Krank durch die Corona-Impfung: Was ist mit Nebenwirkungen?

Dass es Nebenwirkungen nach Corona-Impfungen – in geringer Zahl – geben würde, war Fachleuten von Beginn an klar. Aber haben sie das ausreichend kommuniziert?

Zellen reagieren nach einer Impfung gegen das Coronavirus mit dem Präparat von AstraZeneca: Sie produzieren sogenannte Protein-Spikes.

University of Southampton / Reuters

Nein, es gab nicht diesen einen Moment, in dem Rüdiger Leutgeb unsicher wurde. Es war eher ein schleichender Prozess – einer, bei dem ihn immer wieder Zweifel einholten: Könnten die mRNA-Impfungen eine Gürtelrose auslösen? Seit dem Frühjahr des letzten Jahres gehört Leutgeb zu den Impfärzten. Seine Praxis, die er mit zwei Kollegen führt, liegt im deutschen Odenwald, ganz im Süden Hessens, unmittelbar an der Grenze zu Baden-Württemberg. Es sei eine typische Hausarztpraxis auf dem Land, erzählt er, wo Praxen dünn gesät seien und es nur wenig Fachmediziner gebe. Hausärzte sind dort mehr noch als in Städten so etwas wie die Gatekeeper der Gesundheitsversorgung.

«Die meisten Patienten kommen mit ihren Beschwerden erst einmal zu uns», sagt er. Auch mit der Gürtelrose, einem schmerzhaften Hautausschlag. Die Krankheit wird von Viren ausgelöst, den Varizella-Zoster-Viren; die meisten kennen sie als Erreger der Windpocken. Was nur wenige wissen: Selbst wenn die Kinderkrankheit abgeheilt ist, können sich die Viren in den Nervenwurzeln des Rückenmarks oder in Hirnnerven einnisten. Bei gesunden Menschen hält das Abwehrsystem sie dort in Schach. Doch wenn die Schutzkraft im Alter nachlässt, durch Krankheit oder Medikamente geschwächt wird, bahnen sie sich ihren Weg zurück – und lösen die Nervenschmerzen mit Hautausschlag aus.

Mehr junge Menschen mit Gürtelrose

Etwa 30 bis 40 Fälle zählen Leutgeb und seine Kollegen gewöhnlich pro Jahr. Doch im Jahr 2021 sind es plötzlich 49. «Oftmals traten die Beschwerden zwei bis acht Wochen nach der Corona-Impfung auf», sagt der Arzt, und was ihn vor allem stutzig machte: «Auf einmal sahen wir nicht mehr nur ältere und kranke, sondern auch jüngere Menschen zwischen 30 und 60 Jahren mit heftigsten Formen der Gürtelrose bei uns in der Praxis.» Zufall, oder sollten die Viren womöglich durch die Impfung reaktiviert worden sein? Rüdiger Leutgeb hört sich im Kollegenkreis um. Überall vernimmt er ähnliche Geschichten. Also schreibt er seine Beobachtungen der deutschen Aufsichtsbehörde, dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI). Doch eine Antwort erhält er nie.

Die Recherche über Nebenwirkungen der Corona-Impfungen ist heikel inmitten aufgeheizter politischer Diskussionen. Sie kratzt an der Glaubwürdigkeit von Politikern, aber auch von Behörden, die seit Dezember 2020 stetig wiederholen: «Die Impfungen sind sicher.» Will man da eine Diskussion um Nebenwirkungen, die sich vielleicht später als unnötige Beunruhigung herausstellt? Sie stellt auch Ärzte vor Herausforderungen. Schliesslich sind sie es, die die Spritzen setzen – in der festen Überzeugung, sowohl ihre Patienten wie auch die Gesellschaft und das Gesundheitssystem vor den schlimmsten Folgen der Corona-Infektion zu schützen. Daran ist nach wie vor alles richtig.

