Kunstgemälde: Mehr nackte Männer, bitte!

Die Museen dieser Welt sind voll mit nackten Frauen, gemalt von männlichen Künstlern. Unsere Autorin dreht den Spieß um und bringt einen Mann zu Papier. Bitte freimachen!

Der nackte Mann kommt zu spät. Steckt fest im Stadtverkehr. Es ist Samstagmittag und grau in Berlin. Das weiß ich nur, weil es jemand erzählt, denn ich bin gar nicht da. Ich sitze 300 Kilometer entfernt vor meinem Laptop und warte auf einen fremden Mann, der sich hoffentlich erst dann ausziehen wird.

Eigentlich wollte ich jetzt mit bis zu 40 anderen Teilnehmern in einem großen Atelier sitzen, den Geruch von Papier und Farbe in der Nase und unser aller Schweiß. Weil das gerade nicht geht, findet der Aktzeichenkurs online statt. Gleich also habe ich einen Nackten in meinem Wohnzimmer, für drei Stunden und in verschiedenen Posen. Ich bin gut gelaunt, die Kohlestifte sind gespitzt, weißes Papier liegt auf dem Schreibtisch, bereit, seine Unschuld zu verlieren.

Dass der Mann sich für die Kunst entblättert und die Frau den Stift hält, das war lange nicht selbstverständlich. Es ist der männliche Blick, der die Kunstwelt seit jeher dominiert. In Museen sind Bil-der von nackten, namenlosen Frauen in der Überzahl – barbusige Musen, badende Nymphen, Schönheiten, die lasziv auf Chaiselongues herumlungern. Meistens gemalt von, na klar, heterosexuellen Männern. Zu deren Vergnügen. Als Kunstschaffende hingegen sind Frauen bis heute in der Minderheit. Gegen diese Ungerechtigkeit male ich heute an. Im Kleinen.

Nun werde ich doch etwas nervös, habe ewig nicht gezeichnet, zuletzt mit Anfang 20. Damals wollte ich noch Kunst studieren. Besuchte ich früher Aktzeichenkurse, malte ich am liebsten Frauen, einfach weil da mehr Schwung drin ist. Die dünnen Männer gerieten mir auf dem Papier immer zu eckig. Mal schauen, was für ein Typ da heute blankzieht.

Mein Bildschirm ist wie ein Fenster: in ein Büro, das als provisorisches Atelier herhalten muss. Der Raum ist schummrig, vor dem Fenster ein Laken gespannt, davor wird das Modell gleich posieren. Ich fühle mich jetzt schon wie eine Voyeurin, die heimlich aus dem Verborgenen luschert. Die anderen drei Kursteilnehmer haben ihre Kameras aus, schweigen.

Ciao Bello!

“Avanti, avanti”, sagt Dozent Pedda Borowski plötzlich in die Stille und erzählt schon mal, dass das Aktmodell aus Italien stammt und Gianluca heißt. Reicht mir als Info für mein Kunstobjekt. Borowski selbst ist Maler, Illustrator, Grafikdesigner und freier Dozent an der Kunstschule Berlin. Ein freundlicher Typ, dessen Lächeln in seiner Stimme aufblitzt. Später erzählt er, dass er berühmte Aktmaler wie Picasso, Rodin und Schiele bewundert, aber vor allem ein Herz für passionierte Hobbykünstler hat: “Ich bin Fan von allen Leuten, die den Stift in die Hand nehmen und versuchen, eine Lebenslinie damit zu zeichnen.” Poet ist er irgendwie auch.

Endlich kommt Gianluca ins Bild, hat bereits seine Kleidung abgelegt, stellt sich vors Laken. Er ist groß und schlank, hat lange schwarze Haare, trägt Bart – Typ d’Artagnan. Das passt. Schmale Dunkelhaarige mag ich lieber als blonde Wikinger. Aber egal. Was ich will, spielt hier keine Rolle. Der Nackte muss aufs Blatt, egal wer er ist und welches Format er hat.

Wir beginnen mit einminütigen Schnellposen. Es geht nicht um Details, sondern ums Händelockern. Gianluca dreht und wendet sich, auf meinem Papier wird sein Körper auf das Wesentliche reduziert. “Nicht zu viel nachdenken, einfach die kreative Energie vom Auge zur Hand fließen lassen”, sagt Borowski. Er hat gut reden. Ich bin gestresst und reiße hektisch Blätter von meinem Block ab.

Der Körper ist eine Landschaft.

Dann bekommen wir zehn Minuten pro Pose. Zeit, sich Gianluca mal genauer anzusehen. Leider kann ich sein Gesicht nicht richtig erkennen – zu weit weg und leicht verpixelt. Er ist schlank, aber nicht mager, hat sogar relativ breite Schultern und einen flachen Bauch. Seine Körperbehaarung ist…naturbelassen. Er stellt sich frontal zur Kamera auf: Körper und Kopf gerade, die Arme zu den Seiten ausgestreckt. Hat etwas von einer Heiligenstatue und ist einfach zu zeichnen. Dann dreht er sich um, einen Arm in die Hüfte gestemmt, den anderen hinter dem Kopf verschränkt. Danach posiert er wie ein Speerwerfer. “Der Körper ist eine Landschaft, man kann ihn in verschiedene Regionen einteilen”, sagt Borowski. Ich male Gianluca gerade Alien-Hände.

