Kein Rahmenabkommen, kein EWR: Das Schweiz-Dilemma

Vor dreissig Jahren wollte der Bundesrat die Schweiz in die EU führen, vor einem Jahr wurde das Rahmenabkommen versenkt. Zeit für eine Rückschau – und einen Blick nach vorn.

Aufbruch nach Europa? Die Bundesräte Jean-Pascal Delamuraz, René Felber und Arnold Koller sowie Vizekanzler Achille Casanova (Dritter von links) informieren am 20. Mai 1992, dass die Schweiz in Brüssel ein Gesuch um Aufnahme von Beitrittsverhandlungen einreichen wird.

Rolf Schertenleib / Keystone

Der 26. Mai ist in der Schweizer Europapolitik ein besonderes Datum. Vor einem Jahr hat der Bundesrat an diesem Tag die Verhandlungen mit der EU über ein Rahmenabkommen abgebrochen; und es war ebenfalls ein 26. Mai, ein grauer Dienstag im Jahr 1992, als der Bundesrat in Brüssel das EU-Beitritts-Gesuch der Schweiz deponierte.

Scheitern und Aufbruch, Abgrenzung und Annäherung – exakt dreissig Jahre liegen zwischen den beiden Daten und zeigen das ganze Spektrum und das ewige Dilemma schweizerischer Europapolitik. Dazu sieben Bemerkungen:


1. Die Schweiz verhält sich alarmistisch und sorglos zugleich

Etwa 900 Kilometer südlich von Zürich findet sich bestes Anschauungsmaterial, um die Europapolitik der Schweiz zu verstehen. Dort steht der Vesuv, ein einzigartiger Berg, der dem Golf von Neapel seine besondere Anmut verleiht – aber nicht nur das. Der Vesuv ist ein Vulkan, ein schlafender Riese, eine Zeitbombe. Sein letzter grosser Aufbruch datiert von 1944, aber er lebt, und er bewegt sich. Die Menschen an seinen Flanken nehmen es mit einem gewissen Fatalismus hin. Weil der Vulkan sich seit Jahrzehnten mehr oder weniger ruhig verhält, siedeln sie weit hinauf, bis in die zona rossa, dorthin, wo es richtig gefährlich werden könnte, wenn der Koloss erwacht. Das Risiko? Es wird ignoriert oder verdrängt.

Die Analogie mag gesucht sein, gewiss, aber beim Anblick des Vesuvs fühlt man sich an die Situation nach dem Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen erinnert. Die Sorglosigkeit der Schweizer Politik im Umgang mit der EU, gepaart mit der vermeintlichen Gewissheit, es werde so arg dann schon nicht kommen, wenn wir uns mit Brüssel nicht einig werden – all dies erinnert an die Neapolitaner, die in der roten Zone bauen und darauf vertrauen, dass im schlimmsten Fall noch genügend Zeit für eine geordnete Evakuierung bleibt.

Aber ausgerechnet die Schweizerinnen und Schweizer? Sie, die als risikoavers gelten und weltweit am meisten Geld für private Versicherungen ausgeben? Das passt schlecht zur Bedenkenlosigkeit gegenüber der EU. Blickt man auf dreissig Jahre Europadebatte in der Schweiz, wird klar, dass der momentane Fatalismus denn auch nur die eine Seite der Medaille ist. Die andere ist Panik, Isolationsangst und das Gefühl, übergangen zu werden.

Die Schweiz verhält sich gegenüber der EU gleichermassen alarmistisch wie sorglos. Wir sind beides, die Seismologen in den Warnzentren und die Bauherren, die in der zona rossa Häuser erstellen. Wir registrieren jede noch so kleine Bewegung des Vulkans – und kümmern uns dann kaum darum.

Was fehlt, ist ein entspannter Blick auf die Realitäten. Und damit verbunden die Einsicht in ein paar unabänderliche Tatsachen. Der Vesuv verschwindet nicht, ebenso wenig die Gefahr, die von ihm ausgeht. Und die EU? Nimmt man die Römischen Verträge von 1957 als Gründungsdatum, dann besteht sie seit nunmehr 65 Jahren, und es ist allen Krisen zum Trotz nicht davon auszugehen, dass sie sich einfach auflöst. Die Schweiz ist mittendrin, sie gehört zu Europa, Geografie ist gnadenlos.