Studie um Studie beweist, dass die Impfungen vor schweren Covid-Erkrankungen schützen. Eine europäische Übersichtsarbeit im Fachblatt «Eurosurveillance» rechnet vor, dass die Impfungen in 33 Ländern Europas fast 470 000 Menschen ab 60 das Leben gerettet haben. Und doch stehen die vollmundigen Versprechen eineinhalb Jahre nach Beginn der Impfkampagne manchmal im Widerspruch zu dem, was Ärzte und Geimpfte erleben: Diese klagen über Beschwerden, auf die sie sich keinen Reim machen können – ausser eben, dass die Impfung dahintersteckt.

«Es hat sich angefühlt wie Sterben»

Da gibt es Menschen wie Jana Ruhrländer oder Elisabeth Schneider, von der das Medizinerblatt «Medical Tribune» berichtet. Beide erhalten die Impfung von Moderna. Beide können mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, nie an Corona erkrankt zu sein. Bei beiden scheint der Körper nach der Impfung völlig zu entgleisen: Blutdruckschwankungen, Herzrasen, die kleinste Anstrengung führt zu völliger körperlicher Erschöpfung. «Wochenlang hat sich das angefühlt wie Sterben», sagt Jana Ruhrländer.

Einmal geht es ihr besser, dann wieder liegt sie im Krankenhaus. Manchmal ist sie so verzweifelt, dass sie beginnt, auf ihrem Handy Abschiedsbriefe zu schreiben an ihren Mann, an ihre Kinder. Dabei sei sie, die Studentin der Mikrobiologie, mit grossem Vertrauen zur Impfung gegangen, erzählt sie. Auf der Busfahrt nach Hause sitzt neben ihr ein älterer Herr. «Er war sehr aufgeregt und zittrig. Ich habe ihn beruhigt und gesagt: ‹Jetzt haben wir es geschafft.›» Doch schon am Abend bekommt sie brennende Kopfschmerzen, Tage später Sehstörungen, dann beginnen der Blutdruck und das Herz verrückt zu spielen – eine bleierne Müdigkeit, die Mediziner Fatigue nennen.

Es folgt eine Odyssee bei Ärzten, die an ihren Schilderungen zweifeln, sie für psychisch labil erklären. Sie macht sich selbst auf die Suche nach Laboren, die Marker in ihrem Blut finden sollen. Irgendwann treffen sie auf Autoantikörper, solche, die auch bei Menschen mit Long Covid gefunden werden, und die Ärzte diagnostizieren eine erhöhte Zellzahl in der Rückenmarksflüssigkeit. «Ich muss fast schon von Glück reden, dass bei mir etwas gefunden wurde», sagt Jana Ruhrländer. «Bei vielen anderen Betroffenen wurde wirklich gar nichts gefunden, ausser diese abnormen Puls- und Blutdruckwerte.»

Noch nie ist ein Medikament so gut untersucht worden

Es sind diese Fälle, die Mediziner ratlos machen. Denn es stimmt ja: Impfstoffe werden sehr genau geprüft. «Ich glaube, noch nie ist ein Medikament in der Kürze der Zeit so gut untersucht und so sorgsam beobachtet worden», sagt Marcel Schorrlepp, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft hausärztlicher Internisten der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin. Die Anforderungen an die Sicherheit von Impfstoffen sind besonders hoch. Bei Medikamenten gegen Krankheiten gehen die Gesundheitsbehörden Kompromisse ein: Je schwerer und tödlicher eine Krankheit, umso mehr Nebenwirkungen sind sie bereit in Kauf zu nehmen. Impfstoffe aber werden gesunden Menschen, oftmals Kindern, verabreicht.

Deswegen müssen auch sehr viele Menschen an den Zulassungsstudien teilnehmen. Bei jenen für die Corona-Impfungen von Biontech und Moderna waren es je 40 000 Freiwillige, bei AstraZeneca 24 000. Jeweils die Hälfte der Probanden und Probandinnen bekam den Impfstoff, die andere Hälfte eine Placebo-Spritze. Häufige Nebenwirkungen wie der bekannte Impfarm, die Kopfschmerzen oder grippeähnliche Symptome lassen sich so sehr gut ermitteln.

