Jon Pult: “Der Gegner sitzt rechts”

Nach den Bundesratswahlen ist vor den nationalen Wahlen: Jon Pult spricht über die Krise der Sozialdemokratie, die Abgrenzung von den Grünen – und seine eigenen Ambitionen.

«Der Gegner sitzt rechts»: SP-Vizepräsident Jon Pult im Bundeshaus.

Herr Pult, lassen Sie uns mit einer kurzen Manöverkritik der Bundesratswahlen beginnen.

Jon Pult: Klar.

Die SP wurde jüngst stark kritisiert. Wir nehmen an, Sie schauen dennoch ganz selbstzufrieden darauf zurück.

Ja, was die Wahl der SP-Bundesrätin angeht, bin ich sehr zufrieden. Am Tag des Rücktritts von Simonetta Sommaruga hatten wir keine Sicherheiten – dass wir den Sitz verteidigen können, dass wir ihn mit einer guten Frau verteidigen können, und das mit einer überzeugenden Wahl. Das ist gelungen. Natürlich gab es viel Kritik, aber das ist ein Gütezeichen: Wenn die Sozialdemokratie zu smooth durch die Institutionen durchflutscht, ist etwas nicht richtig.

Aber bitte. Ihr Ständerat Daniel Jositsch wurde desavouiert. Ihre Regierungsrätin Evi Allemann wurde als grosses Gleichstellungssymbol portiert, um sie dann doch nicht zu nominieren. Ihr Bundesrat Alain Berset wurde mit einem sehr schlechten Resultat zum Präsidenten gewählt und muss schon die Frage beantworten, wann er zurücktritt. Und das Umwelt- und Energiedepartement hat die SP auch verloren. Das ist die Schadensbilanz.

Es ist bedauerlich, dass wir das Umwelt- und Energiedepartement verloren haben. Bei allem anderen gibt es keinen Schaden. Die 58 Stimmen für Daniel Jositsch waren ein kleines Aufbegehren des patriarchalen Restbestands im Parlament. Die Fraktion hat demokratisch entschieden, dass man Eva Herzog und Elisabeth Baume-Schneider vorschlägt – und nicht Evi Allemann. Alain Bersets Resultat ist schon bald vergessen. Und dann möchte ich betonen, was viel zu wenig kommentiert wurde.

Was?

Die Wahl der ersten Jurassierin in den Bundesrat. Wenn man die Geschichte der jurassischen Ablösung von Bern kennt, eine komplizierte, untypische, auch gewaltvolle Schweizer Geschichte, dann bedeutet es etwas für die Integrationskraft dieses Landes, dass nun auf dem Bundesplatz jurassische Flaggen neben bernischen Flaggen wehten. Und das ist ermöglicht worden durch die SP.

Ihre Co-Präsidentin Mattea Meyer bezeichnete die Wahl als «grossen Erfolg», Sie nennen die bürgerliche Häme ein Gütesiegel. Bei derart viel Unruhe, die entstanden ist: Müsste man nicht so ehrlich sein und sagen, die SP-Führung habe die Wahl vercoacht?

Man kann eine Wahl nicht vorbereiten, wenn eine Bundesrätin wegen eines persönlichen Schicksalsschlags plötzlich zurücktritt. Das Resultat ist entscheidend, und das ist gut. Ich halte nichts von der Idee, dass die SP stark ist, wenn sie von allen Medien gelobt wird. Die SP ist dann stark, wenn sie glaubwürdig Politik macht. Wir haben bewiesen, dass wir Gleichstellung ernst meinen, dass trotz Widerstand eine starke linke Frau in den Bundesrat gewählt werden kann. Ich sehe nicht, wie man die Wahl nicht als Erfolg sehen kann.

Das Resultat war ein bürgerliches Powerplay. Und eine SP, die seit dem Tag der Departementsverteilung von einem «abgekarteten Spiel» spricht. Offenbar ist das Resultat für Sie doch nicht so gut.

