Krieg in der Ukraine: Drehbuch des russischen Angriffs

Kilometerlange Fahrzeugkolonnen, Helikopter transportieren Soldaten in die Vororte von Kiew, ein Fernsehturm wird aus der Luft angegriffen – die Einzelereignisse überschlagen sich. Erst mit etwas Distanz wird deutlich: Alles hängt zusammen.

Im Morgengrauen des 24. Februar marschiert Russland in der Ukraine ein. Seither herrscht Krieg. Setzt man die Einzelereignisse der vergangenen Woche zusammen, wird deutlich, was Putins Drehbuch war – und wie er es nun anpassen muss.

Jede Aktion fand in einem der militärischen Handlungsräume statt: Boden, Luft, elektromagnetisch oder Cyber, um einige davon zu nennen. Diese Räume liefern die Fakten – sie sind eingebettet in ein Narrativ, eine Interpretation, wie die Realität verstanden werden soll. Der Einmarsch folgt so einem Drehbuch und wird vom Angreifer als Drama inszeniert.


I. Aufmarsch

Boden: Zu Beginn des Jahres kündigen der russische Präsident Wladimir Putin und sein weissrussischer Amtskollege Alexander Lukaschenko an, im Grenzgebiet zur Ukraine eine Militärübung ihrer Streitkräfte abzuhalten. Unter diesem Vorwand schickt der Kreml bis Ende Januar etwa 130 000 Mann in den Raum nördlich und östlich der Ukraine. Dazu verstärkte er die Truppen auf der Krim und liess Landungsschiffe ins Schwarze Meer verlegen. Vor Kriegsbeginn werden es schliesslich etwa 190 000 Mann sein.

Die Truppen werden zusammen mit Panzern, Artilleriegeschützen und der ganzen Logistik inklusive Munition auf Züge verladen und schrittweise von weit entfernten Regionen immer näher an die Grenze zur Ukraine geschafft. Dem schweren, behäbigen Material folgen Kampfhelikopter, Drohnen und Flugzeuge. Dort angekommen, hausen die Soldaten meist unter Feldbedingungen in einfachen Mannschaftszelten.


Narrativ: Gleichzeitig weisen russische Regierungsvertreter Warnungen, Appelle und Berichte, wonach Russland eine Invasion in der Ukraine plant, als «Alarmismus», «Panikmache» oder gar «Propaganda aus dem Westen» zurück. Sie betonen, dass der Aufmarsch im Grenzgebiet eine normale, angekündigte Militärübung sei.

«Die Kommentare von Politikern dazu, dass Russland die Ukraine während Olympia oder danach überfallen werde, werden nicht durch Beweise untermauert.»
Anatoli Antonow, russischer Botschafter in den USA, 12. Februar 2022

Doch Russlands Ton verschärft sich: Wenige Tage vor Kriegsbeginn inszeniert der russische Präsident sein Land in einer langen Fernsehansprache als Opfer westlicher Bedrohungen, er betont die russisch-ukrainische Vergangenheit und Zukunft und spricht von der dringend notwendigen Entnazifizierung des Nachbarlandes.

«Die Nato hat sich immer weiter ausgedehnt. Die Kriegsmaschinerie ist in Bewegung, und, ich wiederhole, sie nähert sich unseren Grenzen.»
Wladimir Putin, 21. Februar 2022

Boden: Zu diesem Zeitpunkt haben die russischen Bodentruppen ihre Mannschafszelte bereits verlassen und nur wenige Kilometer vor der Grenze die sogenannte «Angriffsgrundstellung» bezogen. Nun schlafen sie auf offenem Feld bei Temperaturen um den Gefrierpunkt in Zelteinheiten neben ihren Fahrzeugen. Bedingungen, die nur wenige Tage haltbar sind, will man die Truppenmoral nicht gefährden. Ein Angriff steht also kurz bevor.


«Man hat uns einfach keine andere Möglichkeit gelassen, Russland und unser Volk zu verteidigen, als die, zu der wir heute greifen müssen. Die Volksrepubliken des Donbass haben Russland um Hilfe gebeten. In diesem Zusammenhang habe ich die Entscheidung getroffen, eine Sonder-Militäroperation durchzuführen.»
Wladimir Putin, 24. Februar 2022

II. Angriff

Luft: Im Morgengrauen des 24. Februar schlägt die russische Armee zu. Erste Angriffe erfolgen aus der Luft und richten sich gezielt gegen die Fliegerabwehrkapazitäten der Ukrainer. Die Angreifer setzen dabei unter anderem das berüchtigte 9K720-Iskander-System ein, das seine Ziele aus bis zu 500 Kilometern Entfernung trifft. Die Angriffe sind sehr präzis und dosiert.

Dass die russische Armee zudem zuschlagen kann, ohne überhaupt mit Flugzeugen in den ukrainischen Luftraum einzudringen, zeigt wenig später der Einschlag eines Marschflugkörpers in die Regionalverwaltung in Charkiw. Diese Geschosse können vom nahen weissrussischen Gebiet abgefeuert werden und steuern ihr Ziel danach selbst an.