Richtig ist aber auch, dass es Nebenwirkungen geben kann, die durch das Raster dieser Studien fallen. Weil sie nur bei einem von zehntausend Geimpften oder noch seltener auftreten. Nur: Was statistisch selten ist, kann sich bei Millionen von Impflingen doch zu einer bedeutsamen Zahl addieren. Eine Nebenwirkung, die einmal unter zehntausend Menschen vorkommt, würde in Deutschland bei gut 63 Millionen Geimpften 6300 Menschen betreffen, in der Schweiz mit ihren etwa 6 Millionen Geimpften immerhin 600.

Jeder Arzt ist verpflichtet, Beschwerden zu melden

Um diesen sehr seltenen Nebenwirkungen auf die Spur zu kommen, überwachen die Gesundheitsbehörden die Impfungen nach ihrer Zulassung weiter. In der Schweiz übernimmt das Schweizerische Heilmittelinstitut Swissmedic, in Deutschland das Paul-Ehrlich-Institut diese Aufgabe. Jeder Arzt ist gesetzlich dazu verpflichtet, den Behörden die Beschwerden, von denen Patienten im Zusammenhang mit der Impfung berichten, zu melden. Das gilt auch für Apotheker.

Impfung oder Krankheit: Was ist gefährlicher?

Gegenüberstellung der verschiedenen Komplikationen der Corona-Impfung und der Sars-CoV-2-Infektion. Die Balken zeigen die zusätzlichen Fälle pro 1 Million Geimpfter oder 1 Million Erkrankter

Und auch die Geimpften selbst sind angehalten, zu melden, wenn sie das Gefühl haben, dass die Impfung bei ihnen Nebenwirkungen auslöse. Weil dieselben Beschwerden und Krankheiten aber auch ohne Impfung auftreten, gleichen die Behörden die Verdachtsmeldungen mit den erwartbaren Zahlen dieser Erkrankungen ab. Man nennt sie Hintergrundinzidenzen. Wenn sie überschritten werden, sprechen Experten von einem Risikosignal.

In Ländern wie Israel, Finnland oder Dänemark helfen Impfregister und elektronische Krankenakten Gesundheitsforschern, solchen Fällen systematisch nachzugehen. So kamen Nebenwirkungen wie die Sinusvenenthrombosen nach einer Impfung mit einem Vektorimpfstoff sehr schnell ans Licht, genauso wie die Herzmuskelentzündungen vor allem unter jüngeren Männern nach mRNA-Impfungen.

In der Schweiz ist die Suche mühsam

In der Schweiz und Deutschland ist die Suche mühsamer: Es gibt weder zentral gespeicherte Patientenakten noch ein Impfregister. Um die Hintergrundinzidenzen zu ermitteln, muss man auf schweizerische oder internationale Publikationen zurückgreifen. Bei der Ermittlung von Risikosignalen sind die Behörden auf die Verdachtsmeldungen angewiesen. Doch das Verfahren führt zwangsläufig zu einem Problem: Wenn Ärzte Beschwerden nicht mit der Impfung in Zusammenhang bringen, bleiben Meldungen aus, und dann kann kein Signal entstehen.

Internationale Studien gehen davon aus, dass etwa 85 Prozent aller Beschwerden, die in einem zeitlichen Zusammenhang mit einer Impfung stehen, nicht gemeldet werden. «Das gilt natürlich für alle Medikamente, die bereits auf dem Markt sind. Bei neuen Wirkstoffen – und gerade bei den Corona-Impfungen – ist die Melderate viel höher», sagt Lukas Jaggi von der Swissmedic in Bern. Doch eine Lücke bleibe, sagt er.