Sie müssen unterscheiden. Ich habe von der Wahl gesprochen, auf die wir einen Einfluss hatten. Die Verteilung der Departemente war eine Niederlage. Aber wir werden sehen, was passiert. Albert Rösti muss jetzt als ehemaliger SVP-Präsident, Erdöllobbyist und Atomfreund im Bundesrat die Energiewende durchsetzen – er kann nicht darüber philosophieren, ob sie richtig oder falsch ist, sie ist vom Volk beschlossen. Und er muss das Klimaschutzgesetz gegen seine SVP vertreten.

Befürchten Sie nicht, dass die Linke stärker unter Druck kommen wird?

Es gibt den offensichtlichen Versuch von einem Teil des Bürgertums, die Linke zu spalten und zu schwächen: Indem man die SP und die Grünen gegeneinander auszuspielen versucht, indem man Alain Berset in der Wahl als Bundespräsident bestraft, ohne es zu begründen, indem man die Muskeln zeigt bei der Verteilung der Departemente. Aber der Zauber des schweizerischen Systems besteht darin, dass bürgerliche Schulterschlüsse nie lange funktionieren. Die variablen Geometrien sind die Konstanten in der Schweiz.

Vor etwas mehr als einem Jahr reisten Sie nach Berlin und gratulierten dem neu gewählten Bundeskanzler Olaf Scholz. Cédric Wermuth jubelte über eine «Zeitenwende für die Sozialdemokratie». Davon hat man in Europa nichts gespürt, auch nicht in der Schweiz. Die Sozialdemokratie darbt weiter.

Die Wahl von Olaf Scholz beweist, dass Prognosen in den Medien oft nichts mit der Realität zu tun haben. Zehn Monate davor hiess es nicht etwa, die Sozialdemokratie darbe, sondern sie sei tot! Heute ist die SPD die Partei des Kanzlers. Das heisst für uns: Wir sollten uns nicht nervös machen lassen vom medialen Tenor, der jüngst SP-kritisch bis SP-feindlich war.

Tatsache ist, dass die SP von den letzten 16 kantonalen Wahlen 13 verloren hat. Auf nationaler Ebene sind Sie mit 16,8 Prozent Wähleranteil auf dem tiefsten Stand seit der Einführung des Proporzes im Jahr 1919.

Ja, wir haben Wahlen verloren. Aber der Negativ-Zyklus geht zu Ende. Wir sind als Partei glaubwürdig, wir tun, was wir versprechen. Und vor allem haben wir Lösungen für die drängenden Fragen der Zeit: die Teuerung, zu hohe Mieten, die explodierenden Prämien, die Gleichstellung, den Klimaschutz und die Energiesicherheit. Wir sind voll auf den Themen.

Die historische Mission der Sozialdemokratie ist doch erfüllt: Die Sozialwerke sind ausgebaut. Nun verteidigen Sie diese, aber es fehlen Zukunftsprojekte.

Völlig falsch. Die Ungleichheit nimmt zu, in der Schweiz und auf der Welt. Wir müssen für eine gerechtere, stabilere und sozialere Gesellschaft kämpfen. Das erwartet man von der Sozialdemokratie. Völlig zu Recht!

Als Sie gerade über die grossen Themen sprachen, haben Sie Europa nicht erwähnt.

Europa ist ein Schlüsselthema. Aber es interessieren sich noch zu wenige dafür – die breite Bevölkerung spürt die unmittelbaren Nachteile der Blockade zwischen der Schweiz und der Europäischen Union noch nicht.

Haben Sie Europa auch deshalb nicht erwähnt, weil Sie innerhalb der Partei Widersprüche haben, die sich nicht überwinden lassen? Sie leiteten eine europapolitische Arbeitsgruppe in der SP und mussten merken: Es gibt EU-Befürworter auf der einen Seite und Jungsozialisten, die die EU als eine Art neoliberale Horrorvision ablehnen, auf der anderen. Dazu kommen die Gewerkschaften, die beim Lohnschutz keine Kompromisse machen wollen.