Luft/Boden: Weniger erfolgreich sind die Invasoren allerdings beim Versuch einer Luftlandeoperation nahe Kiew. Russische Helikopter setzen hier Soldaten ab, um den strategisch wichtigen Flughafen Hostomel nördlich der Hauptstadt einzunehmen. Er könnte als provisorische Basis und als Landeplatz für grössere Flugzeuge mit Truppen und anderem Nachschub dienen. Die Operation scheitert jedoch am erbitterten Widerstand der ukrainischen Armee.


Ungeachtet dieses Misserfolgs gelingt russischen Fallschirmjägern jedoch die Landung in und um Kiew. Videos und Satellitenbilder zeigen ausserdem schon früh leicht gepanzerte russische Fahrzeuge in den Vororten der Hauptstadt. Ob diese ebenfalls per Fallschirm gelandet sind, bleibt in der unübersichtlichen Lage der ersten Kriegsstunden unklar. Möglich ist es – auch weil Russland entsprechendes Material im Grenzgebiet aufgefahren hat.


Boden: Parallel zu den Vorstössen in der Luft lanciert Russland an diesem Donnerstag seine Bodenoffensive. Dabei setzen die Angreifer auf kleine, agile Kampfeinheiten, sogenannte Battalion Tactical Groups (BTG). Bereits 2014 unterstützten entsprechende Formationen die prorussischen Separatisten im Donbass.

Ein BTG setzt sich zusammen aus:

  • Einer Panzerkompanie, um rasch, geschützt und mit viel Feuerkraft vorzustossen.
  • Drei Panzergrenadierkompanien, um gegen die verteidigende, statische Infanterie zu kämpfen. Verläuft der Stoss ohne nennenswerten Widerstand, bleiben die Panzergrenadiere in ihren Schützenpanzern. Laufen die Panzer auf einer Sperre auf, kämpfen die Soldaten «abgesessen», wie es in der Panzersprache heisst. 
  • Einer Panzerabwehrkompanie, um gegnerische Panzer zu bekämpfen.
  • Drei Batterien Artillerie für die unmittelbare Feuerunterstützung aus Distanz. Die statischen Stellungen der Verteidiger werden aus Distanz mit grosskalibriger Munition beschossen, damit die Panzer auf weniger Widerstand stossen.
  • Einer Einheit Boden-Luft-Abwehr: meistens Buk-Systeme, die in den Flanken mitfahren. Bereits 2014 kamen diese in der Ostukraine zum Einsatz und waren ein Indiz für die Präsenz russischer BTG auf ukrainischem Gebiet. Der Flug MH 17 von Amsterdam nach Kuala Lumpur wurde von einer Rakete getroffen, die von einer Buk abgefeuert worden war.

Das Ziel der BTG ist das schnelle, kraftvolle Vorstossen auf gegnerischem Gebiet. Im Kampf breiten sich die Einheiten möglichst weit aus, um kein einfaches Ziel für die gegnerische Luftwaffe oder Artillerie abzugeben.

Die verschiedenen Einheiten eines BTG

Beim Einmarsch in die Ukraine ist dies zunächst aber nicht nötig. Die Bodentruppen fahren auf der Strasse in normalen Kolonnen einfach über die Grenzübergänge. Offenbar gab es in der unmittelbaren Nähe der Grenze keine vorbereiteten Sperren der Verteidiger. Das flache, nur wenig überbaute Gebiet ist ideales Panzergelände.

Die russischen Grenzübertritte ohne jeglichen Widerstand werden von Überwachungskameras gefilmt, die noch immer online sind. Die Bilder gehen in den sozialen Netzwerken umgehend viral.

Cyber: Überhaupt erreichen die Weltöffentlichkeit in den ersten Kriegstagen unerwartet viele Bilder, Videos und Augenzeugenberichte in Echtzeit. Anzeichen dafür, dass Russland diese kontert, sind eindeutige prorussische Äusserungen in den sozialen Netzwerken und Kommentarspalten von Online-Zeitungen.

Sowohl Mobilfunk wie auch Strom funktionierte aber in den ersten Kriegstagen weiter. Dies ist erstaunlich, da russische Hacker noch im Donbass-Konflikt 2014 Cyberangriffe lanciert hatten, um die Stromversorgung von rund 80 000 Personen zu unterbrechen.

Narrativ: Ungeachtet dessen kommt die russische Armee zunächst schnell vorwärts. Für die Spitze im Kreml ein Anlass, sich direkt mit einem Angebot an die ukrainische Armee zu wenden und diese zum Putsch gegen ihre vermeintlich geschlagene Führung aufzurufen.

«Ich appelliere noch einmal an die Soldaten der Streitkräfte der Ukraine. Nehmen Sie die Macht in Ihre Hände. Verhandlungen zwischen Ihnen und uns wären einfacher als mit dieser Bande von Drogensüchtigen und Neonazis, die sich in Kiew eingenistet und das ukrainische Volk als Geisel genommen hat.»
Wladimir Putin, 25. Februar 2022


III. Widerstand

Boden: Der Aufruf zum Putsch verpufft. Und die Angreifer kämpfen mit Problemen. Zwar kommen die Stösse mit Panzern und Artillerie schnell voran, sie sind jedoch auf den stetigen Angriff ausgerichtet und daher nicht in der Lage, erobertes Gelände nachhaltig zu sichern. Dafür sind sie entweder auf nachfolgende Bodentruppen oder die Zusammenarbeit mit der einheimischen Bevölkerung angewiesen.