2. Vergebliche Suche nach dem besseren Europa

Trotzdem misstraut die Eidgenossenschaft der europäischen Integration und sucht seit deren Anfängen nach Alternativen, vermeintlich besseren Modellen und ergreift fast jeden Strohhalm, der ihr wirtschaftliche Teilhabe ohne politische Bindung ermöglicht.

Dabei diente die Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst als Plattform, auf der die europäische Idee mitentwickelt und konkretisiert wurde. Verschiedene wichtige Konferenzen fanden hier statt. Und 1946 nutzte bekanntlich Winston Churchill einen vielbejubelten Besuch in der Schweiz, um in der Universität Zürich den Appell «Let Europe arise!» zu lancieren und zur Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich aufzurufen. Aber die Schweiz hielt es mit Churchill und den Briten: Sie sah sich selbst nicht als Teil dieses Vorhabens. Für sie blieb die Brüsseler Gemeinschaft ein obrigkeitliches Projekt, das mit der von unten gebauten Eidgenossenschaft und ihrer direkten Demokratie wenig gemein hatte.

Die Schweiz als Plattform für die europäische Idee: Besuch von Winston Churchill in Zürich im September 1946.

Die Schweiz als Plattform für die europäische Idee: Besuch von Winston Churchill in Zürich im September 1946.

Photopress / Keystone

Churchill hält auf dem Münsterhof in Zürich eine Rede, seinen berühmten Appell «Let Europe arise!» lanciert er aber in der Aula der Universität.

Churchill hält auf dem Münsterhof in Zürich eine Rede, seinen berühmten Appell «Let Europe arise!» lanciert er aber in der Aula der Universität.

Photopress / Keystone

Die Schweiz als Plattform für die europäische Idee: Besuch von Winston Churchill in Zürich im September 1946.

Photopress / Keystone

Entsprechend interessierte sie sich jahrzehntelang weniger für Brüssel und die EU-Vorläuferorganisationen als vielmehr für andere, vermeintlich passendere Formen der Zusammenarbeit: Zum Beispiel für jene mit der Efta, der europäischen Freihandelsassoziation, die als europäische Alternative gegründet wurde; oder – bis in unsere Tage – für jene mit den Briten, die ihrerseits ihren eigenen Weg in Europa suchen. Prominente Wirtschaftskreise wiederum fordern seit Jahr und Tag, die Schweiz solle sich von der Fixierung auf die EU lösen und gegenüber der ganzen Welt offenbleiben. Interessanterweise haben sich selbst die Befürworter einer Annäherung an die EU argumentativ bei den Gegnern bedient, um ans Ziel zu gelangen. Selbst die Zustimmung zu den bilateralen Verträgen und anderen Abkommen wurde immer auch mit einer Distanzierung von einem EU-Beitritt erkauft.

Und so hat sich die Schweiz in all den Jahren des Ringens mit Brüssel – auch in den glücklicheren – geistig immer mehr von der EU entfremdet. Mit dem Resultat, dass man immer wieder von Realität eingeholt und überrascht wurde, so zum Beispiel, als Ende der 1980er Jahre die Geschichte hereinbrach, die Dinge sich beschleunigten und die Schweiz sich positionieren musste. Sollte sie nun, wie ihre Partner in der losen Efta-Gruppe, am EWR teilnehmen oder gar der EU beitreten? War jetzt, am Ende des Kalten Kriegs, die Stunde für ein europäisches Bekenntnis gekommen? Allein die Frage überforderte das Land. Das Resultat war das EWR-Nein vom 6. Dezember 1992, auf welches ein Jahrzehnt der Ungewissheit und Verhandlung folgte, bis schliesslich die bilateralen Verträge für Entlastung und Ruhe sorgten und hierzulande das Gefühl hervorriefen, das sei sie nun, die goldene Lösung für die Schweiz in Europa.

Treibende Kraft hinter der Europa-Skepsis: Christoph Blocher im November 1992 an einem Umzug gegen den EWR-Beitritt.

Treibende Kraft hinter der Europa-Skepsis: Christoph Blocher im November 1992 an einem Umzug gegen den EWR-Beitritt.