Es gibt Minderheiten in der SP, die es anders sehen, aber die Mehrheit hat entschieden, wie wir es vorgeschlagen haben: Unser Fahrplan sieht zuerst ein Stabilisierungsabkommen mit der EU vor, dann ein Wirtschaftsabkommen mit der Klärung der institutionellen Fragen und schliesslich, in einigen Jahren, Beitrittsverhandlungen. Wir spüren doch, dass nur ein gemeinsames Europa die Gestaltung der Zukunft ermöglicht. Dass wir in der Schweiz die hohen Löhne schützen müssen, ist allen klar. Sie sind Garant für unseren Wohlstand. Nach dem verantwortungslosen Verhandlungsabbruch beim Rahmenabkommen muss der Bundesrat eine neue Lösung mit der EU aushandeln. Die Voraussetzungen dafür sind besser, seit die EU die Mindestlohnrichtlinie kennt. Wir wollen Lohnschutz mit Europa.

Aus dem Umfeld von Aussenminister Ignazio Cassis kommen positive Signale.

Ich hoffe sehr, dass das zutrifft. Ignazio Cassis wollte Aussenminister bleiben, jetzt wäre es an der Zeit, Zählbares zu liefern. Er ist in der Verantwortung. Aber auch der Gesamtbundesrat muss Leadership zeigen.

Wenn wir bei den grossen Fragen sind: Der Überfall Putins auf die Ukraine . . .

. . . ist eine Katastrophe und ein Verbrechen, das auch bei mir vermeintliche Gewissheiten erschüttert hat.

«Wir sind voll auf den Themen»: Jon Pult, Nationalrat aus dem Kanton Graubünden.

«Wir sind voll auf den Themen»: Jon Pult, Nationalrat aus dem Kanton Graubünden.

Zum Beispiel?

Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass Putin diesen Krieg anzettelt, und dachte, dass es nach dem militärischen Säbelrasseln doch noch eine diplomatische Lösung gibt.

Hat der Krieg auch zu einem Umdenken in der Sicherheitspolitik geführt? Die SP ist historisch gesehen die Partei der Armeeabschaffer.

Der Krieg ist leider eine Realität, und ein naiver Pazifismus ist unhaltbar, weil er faktisch den Aggressor schont. Wir müssen die neuen geopolitischen Verhältnisse sehr ernst nehmen. Putin darf sich nicht durchsetzen. Es geht auch um eine Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autokratie. Die Schweiz muss klar Position beziehen und ihren Beitrag leisten.

Aber?

Es ist kompletter Unsinn, dass das Parlament das Armeebudget massiv aufgestockt hat, ohne zu wissen wofür. Da bin ich ganz bei SVP-Finanzminister Ueli Maurer, der diesen Blankocheck kritisierte. Die Aufrüstungsforderung konnte man bei Kriegsausbruch als Panikreaktion noch verstehen. Aber schon heute fragen sich nicht nur SP-Wählerinnen und Wähler: Was soll das? Der Krieg hat klar gezeigt, dass wir in der Schweiz militärisch so sicher sind wie selten zuvor, zumindest was die Bedrohung durch konventionelle Waffen angeht. Wenn Putins Panzer Kiew nicht einnehmen können, wie sollen sie bis zum Bodensee kommen? Für die Sicherheit und Unabhängigkeit der Schweiz würden wir besser viel mehr in eine erneuerbare und souveräne Energieversorgung investieren.

Bei der Armee muss nachgebessert werden, weil sie seit dreissig Jahren kleingespart worden ist.

Wenn die Armee nicht einsatzfähig ist, liegt es doch nicht am Geld, sondern am schlechten Management. Das ist ja ein bürgerliches Credo: Man kann auch mit weniger Geld etwas Funktionierendes machen. Wer bei unserer Milizarmee eine Vollkostenrechnung macht, stellt zudem fest, dass wir pro Kopf noch immer eine der teuersten Armeen in Europa haben.

Unsere Sicherheit wird massgeblich von der Nato gewährleistet und garantiert. Wie sieht denn Ihr Solidaritätsbeitrag aus?