Auf einem Hocker kauernd verbiegt er sich nun dermaßen, dass auf meinem Blatt nur noch ein Knäuel aus Gliedmaßen entsteht. Das Posieren ist nach einer Weile bestimmt ganz schön anstrengend, denke ich. Und viel Geld bekommt er dafür sicher nicht. “Er ist ein tolles Modell, weil er dabei ist, das spürt man”, lobt Borowski. Es gebe Menschen, die sich vor der Kamera schnell langweilen und unkonzentriert seien, weil ihnen das Gegenüber fehle, das sie anturnt, mehr von sich zu zeigen. Gianluca scheint die distanzierte Onlinesituation nichts aus- zumachen. Er fühlt sich “entspannt wie in der Sauna”. Vielleicht weil Borowski die Heizung volle Pulle aufgedreht hat. Seltsam ist es trotzdem. Der Mann ist nackt, und ich bin angezogen. Er kann mich nicht sehen, während ich ihn hemmungslos anstarren und seinen Körper auf dem Papier verformen darf. Ob solche Gedanken auch in Männerhirnen herumgeistern, wenn sie Frauen malen?

Die “Peniszählung”

“Müssen Frauen nackt sein, um es ins Met-Museum zu schaffen?”, fragte die Künstlerinnengruppe Guerrilla Girls in den 1980er-Jahren. Zuvor hatten sie im New Yorker Metropolitan Museum of Art eine Untersuchung vorgenommen, die sie “Peniszählung” nannten. Seitdem hat sich nicht viel geändert. 2012 kamen sie auf ein ähnliches Ergebnis: 76 Prozent nackte Frauen, vier Prozent Künstlerinnen.

Noch 2013 tönte der bedeutende deutsche Maler Georg Baselitz in einem Interview: “Frauen malen nicht so gut. Das ist ein Fakt.”Gerade erst nahm das Met ein paar seiner frühen Werke an. Geschenkt.

Pause. Gianluca schüttelt sich aus, kommt näher, vor dem Bildschirm steht nun eine kopflose Gestalt, die sich Zucker in den Kaffee schaufelt. Er fragt, ob ich an einer Kunstschule studiere. Ich verneine und will nun doch wissen, ob er hauptberuflich nackt ist. Ist er nicht. Er ist Musiker, spielt Gitarre und schreibt Songs, die er in Berliner Cafés und Kneipen präsentiert – wenn nicht gerade Lockdown ist. Um in Zeiten wie diesen ein wenig Geld zu verdienen, lässt er regelmäßig als Aktmodell die Hüllen fallen. Genug Small Talk. Ich spitze meine Stifte für die nächste Runde.

Erotik? Fehlanzeige!

Aktzeichnen werde in der zeitgenössischen Kunst gerade nicht so gepflegt, erzählt Borowski. Vielleicht, denke ich, ist es die Dauerverfügbarkeit nackter Körper in den Medien, die den Reiz nimmt, sich echten Menschen mit Stift und Papier zu nähern. Mit seinen Kursen möchte Borowski das ändern und den Teilnehmern wieder mehr Sinnlichkeit einflüstern: “Aktzeichnen hat auch etwas mit Erotik zu tun. In so einem Kurs begegnen sich Menschen, das hat Würze.”

An Erotik ist hier nicht zu denken. Ich muss mich auf Proportionen konzentrieren! Das richtige Verhältnis von Ober- und Unterkörper, die Länge von Gliedmaßen. Mir geraten seine Arme meist zu lang, die Unterschenkel zu kurz. Gefällt mir eine Pose besonders gut, muss ich dreimal von vorn beginnen. “Wenn man etwas zu sehr will, verhaut man es”, sagt Borowski. Wenn mir der Körper nicht so gelingt, stürze ich mich auf Details, verziere den Körper mit Haaren. Als Ablenkungsmanöver.

Jetzt bin ich in Fahrt und fast traurig, als der Kursleiter die letzten Minuten ankündigt. Auf meinem Boden liegt zerknülltes Papier, meine Hände sind schwarz vom Kohlenstaub. Ich betrachte meine Werke, bin zufrieden. Ein “Bild von einem Mann” ist Gianluca auf meinem Papier nicht gerade geworden. Eher eine Karikatur. Borowski findet das sympathisch: “Es ist ein illustrativer Stil, hat was.”

Ich stecke meine Bilder in eine Mappe. Sobald der Virus-Wahnsinn vorbei ist, werde ich mal einen echten Kurs besuchen und dafür sorgen, dass es mehr Bilder von nackten Männerkörpern gibt – geformt vom weiblichen Blick.

BARBARA 04/2021