So ergeht es etwa unserer Kollegin Eva Wolfangel. Im November 2021 lässt sie ihre 12-jährige Tochter impfen. Zwei Tage später kann das Mädchen seine Beine nicht mehr richtig fühlen. Im Internet findet Eva Wolfangel viele Fragen zu diesem Symptom, aber keine Antwort. Die Kinderärztin rät ihr, ins Krankenhaus zu fahren. Dort aber bezweifelt der Arzt jeden Zusammenhang. Er wisse nichts von dieser Nebenwirkung. Unterstellt, das Kind habe Gruselgeschichten über die Impfung gehört. Erst als Eva Wolfangel auf weitere Untersuchungen besteht, die Ärzte tatsächlich eine verlangsamte Nervenleitfähigkeit diagnostizieren, lenken sie ein und melden die Beschwerden dem Paul-Ehrlich-Institut. Aber was, wenn sie nicht so hartnäckig gewesen wäre?

Ärzte stehen vor Problem

Rüdiger Leutgeb, der Hausarzt aus dem Odenwald, sieht das Dilemma, vor dem Ärzte stehen. «Ehrlicherweise muss ich gestehen, dass ich heute nicht mit Sicherheit sagen kann, ob ich von Beginn an alle Gürtelrosen-Fälle nach Impfung, die wir in unserer Praxis gesehen haben, auch wirklich an das PEI gemeldet habe», sagt er. Der Herpes Zoster, also die Gürtelrose, ist ein Grenzfall. Bereits in den ersten klinischen Sicherheitsstudien aus Israel mit dem Biontech-Impfstoff tauchen Herpes-Zoster-Erkrankungen als einzige häufiger in der Impfgruppe auf als unter Covid-Patienten.

Auch in der Schweiz gibt es vermehrte Meldungen. Die Swissmedic habe die Daten sogar als erste Institution zur Diskussion gestellt, so Jaggi. Andererseits liegt die Zahl dieser Fälle kaum über der Hintergrundinzidenz. Als wir aber Anfang des Jahres bei den Gesundheitsministerien der deutschen Bundesländer anfragen, ob Menschen ein Jahr nach der Corona-Impfung Anträge auf Erstattung bei Impfschäden gestellt hätten und welcher Art sie seien, taucht in den Antworten auch dort der Herpes Zoster auf.

Ins Bild passt da der Trubel, für den im vergangenen Februar eine kleine deutsche Krankenkasse, die BKK Provita, sorgte. Deren Vorsitzender Andreas Schöfbeck und der Datenanalytiker Tom Lausen hatten die Abrechnungsdaten der knapp elf Millionen Versicherten aller deutschen Betriebskrankenkassen (BKK) durchsucht und festgestellt: Im ersten Dreivierteljahr 2021 rechneten Ärztinnen und Ärzte fast genauso viele Behandlungen wegen Impfnebenwirkungen ab, wie das PEI Verdachtsmeldungen über das gesamte Jahr 2021 gesammelt hat – bezogen auf sämtliche 92 Millionen Corona-Impfungen in jener Zeit.

Die Analysen haben Haken

Und erst Anfang Mai machte eine Umfrage eines Mediziners der Charité Berlin die Runde: 8 von 1000 Geimpften sollen laut den Ergebnissen an schweren Nebenwirkungen leiden. Doch den Daten beider Analysen haften Widersprüche an. Bei den Abrechnungsdaten lasse sich nicht auseinanderdividieren, was eine schwere und was eine leichte Nebenwirkung gewesen sei, sagt etwa das Paul-Ehrlich-Institut. Und der Berliner Umfrage fehlte nicht nur eine Kontrollgruppe, sondern sie definierte «schwere Nebenwirkung» anders als das PEI. Sowohl die Krankenkasse BKK Provita als auch der Mediziner der Charité haben Kontakte zum «Querdenker»-Milieu beziehungsweise eine enge Bindung an die anthroposophische Medizin.

Am Ende verliert der BKK-Provita-Vorsitzende seinen Job. Die Charité distanziert sich von der Umfrage. Doch damit sind die Fragen nicht aus der Welt geschafft. Der Umgang mit diesen Fällen spielt vielmehr jenen in die Hände, die an der Sicherheit der Impfung und der Glaubwürdigkeit der Gesundheitspolitik oder der Regierung zweifeln.