Der Tanz um eine Nato-Annäherung, den FDP-Präsident Thierry Burkart und Mitte-Präsident Gerhard Pfister aufführen, ist ja schön anzusehen. Aber er ist für die Galerie, denn die in der Bevölkerung tief verankerte Neutralität wollen die beiden ja doch nicht beerdigen. Die Schweiz soll sich an der europäischen Sicherheitsarchitektur beteiligen, keine Frage. Mit zivilen Mitteln. Wir können uns finanziell einbringen oder mit Friedensförderung. Eine eigene übergrosse Armee inmitten von Freunden leuchtet nicht ein. Das fordert in Europa auch niemand. Hingegen wird zu Recht erwartet, dass wir die Sanktionen gegen Russland konsequenter umsetzen.

Der Slogan der Gleichheitspartei SP lautete immer: «Mehr für alle.» Nun leben wir in wachstumskritischen Zeiten: Aus der fossilen Energie soll ausgestiegen, generell soll Energie gespart werden. Setzen Sie jetzt wie die Grünen auf Degrowth – «besser statt mehr»?

Glückliches Schrumpfen finde ich schwer vorstellbar. Aber wir müssen definitiv anders wachsen. Wir müssen wirtschaftliche Prosperität entkoppeln vom Ressourcenverschleiss. Die Aufgabe ist schwierig – aber weniger schwierig als eine glückliche Gesellschaft zu schaffen, deren Wohlstand schrumpft.

Was heisst das konkret?

Es braucht die Freiheit für alle, das Leben nach eigener Façon zu gestalten, auch materiell. Und wir müssen es so schaffen, dass es nicht noch mehr auf Kosten der kommenden Generationen geht. Appelle zum Verzicht reichen nicht. Wir werden massiv investieren müssen in erneuerbare Energie, Energieeffizienz, Kreislaufwirtschaft und eine radikal erneuerte Landwirtschaft. Ein «new deal» des 21. Jahrhunderts, der viele Jobs und Perspektiven schafft. Wachstumsdebatten sind philosophisch interessant, aber wenig hilfreich in der Politik. Da zählen reale Fortschritte.

In der Klimapolitik stehen Sie mit den Grünen in direkter Konkurrenz, die Ihnen in den letzten Jahren viele linke Wählerinnen und Wähler abgeworben haben und nun einen Sitz im Bundesrat anstreben.

Die Grünen haben durch ihren Namen einen Kommunikationsvorteil in Umweltfragen. Aber der Vorteil der SP ist, dass wir liefern können. Wir sind breiter aufgestellt, wir sind die linke Regierungspartei. Und wir haben einen Leistungsausweis, das Klimaschutzgesetz zum Beispiel wurde massgeblich von der SP geprägt.

Wir stellen fest: Vor dem Wahljahr nimmt die Nervosität im linken Lager zu.

Das ist Ihre Wahrnehmung.

Der Politologe Claude Longchamp bezifferte die inhaltliche Übereinstimmung von SP und Grünen auf sagenhafte 95 Prozent. Wie koexistiert man da?

Die Grünen sind unsere engsten politischen Verbündeten. Gleichzeitig sind sie elektoral unsere grösste Konkurrenz. Ein bisschen Wettbewerb im linken Lager ist aber gar nicht schlecht. Getrennt marschieren, vereint schlagen, könnte man martialisch sagen. Der Gegner sitzt rechts.

Wo sehen Sie dabei Ihre Rolle?

Ich werde als Nationalrat in Graubünden für die SP kämpfen und als Vizepräsident auf nationaler Ebene.

Und mittelfristig – im Bundesrat, wie immer wieder gesagt wird?

Bundesrat zu werden, ist nicht mein Lebensziel. Aber ich weiss, welche Fragen ich mir im Fall der Fälle stellen würde. Kann ich dort etwas bewegen, ist es mit meiner persönlichen Situation und Lebensplanung vereinbar, und vor allem – traue ich es mir zu? Wie ich diese Fragen im hypothetischen Fall beantworten würde? Keine Ahnung.

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