Linguistik: Warum Gendern unsere Sprache nicht verhunzt, sondern bereichert

Gendern oder nicht gendern? Für unsere Autorin stellt sich die Frage mittlerweile nicht mehr. Ihrer Meinung nach können wir durchs Gendern alle etwas gewinnen.

Kritik am Gendern gibt’s aus unterschiedlichen Richtungen und in den verschiedensten Stimmlagen. “Gendergerechte Sprache ist eine der dümmsten Ideen unserer Zeit”, zitiert die “Welt” z. B. den Autoren Dr. Richard David Precht. “Wir haben andere Probleme”, sagt CDU-Politikerin Friedrich Merz im November 2020 bei Anne Will. “Gendern ist eine sexistische Praxis, deren Ziel es ist, Sexismus zu bekämpfen”, schreibt Schriftsteller Nele Pollatschek im “Tagesspiegel”. 

Zugleich tauchen in immer mehr Texten und (sozialen) Medien Sternchen, Doppelpunkte, Partizipial- und geschlechtsneutrale Formen auf. Immer mehr Menschen, die eine Reichweite haben und in der Öffentlichkeit stehen, entschließen sich dazu, abwechselnd weibliche und männliche Varianten zu verwenden, sich einen Glottalverschluss vor weiblichen Endungen abzuringen (“Sprecher’innen”) oder eine Pause zu machen (“Sprecher…innen”)

Da hilft wohl nur eins: Wir kochen uns alle eine Tasse Tee, nehmen uns einen Keks, bilden einen Stuhlkreis und reden einmal ganz entspannt darüber.

Macht Gendern unsere Sprache kaputt?

Viele Menschen stört am Gendern, dass es unsere Sprache verändert. Einige von ihnen benutzen in diesem Zusammenhang statt “verändert” auch das Wort “verunstaltet”. Das ist tatsächlich ein sehr interessanter Kritikpunkt, denn üblicherweise passiert Sprachwandel, ohne dass wir großartig darüber diskutieren. Neue Wörter erhalten Einzug in unseren Sprachgebrauch (Handy, Laptop, Corona). Alteingesessene Wörter bekommen eine neue Bedeutung (stabil, Querdenker:in) oder verschwinden (Oheim, Fräulein). Sogar morphologische Formen dürfen mit der Zeit gehen, ohne dass es deshalb Zankereien gibt oder Talkshowrunden einberufen werden (dem Manne > dem Mann). Abgesehen von einigen tapferen Vereinen, die sich dem Erhalt oder der Rettung der deutschen Sprache verschrieben haben, kräht in der Regel kein Huhn danach.

Wenn wir aber anfangen, statt “Studenten” “Studierende” zu sagen, melden sich plötzlich mehr Bedenkentragende und äußern sich besorgt über das Schicksal unserer Sprache. So schließt auch Dr. Richard David Precht an sein oben von mir zitiertes Urteil übers Gendern an: “Sprache ist kulturelle Heimat für Menschen, Sprache lebt von Tradition.” Wow, klingt das toll. Indes, es muss uns keineswegs vom Gendern abhalten.  

Als ich zur Schule ging, habe ich wie viele meiner Mitschüler:innen Latein gelernt. In guter, alter Tradition. Trotzdem ist Latein tot – RIP. Der Grund ist, dass wir ignoranten Kinder in unseren Pausen und nach Schulschluss einfach weiter Deutsch gesprochen haben. Ebenso in Mathe, Geschichte, Kunst und Sport. Was diese Anekdote veranschaulichen soll: Sprache lebt davon, dass wir sie benutzen. Damit wir sie benutzen (können), muss sie sich verändern. Unsere Welt verändert sich, unser Wissen verändert sich, unsere Einstellung verändert sich, unsere Ideen verändern sich. Unser Bedarf an Sprache verändert sich. Eine Sprache, die wir unserem Bedarf nicht anpassen (können), ist nutzlos. Eine Sprache, die sich nicht verändert, ist tot. 