Keystone


3. Der stete Zwang zur Wiederholung

Sosehr sich die Verhandlungsgegenstände und deren Tragweite geändert haben, so unterschiedlich die damit verbundenen Ambitionen waren – eines ist konstant geblieben: Die Debatte über Europa und die EU verläuft in der Schweiz seit dreissig Jahren in den gleichen Bahnen, sie lebt von der steten Wiederholung, sie ist vorhersehbar und mitunter etwas neurotisch, ein dumpfer Austausch der immergleichen Argumente. Stets geht es sofort ums grosse Ganze – auch wenn in einer komplizierten Verhandlung zum Beispiel über die Beseitigung technischer Handelshemmnisse im grenzüberschreitenden Güterverkehr diskutiert wird. Es wird immer gleich mit grosser Kelle angerichtet: Selbstaufgabe einer Nation contra Teilhabe am europäischen Friedenswerk, dazwischen bleibt nicht viel Raum für Differenzierung.

Eine simple politische Beurteilung, ob in einem konkreten Vertrag die Vorteile, die man sich vom Vertrag als Ganzem verspricht, die Kompetenzübertragung von Bern nach Brüssel rechtfertigen – solche nüchternen Güterabwägungen unterbleiben in der Schweizer Europapolitik in der Regel. Es ist keine Übertreibung, zu behaupten, dass die Debatte, die sich vor dreissig Jahren um den Beitritt zum EWR entspann, nie wirklich beendet wurde.


4. Die Schweiz ist bequem geworden

In dieser Diskussion hat es sich die Schweiz bequem eingerichtet. Das ist gefährlich. Denn Europa, sosehr es sich von Krise zu Krise bewegt, kann sich sehr rasch verändern, wir erleben es gerade. Es wäre für die Schweiz wichtig, in Szenarien zu denken, positiven wie negativen. Was, wenn die Zentrifugalkräfte in der EU überhandnehmen und keine Übereinstimmung in wichtigen Fragen mehr herrscht? Fällt das Konstrukt dann auseinander? Mit welchen Folgen für die Schweiz? Oder, in die andere Richtung gedacht: Was, wenn sich die EU aufrappelt? Wenn sie deshalb ihren Binnenmarkt wirklich vollendet? Was, wenn sie – wie man es in der Ukraine-Krise beobachten kann – aufgrund von totalitären Anfechtungen zusammenrückt? Wo steht dann die Schweiz?

Sie kann den Kopf nicht einfach in den Sand stecken. Sie muss sich darüber klar werden, was sie mit der EU eigentlich erreichen will. Diese intellektuelle Anstrengung ist in den letzten dreissig Jahren weitgehend ausgeblieben – beziehungsweise: Sie ist uns erspart geblieben, weil es ja am Ende immer irgendwie vorwärtsging. Es scheint, als sei diese Methode nun an ihr Ende gekommen.

«Europa wir kommen!»: Knapp zwei Wochen nach dem EWR-Nein an der Urne demonstrieren am 19. Dezember 1992 mehrere tausend Personen vor dem Bundeshaus für eine solidarische Schweiz in Europa.

«Europa wir kommen!»: Knapp zwei Wochen nach dem EWR-Nein an der Urne demonstrieren am 19. Dezember 1992 mehrere tausend Personen vor dem Bundeshaus für eine solidarische Schweiz in Europa.

Lukas Lehmann / Keystone


5. Die Europablockade ist auch eine Reformblockade

Diese Feststellung führt zu einem weiteren Gedanken. Könnte es sein, dass die Blockade in der Europapolitik und das Unvermögen der Schweiz, auf anderen Gebieten Reformen zu realisieren, etwas miteinander zu tun haben? Die zeitliche Koinzidenz jedenfalls ist auffallend. Der letzte weitreichende Reformschritt, die Einführung der Schuldenbremse, geht auf 2001 zurück. Und die letzte namhafte Rentenreform liegt auch schon Jahre zurück. Gewiss: Finanzen, Renten und Europa sind völlig verschiedene Themen. Und doch zeigt sich bei beiden ein ausgesprochener (linker wie rechter) Konservatismus, der das Land lähmt.