Fehlt beides, laufen die Formationen Gefahr, sich schnell von ihren rückwärtigen Räumen zu entfernen, ohne Nachschubwege gesichert zu haben. Verbände wie jener, der schon seit einigen Tagen östlich und westlich des Dnipro in Richtung Kiew rollt, müssen dann bremsen, um Truppen und Material nachzuholen.

Cyber/elektromagnetisch: Auch die Kommunikation in den kilometerlangen Kolonnen ist anspruchsvoll. Um Angriffe, Verteidigung und Nachschub zu koordinieren, muss gefunkt werden. Die russischen Truppen konnten bisher allerdings noch keine sichere Funk-Infrastruktur über grössere Distanz errichten. Die Angreifer nutzen daher unverschlüsselte Funkgeräte.

Westliche Armeen setzen unterdessen auf integrierte Führungssysteme auf Datenbasis. Jede Panzerbesatzung verfügt über ein elektronisches Lagebild und erhält die Befehle als Datenpakete. Der Sprechfunk ist nur noch ein Ersatzverfahren. In der Schweiz verfügt bei den Bodentruppen die Artillerie über ein solches System, das bis auf die tiefe taktische Stufe funktioniert.

Narrativ: Trotz den ersten Problemen der Spitzenverbände macht Russland deutlich, dass es die Gewalt jederzeit eskalieren kann.

«Ich weise den Verteidigungsminister und den Generalstabschef an, die Abschreckungskräfte der russischen Armee in besondere Kampfbereitschaft zu versetzen.»
Wladimir Putin, 27. Februar 2022

Die Drohung, die Atomkräfte in Kampfbereitschaft zu versetzen, ist auch ein Signal an den Westen, nicht in den Krieg einzugreifen. Die EU, die Schweiz, die USA und andere Staaten hatten zuvor weitgehende Sanktionen beschlossen. Die Nato ist dabei, auf dem Boden und in der Luft einen Schutzschild von der Ostsee übers Schwarze Meer bis ins östliche Mittelmeer zu errichten. Dazu kommen die Waffenlieferungen an die ukrainische Armee.

Nach der nuklearen Drohung Putins reagiert der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg umgehend. Er macht klar, dass das transatlantische Militärbündnis die Ukraine nicht mit eigenen Kräften unterstützen wird. Die Nato sei nicht Kriegspartei.

IV. Brutalisierung

Luft: Derweil passt die russische Armee ihr Vorgehen an. Sie intensiviert ihre Bombardements aus der Luft. Nun schlagen Tag und Nacht Raketen in den grossen Städten ein. Brücken und Dämme werden gezielt gesprengt. Die Beweglichkeit der Verteidiger wird eingeschränkt, ebenso deren Kommunikationsfähigkeit.


Boden: Inzwischen haben die Russen zudem mehr Mann auf dem Boden. Ihre Truppen haben den Dnipro-Übergang bei der Stadt Cherson am Schwarzen Meer eingenommen und sind dabei, den Brückenkopf zu befestigen. Ein Stoss aus der Krim Richtung Odessa ist jetzt möglich.

Im Südosten haben die russischen Truppen zudem vor, die Hafenstadt Mariupol zu umfahren. Ob sich die ukrainische Armee dort überhaupt noch bewegen kann, ist unklar.

Auch die Hauptstadt Kiew erwartet eine Belagerung. Denn der kilometerlange Konvoi, der Anfang Woche gesichtet wurde, dürfte die Stadt bald erreichen. Zudem erreichen zwei weitere Stösse, aus dem Norden und dem Osten, bald den Grossraum der Hauptstadt.


Cyber/elektronisch: Am Donnerstag dann schlägt eine Rakete im Fernsehturm in Kiew ein. In der südukrainischen Hafenstadt Mariupol wird zudem das Stromnetz lahmgelegt. Zeichen dafür, dass die russische Armee sehr wohl in der Lage ist, die Kommunikationsinfrastruktur gezielt auszuschalten.

Hinzu kommt die Eroberung des grossen Atomkraftwerks Saporischja im Süden des Landes. Dieses versorgt die Ukraine nicht nur mit Atomstrom, es dient den Russen auch als potenzielles Damoklesschwert über den Köpfen all jener, die einen atomaren Vorfall fürchten.

Narrativ: Beide Aktionen haben auch starken symbolischen Charakter. Die ukrainische Bevölkerung soll abgeschnitten und ausgehungert werden.

«Wir gehen davon aus, dass das Schlimmste noch vor uns liegt.»

Französischer Regierungssprecher nach einem Gespräch zwischen Emmanuel Macron und Wladimir Putin, 3. März 2022


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