Ich würde nicht im Traum auf die Idee kommen, Dr. Richard David Precht zu widersprechen, schon gar nicht mit einem Keks in der Hand. Ich möchte lediglich ergänzen: Sprache lebt von Tradition und Wandel. Und von Austausch. Und Kreativität. Und Konsens. Von Sinneseindrücken. Und Ideen. Und vielem mehr. Was aber an dieser Stelle wichtig ist: Eine Sprache vor Veränderungen zu “beschützen”, bedeutet, sie zu killen. Wenn sich eine Gesellschaft weiterentwickelt, ist es nur natürlich, dass sich das auch in der Sprache dieser Gesellschaft zeigt. Wenn wir als Sprachgemeinschaft den dringenden Bedarf sehen zu gendern, können wir das getrost tun. Die Frage ist nur: Sehen wir diesen Bedarf?

Besteht ein Bedarf zu gendern?

CDU-Politikerin Friedrich Merz sieht diesen Bedarf jedenfalls nicht, wie eingangs erwähntes Zitat nahelegt. Und er ist in guter Gesellschaft. Viele Menschen halten Gendern für überflüssig und das ständige Debattieren darüber für verschwendete Zeit und Energie. Verständlich. Kann auch ganz schön nerven. Vor allem, wenn man sich nicht betroffen fühlt. Nur gibt es nun mal eine ganze Reihe sozialwissenschaftlicher Untersuchungen und Expert:innen, die belegen können, dass Sprache einen Einfluss hat. Auf unser Denken. Unsere Entscheidungen. Unsere Gesellschaft.

So weiß etwa die Sozialpsychologin Sabine Scesny in einem Interview mit der “Frankfurter Rundschau” gleich mehrere Studien zu zitieren. 

  • In einer Untersuchung, an der sie selbst beteiligt war, wurde eine Testgruppe von Kindern gebeten, ihren Lieblingshelden zu nennen, eine andere sollte Lieblingshelden oder Lieblingsheldin küren. Während Gruppe A ausschließlich männliche Helden wie Superman und Bruce Wayne in den Sinn kamen, fielen in Gruppe B auch Antworten wie “Mama” und “Pippi Langstrumpf”. 
  • In einem anderen Experiment legte man deutschen und belgischen Kindern verschiedene Listen mit Berufen vor. “Wenn die Bezeichnungen sowohl männlich als auch weiblich waren, interessierten sich mehr Mädchen für männlich typisierte Berufe wie bei der Polizei und trauten Frauen in diesen Berufen mehr Erfolg zu”, so Scesny.
  • Und bei einem Vergleich von unterschiedlichen Staaten stellten Wissenschaftler:innen fest, dass es in solchen, in denen eine geschlechtsneutrale Sprache gesprochen wird (ohne die grammatischen Kategorien “Maskulin” und “Feminin” und z. B. mit nur einem Pronomen für “er” und “sie”), tendenziell besser um die gleichgestellte Teilhabe von Männern und Frauen am Erwerbsleben bestellt ist als in Ländern, in denen das Geschlecht wie bei uns sprachlich markiert wird. “Sprachen mit grammatikalischem Geschlecht gehen einher mit einer 15 Prozent geringeren Beteiligung der Frauen am Arbeitsleben, was in diesem Fall 125 Millionen Frauen entspricht”, sagt Scesny.

Natürlich sollten wir uns nicht der Illusion hingeben, dass wir in einer gleichberechtigten Gesellschaft leben, sobald die Kandidat:innen bei “Love Island” sich über ihre “Kolleg…innen” unterhalten oder unser Nachbar auf der Straße zu uns sagt, er gehe gerade zur Bäckerei (statt zum Bäcker). Und ganz ehrlich: Wenn Friedrich Merz zwei Tage Menstruationsurlaub im Monat für alle menstruierenden “Bürger” durchboxt, ist mir das viel lieber, als wenn er gendert. Aber die Erkenntnis aus den genannten und vielen weiteren Untersuchungen ist nun mal: Mit dem generischen Maskulinum mögen alle gemeint sein. Doch es ist nicht an alle gedacht. Und das kann Spuren hinterlassen. In unserer Vorstellungs- und Gegenstandswelt. Die Frage ist nur: Ist Gendern, so wie wir es derzeit anstellen, der richtige Weg, um diese Spuren zu verwischen?

Ist Gendern der richtige Weg?

Nele Pollatschek äußert in ihrem “Tagesspiegel”-Beitrag Bedenken: “Wenn wir im Deutschen gendern, dann sagen wir damit: Diese Information ist so wichtig, dass sie immer mitgesagt werden muss. Und wir sagen: Nur diese Information muss immer mitgesagt werden.” Autsch. Das sitzt. Hoffentlich hat sich jetzt niemand an einem Kekskrümel verschluckt.