In der Europadebatte haben wir uns daran gewöhnt, Neues mit dem Argument durchzubringen, es bleibe im Wesentlichen alles beim Alten. Doch diese schweizerische «Zauberformel» taugt je länger, desto weniger. Es ist nicht davon auszugehen, dass grössere Reformschritte just einem Land gelingen, das in einer wesentlichen und identitätsrelevanten Frage, nämlich der Gestaltung der Beziehungen zu seinen Nachbarn, blockiert ist. Innere und äussere Reform lassen sich nicht trennen. Das war auch nach dem EWR-Nein so. Die Aufnahme von bilateralen Verhandlungen ging einher mit einer marktwirtschaftlichen Erneuerung der Schweiz.


6. Die Nebelwand der «Optionen»

Was also kann die Schweiz tun? Nach dem Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen war oft von der «Stunde null» in der Europapolitik die Rede – zu Recht. Doch «Stunde null» bedeutet nicht, dass man voraussetzungslos in die nächste Runde starten sollte. Dreissig Jahre Europapolitik bieten reiches Anschauungsmaterial, aus dem die Schweiz schöpfen kann. Aber wir reden paradoxerweise kaum darüber. Denn allzu oft schiebt sich wie eine Nebelwand die Diskussion über die sogenannten europapolitischen Optionen in den Vordergrund. EWR- oder EU-Beitritt, Bilaterale, Rahmenabkommen, Assoziation – die Schweiz debattiert leidenschaftlich gern über die Gefässe, in denen sich ihre Europapolitik abspielen soll, so, als könnte man aus einem reichhaltigen Angebot auswählen. Doch die Optionenwahl sollte am Schluss der Debatte stehen und nicht an deren Anfang: Form follows function.

Überzeugen mit buntem Styropor: Aussenminister Ignazio Cassis erklärt im Februar 2018 das Rahmenabkommen.

Überzeugen mit buntem Styropor: Aussenminister Ignazio Cassis erklärt im Februar 2018 das Rahmenabkommen.

Pablo Gianinazzi / Keystone


7. Kein Grund zu Verzagtheit

Mit der direkten Demokratie verfügt die Schweiz über einen zuverlässigen Seismografen, der aufzeigt, was sie will. Mit Blick auf die EU deutet er auf eine durchaus ambitionierte Einstellung – jedenfalls auf eine, die in auffälligem Kontrast zu den nach dem Ende des Rahmenabkommens immer ängstlicher werdenden Stellungnahmen von Politikerinnen und Politikern steht. Per Volksentscheid haben sich die Schweizer gleich mehrfach direkt ins Innere der europäischen Integration begeben: zum Beispiel mit der Annahme und Bestätigung der Personenfreizügigkeit und mit der Annahme und Bestätigung der Teilnahme an Schengen/Dublin. Bei letzterer Abstimmung haben sie sogar der dynamischen Rechtsübernahme zugestimmt, die jüngst Anlass zu heftigen Debatten gegeben hat. Auch die Frontex-Abstimmung verlief aus europapolitischer Warte erfolgreich.

Ihrer Art entsprechend gingen die Eidgenossen diese vertraglichen Verpflichtungen nicht stürmisch ein. Vielmehr wägten sie Vor- und Nachteile ab, gewisse Sicherungen wurden eingebaut – Lohnschutz, Ventilklauseln und dergleichen mehr. Mit der Annahme der «Masseneinwanderungsinitiative» ertönte einmalig ein lauter Warnschuss. Und stets waren die Abstimmungen von einer gewissen Isolationsangst begleitet. Aber das gehört zu den Konstanten in der schweizerischen Europapolitik. Jedenfalls besteht gemessen an diesen Voten – immerhin die härteste Währung in einer Demokratie – kein Anlass, besonders zaghaft zu sein, selbst wenn ein EU-Beitritt ausser Reichweite liegt. Die Schweiz weist europapolitisch ein bemerkenswertes Curriculum auf. Womöglich sind die Schweizerinnen und Schweizer europäischer, als man denkt!

Luzi Bernet ist seit Februar 2022 Italienkorrespondent dieser Zeitung. Vor seinem Wechsel nach Rom hat er ein Buch zur Geschichte der Schweizer Europapolitik vom EWR-Nein bis zum Abbruch des Rahmenabkommens verfasst, das soeben erschienen ist: Luzi Bernet, Das Schweiz-Dilemma. 30 Jahre Europapolitik. Verlag Hier und Jetzt, Zürich 2022, 244 Seiten, mit Illustrationen von Patrick Chappatte.

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