Aber für einfache Antworten ist die Suche nach Nebenwirkungen zu komplex, wie das Beispiel des Herpes Zoster zeigt. Als der Verdacht aufkommt, die Impfungen könnten den Viren zu neuem Leben verhelfen, vergleichen Forscher aus den USA das Auftreten der Gürtelrose vor der Pandemie und nach Corona-Impfungen an jeweils etwa 900 000 Menschen – und finden keinerlei Anzeichen dafür, dass die Fälle häufiger auftreten. Zudem tauschen sich sowohl das PEI als auch die Swissmedic mit den anderen Zulassungsbehörden europaweit aus. Deren Daten laufen bei der European Medical Agency (EMA) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Uppsala zusammen, die sie in eine öffentlich zugängliche Datenbank speist.

Ein Sicherheitsnetz existiert

Es gibt also so etwas wie ein Sicherheitsnetz, das ausgleicht, wenn einzelne Meldungen fehlen. Und: Je mehr Daten zusammenkommen, desto offensichtlicher werden auch seltene Nebenwirkungen. Inzwischen haben weltweit mehr als fünf Milliarden Menschen eine Impfung bekommen. Sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz konnten alle bisher entdeckten schweren Nebenwirkungen ermittelt werden. «Das Überwachungssystem funktioniert bis anhin, trotz sogenanntem Underreporting», sagt der Swissmedic-Sprecher Lukas Jaggi. Auch die Taubheitsgefühle, die die Tochter von Eva Wolfangel spürte, kamen ans Licht. Die EMA weist seit Oktober in ihren Berichten auf diese Parästhesien oder Hypoästhesien hin. Und seit Ende des letzten Jahres werden sie als seltene Nebenwirkung im Beipackzettel der Impfung aufgeführt.

Doch ein Impfregister würde die Suche einfacher machen. Bleiben die komplexen Fälle – wie jener von Jana Ruhrländer, der Studentin aus Kassel. Bei so seltenen Ereignissen sei es besonders schwierig, einen Zusammenhang zu einer Impfung herzustellen, erklärt Harald Prüss, Neurologe von der Charité in Berlin: «Das ist ein ganz heikles Thema», sagt er, denn die chronische Erschöpfung oder auch myalgische Enzephalomyelitis ist keine seltene Erkrankung. Sie kommt je nach Studie 15- bis 45-mal pro 100 000 Einwohner vor.

Um das Problem zu verdeutlichen, gibt Prüss ein Beispiel: «Täglich treten in Deutschland etwa 20 bis 30 neue Fälle von multipler Sklerose auf.» Und natürlich ständen einige davon in einem zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung. Aber das bedeute eben nicht, dass die Krankheit nicht auch ohne die Impfung aufgetreten wäre. «Ich kann jeden verstehen, der nach Ursachen sucht und da erst einmal gar nicht so sehr die nüchterne Statistik hören will», sagt Prüss. Das sei allzu menschlich.

Meistens steckt etwas anderes als die Impfung dahinter

Doch er schätzt auch, dass bei den allermeisten Patientinnen und Patienten hinter den neurologischen Symptomen etwas anderes als die Impfung steckt. «Sorgen mache ich mir um diese wenigen, die tatsächlich eine Impfwirkung haben und denen Unrecht getan wird», sagt er.

Diese Sorge teilt er mit Bernhard Schieffer. Der Direktor der Kardiologie am Universitätsklinikum Marburg ist inzwischen zum Ansprechpartner für Hunderte Menschen geworden, deren Körper nach der Impfung nicht mehr dieselben sind. Angefangen hat das alles mit Menschen, die nach Corona-Infektionen über Herzprobleme klagten, Herzmuskelentzündungen entwickelten. Weil seine Klinik als eines der herausragenden Forschungszentren für Herzmuskelerkrankungen gelte, hätten Ärzte aus ganz Deutschland ihre Patienten nach Marburg geschickt, erzählt Schieffer. «Aber im Laufe des Jahres sahen wir auf einmal auch Menschen, die ganz ähnliche Symptome nach der Impfung entwickelten», sagt er. Zuerst vereinzelt, dann immer häufiger.