Mit jedem “Lehrer:innen” drücken wir aus, dass es weibliche und männliche Lehrende gibt und jene, die sich weder dem einen noch dem anderen zuordnen. Was wir aber unter den Tisch fallen lassen, ist, dass es katholische, jüdische und atheistische Lehrende gibt, hellhäutige, dunkelhäutige und, und, und. Geschlecht wird damit zu einem essenziellen Merkmal erhoben, das in jedem Kontext von Bedeutung ist und immer eine Rolle spielt. Ist das zielführend, um die Kluft zwischen den Geschlechtern zu überbrücken? Wohl kaum.

Zielführender wäre es zu diesem Zweck, diese verflixten Genus-Unterschiede komplett abzuschaffen, die sich in unsere Sprache eingezeckt haben. Ist letztlich auch eine Art zu gendern. Weg mit dem “-in”, weg mit den unterschiedlichen Artikeln, Pronomen, Deklinationen von Adjektiven. Wollen wir dann doch aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen zum Ausdruck bringen, dass z. B. Angela Merkel die erste Bundeskanzlerin war, sagen wir eben, sie war “das erstes weibliches Kanzler” oder so ähnlich. Womöglich werden wir zwar ein paar Jahre überbrücken müssen, in denen unsere trägen Gehirne erstmal nur noch Vorstellungen von männlichen Personen in unseren Köpfen produzieren. Aber wenn wir alle an einem Strang ziehen, sind die Geschlechterkategorien für Deutschsprechende und -denkende in ein paar Generationen bestimmt abgeschafft. Zumindest soweit wir sie mithilfe unserer Sprache abschaffen können.

Manche Kategorien scheinen nämlich tatsächlich so fundamental für uns zu sein, dass wir nicht einmal Begriffe brauchen, um sie wahrzunehmen. So erkennen zum Beispiel vier Monate alte Babys einen Unterschied zwischen Hund und Katze. Nun gehören zwar Männer, Frauen und Diverse immerhin zur selben Art, aber ob sich Babys an die Systematik der Biologie halten …?

Außerdem: Wäre es im Moment überhaupt am besten, wenn wir Geschlechtskategorien sprachlich komplett ausblenden könnten? Oder bringt es uns gerade nicht auch schon einen Schritt weiter, wenn wir mit dem Gendern den in unserer traditionell maskulinen Sprache weniger abgebildeten Gruppen zu mehr Präsenz verhelfen und die Kategorien in unseren Köpfen aufzubrechen versuchen? Ehe wir den Gender-Kahlschlag angehen, scheint die Mehrheit der Gendernden das jedenfalls probieren zu wollen. Nur stellt sich dann immer noch die Frage: Wie machen wir es am besten?

Wie gendern wir am besten?

Im Grunde liegt die perfekte Genderlösung auf der Hand: Sie muss unserer Intention bzw. unserem Ziel, das wir als Sprachgemeinschaft mit dem Gendern verfolgen, entsprechen und nützen. Sie muss alltagstauglich sein und bitte bloß nicht so gestelzt. Sie muss Spaß machen. Sie muss den Gender Pay Gap schließen, sowie den Gender Health Gap und den Orgasm Gap. Außerdem wäre es klasse, wenn sie die Vier-Tage-Woche einführt, Kaffee kocht und Wäsche aufhängt. Okay, Spaß beiseite. Was ich damit aber sagen will, ist: Die perfekte Gendervariante werden wir nicht so einfach finden. Zumindest nicht, indem wir darüber nachdenken und diskutieren. 

Zurzeit fliegen uns lauter Doppelpunkte, Sternchen, Glottalverschlüsse und Binnen-Is um die Ohren. Immer mehr Medien, Websites, Unternehmen, Politiker:innen, Influencende entscheiden sich zu gendern. Sie alle sehen den Bedarf an einer gendergerechteren Sprache. Sie alle möchten gerne zum Ausdruck bringen, dass sie dafür sind, dass in unserer Gesellschaft an alle gedacht wird und dass alle die gleichen Möglichkeiten bekommen. Da es zurzeit nicht “die Genderlösung” gibt, wählen sie eben alle die Variante, die sie als am sinnvollsten und praktikabelsten empfinden. Und das finde ich persönlich absolut genial. Ausprobieren und gucken, was sich durchsetzt. So läuft das nämlich in der Sprache.

