der Snowboard-Freund und CTO von Percepto, war Luftwaffenpilot und dann bei Israel Aerospace Industries an der Entwicklung hochmoderner Drohnen beteiligt. Im schlabbrigen grauen T-Shirt sitzt der hagere Abuhasira in seinem kleinen Büro und strahlt über das ganze Gesicht.

Möglich wurde der Erfolg, weil so viel Geld in die israelische Hightech-Branche fliesst. Das hat das Denken in der Branche radikal verändert. Bis vor einem Jahrzehnt setzten Firmengründer darauf, mit ihrer Idee Aufsehen zu erregen und das Startup zu einem möglichst guten Preis an einen Grosskonzern zu verkaufen. Doch das gehört, wie die ausufernden Partys, der Vergangenheit an.

Stattdessen streben die meisten Startups nun danach, sich selbst einen Platz auf dem internationalen Markt zu erobern. Mit dem Zugang zu mehr Kapital laute die Devise heute: «Ich baue ein Unternehmen mit 1000 Mitarbeitern auf, ich werde eine Milliarde Umsatz machen», sagt Abuhasira. «Genau das mache ich hier.» Israels Startup-Szene ist gewissermassen erwachsen geworden.

Cybersecurity ohne Grenzen

Die klassische IT hat sich in den letzten Jahren radikal verändert, der heimische Server ist in die weltweite Cloud gewandert. In der EU benutzten im vergangenen Jahr 41 Prozent der Unternehmen Cloud-Services. Damit wird Datensicherheit anspruchsvoller – und die Hackerangriffe nehmen zu. Im letzten Jahr seien die Angriffe mit verschlüsselter Schadsoftware um 167 Prozent gestiegen, die Ransomware-Attacken seien um 105 Prozent in die Höhe geschossen, berichten Branchendienste.

Die Cyberkriminalität nimmt zu

Das auf Cybersecurity spezialisierte Startup Orca Security hat für die Sicherheitsprobleme eine Lösung gefunden, die sich nicht in der Einrichtung diverser Sicherheitslösungen verzettelt. In der Cloud, in der physische Server virtualisiert sind, gälten andere Gesetze, sagt Gil Gereon, einer der Vorstände des Startups mit 300 Mitarbeitern im In- und Ausland. Es brauche eine ganz andere Herangehensweise als bisher. «Side scanning» nennt sich die von Orca entwickelte Technik.

Statt wie bisher die verschiedenen sicherheitsrelevanten Bereiche einzeln anzugehen, untersucht diese die virtuellen Server in ihrer Gesamtheit. «Wir können die Cloud-Umgebung innerhalb von Minuten schützen, ohne dass es dabei zu Friktionen kommt oder der Kunde Software installieren muss. Er kann in Sekundenschnelle den Zustand der Cloud-Instanzen sehen. Es ist eine Revolution.»

Von den Guten und den Bösen

Das Startup, das seinen Sitz in einem unscheinbaren Gebäude in einer Strasse mit bunten Cafés und heruntergekommenen Häusern in Tel Aviv hat, ist ein Senkrechtstarter. Erst vor drei Jahren wurde es gegründet, sein Marktwert liegt inzwischen bei 1,8 Milliarden Dollar. Unter den Investoren finden sich Risikokapitalgeber wie der Investmentarm von Alphabet, Capital G, und die Staatsholding Temasek aus Singapur. Die Kundschaft sitzt in aller Welt und kommt aus allen Branchen: Banken, Gesundheitseinrichtungen, Technologie- und Fertigungsunternehmen, E-Commerce.

So begehrt Cybersecurity aus Israel ist, so sehr ist sie wegen des NSO-Skandals auch in Verruf geraten. Der CEO und der CTO von Orca haben wie die NSO-Gründer ihr Handwerk bei der «Unit 8200» gelernt, den Cyberkriegern der israelischen Armee. Doch sie stehen heute auf der Gegenseite, wie Gereon betont. «Für uns ist sehr, sehr wichtig, auf der guten Seite zu stehen. Wir haben Cybersicherheit gewählt, weil wir Kriminalität verhindern und Firmen in einem komplexen Umfeld helfen wollen.»

Israels Hightech-Sektor floriert. Waren Orangen einst Israels Exportschlager Nummer eins, machen Hightech-Produkte heute bereits 54 Prozent der Gesamtexporte aus. Zum Erfolg trägt auch die grosszügige Unterstützung durch die Regierung bei. Dass Tech-Firmen an den Börsen an Wert verloren und die Zahl der Neugründungen zurückging, sehen Unternehmen als Korrektur des Hypes. Eine Blase, ähnlich wie die Internetblase um die Jahrtausendwende, fürchten sie aber nicht.

Der Griff nach den Sternen

Das grosse Zauberwort lautet derzeit Diversifizierung: Um die Zukunft zu sichern, brauche es in der Branche mehr Frauen, mehr Araber und Ultraorthodoxe. Bei Orca hat man das Personalproblem mit Beschäftigten in den USA, Europa und Indien gelöst. Anfangs seien sie skeptisch gewesen, sagt Gereon. Am Ende habe das Startup enorm profitiert. Durch die anderen Perspektiven und Herangehensweisen fänden sie bessere Lösungen. GuardKnox im ethnisch gemischten Ramla unterstützt arabische Schulen, um dort Talente zu fördern.

In dem Land, das ständig in Verteidigungsbereitschaft ist, wird die Armee aber auch künftig die wichtigste Talent- und Kaderschmiede sein, darin sind sich die Unternehmer einig. Die Visionen der Gründergeneration seien für ihn eine grosse Inspirationsquelle, sagt Shlisel von GuardKnox. In der Spezialeinheit der Luftwaffe habe er indes gelernt, dass es Grenzen nur im Kopf gebe. «Wenn du das richtige Team und die richtigen Ziele hast, gibt es keine Grenzen», sagt Shlisel. «Dann kannst du nach den Sternen greifen.»

Feiern zum israelischen Unabhängigkeitstag am 5. Mai 2022.

Feiern zum israelischen Unabhängigkeitstag am 5. Mai 2022.

Amir Cohen/ REUTERS

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