Mehr intuitiv als aus Wissen behandeln Schieffer und seine Kollegen – Neurologen, Immunologen, Infektiologen – die ungewohnten Fälle genau wie die Long-Covid-Patienten. «Wir haben hier eine grosse Erfahrung im Umgang mit Menschen, die an Herz-Lungen-Maschinen liegen und daraufhin über den Körper sich ausbreitende Immunreaktionen zeigen», sagt er. Sirs (Systemic Inflammatory Response Sydrome) nennt sich der Zustand unter Medizinern, der auch bei Blutvergiftungen oder eben Corona-Infektionen auftritt – offenbar in extrem seltenen Fällen auch nach der Impfung. «Wenn man begriffen hat, dass es zwischen Long Covid und Postvac, wie die Impfreaktionen inzwischen bezeichnet werden, keinen Unterschied gibt, hat man schon viel gewonnen», sagt er.

Es braucht Spezialpraxen

Häufig aber ermittelt er bei seinen neuen Patienten auch Dinge, von denen sie selbst nichts wussten. Versteckte Infektionen mit Epstein-Barr-Viren, Borreliose-Erregern – und sogar Würmern. Sie halten das Abwehrsystem aktiv – und auch sie können Fatigue auslösen. «Wenn man da jetzt noch hineinimpft, löst die Impfung vielleicht etwas aus, was latent schon da war», erklärt er.

Das Gefühl, dass etwas nach der Impfung nicht in Ordnung sei, ängstigt viele Menschen. Seit Anfang Mai stehen mehr als 2100 Patienten auf der Warteliste. Um ihnen gerecht zu werden, fordert Schieffer den Aufbau eines Netzwerkes von Spezialpraxen. Da werde noch viel auf uns zukommen, argwöhnt er. Von 25 000 bis 30 000 Fällen in Deutschland gehen er und seine Kollegen inzwischen aus. Das ist angesichts von über 65 Millionen Geimpften immer noch lediglich eine Rate von etwa 0,04 Prozent – gehört damit in die Kategorie der seltenen Nebenwirkungen. Aber für diese brauche es halt Anlaufstellen.

Auch liegen dem PEI Verdachtsmeldungen vor, die die Impfung in Zusammenhang mit dem Auftreten des chronischen Müdigkeitssyndroms bringen: 136-mal wurde dies nach rund 172 Millionen verimpfter Dosen angegeben. Die europäische Datenbank Eudra zählt 436 Fälle. Das Paul-Ehrlich-Institut plant gemeinsam mit der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) eine Studie, in der Patienten, die an chronischer Erschöpfung nach einer Impfung, einer Covid-Erkrankung und ohne einen bisher bekannten Auslöser leiden, untersucht werden.

«Die Leute fühlen da etwas»

«Man muss diese Menschen ernst nehmen», sagt auch der Internist Marcel Schorrlepp. Selbst wenn manch ein Verdacht absurd erscheine. «Wir als Ärzte sind die Profis, die das filtern müssen», fordert er. Der Immunologe Bill Murphy von der University of California in San Davis warnte unlängst vor solchen Sätzen wie «Alles ist sicher». «Die Leute fühlen da etwas, und wenn sie nicht den Eindruck haben, sie bekommen die Informationen, die sie brauchen, dann greifen sie zu externen Quellen wie dem Internet, dann verlässt das Problem die Einflusssphäre medizinischer oder wissenschaftlicher Experten.» Davor warnt auch Bernhard Schieffer. Doch er hat auch eine beruhigende Nachricht: «Die Beschwerden nach der Impfung sind heilbar», sagt er. Man müsse aber Geduld aufbringen.

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