Die einen wählen Sonderzeichen. Manche sogar in Komposita (“Bürger:innenmeister:innen”). Einige gendern konsequent. Andere denken nur alle paar Wochen daran. Viele bilden Partizipien, was das Zeug hält. Viele andere benutzen willkürlich männliche und weibliche Formen, egal, wen sie bezeichnen. Wieder andere wechseln ab. Jede Variante hat Vor- und Nachteile. Theoretisch können wir das Genus auch kontextbezogen wählen und damit noch ganz andere Dinge zum Ausdruck bringen als das Geschlecht einer Person.

Exkurs kreatives Gendern: “Politikerin” Friedrich Merz

Wenn ich zum Beispiel Friedrich Merz in einem Text über das Gendern als Politikerin bezeichne, sage ich damit, dass ich seine Meinung respektiere. Er hat andere Probleme, also wird es ihm egal sein, welches Genus ich für seine Berufsbezeichnung verwende. Er bleibt ja doch in unseren Köpfen immer Friedrich Merz. Und weil ich seine Ansicht zum Gendern kenne, fühle ich mich ja auch angesprochen, wenn er z. B. sagt, er mache Politik für die Bürger. Oder was CDU-Politiker:innen eben so sagen. Genauso nenne ich Nele Pollatschek Schriftsteller, weil sie sich durch die weibliche Form auf ihr Frausein reduziert fühle, wie sie schreibt. Das respektiere ich. Exkurs Ende. 

Für viele mag sich das derzeitige Gender-Wirrwarr wie das reinste Chaos anfühlen und sicherlich wird es hier und da mal zu Missverständnissen führen. Doch die bringen uns dann immerhin ins Gespräch miteinander. Und dieses Chaos hat etwas Positives: Es macht unsere Sprache lebendig und vielfältig.

Fazit

Gendern bereichert unsere Sprache. Es regt unser Denken und unsere Aufmerksamkeit an, fördert unsere Sensibilität und unser (Sprach-)Bewusstsein. Je bunter unsere Sprache, umso bunter unser Denken. Und umso größer unsere Chance zu realisieren, dass wir in einer bunten Gesellschaft leben. Vielleicht setzt sich gendergerechte Sprache am Ende nicht durch. Vielleicht wird sie längst nicht so viel bewirken, wie sich manche erhoffen. Doch für mich gibt es keinen Grund, nicht zu gendern. Ich bin der Meinung: Wer gendert, kann nur gewinnen. Und wer das so nicht sieht, lässt es eben bleiben.

Warum ich das Thema übrigens bei Tee, Keksen und im Stuhlkreis besprechen wollte: Wir brauchen uns deswegen nicht zu streiten. Wir müssen uns nicht gegenseitig doof finden oder dafür verurteilen, wie und ob wir gendern oder eben nicht. Es gibt schon genug, worüber wir uns streiten und wofür wir uns verurteilen. Es muss nicht noch mehr dazu kommen.

Gendern bei BRIGITTE.de, GALA.de und ELTERN.de

Für die Marken ELTERN.de, BRIGITTE.de und GALA.de haben wir uns als Team (nun auch endlich!) dafür entschieden, uns ab sofort geschlossen um eine geschlechterneutralere Sprache zu bemühen – wir werden dabei einen einheitlichen Weg einschlagen. In erster Instanz möchten wir möglichst unspezifische Begriffe verwenden, z. B. Menschen, Personen oder Sprechende. Wenn uns kein unspezifischer Begriff einfällt oder es keinen gibt, benutzen wir den Doppelpunkt: “Mal sehen, wer unser:e nächste:r Bundeskanzler:in wird” (ich bin jetzt mal vorsichtig und rechne Armin Laschet eine Chance zu …). Das mag anfangs komisch, ungewohnt oder gestelzt wirken und für einige von uns fühlt es sich gelegentlich auch ein bisschen wie Gehirnjogging an. Aber in einigen Wochen oder Monaten werden wir es komisch finden, wenn wir alte Texte von uns lesen, in denen wir nicht gendern (die passen wir nämlich nicht an!). Safe.

Verwendete Quellen: Tagesspiegel.de, Welt.de, ARD, FR.de, Podcast “Betreutes Fühlen”, “Schwarz. Weiß. Denken! Warum wir ticken, wie wir ticken, und wie uns die Evolution manipulierbar macht” (Kevin Dutton, dtv)

Brigitte