Michael Baumer entgeht seiner Abwahl

Michael Baumer musste bis zum Schluss leiden, ehe ihm die Wiederwahl als Stadtrat gelang. Weshalb?

Am Sonntagmittag sitzen Michael Baumer und seine Frau Bettina Uhlmann in der Stube ihrer Wohnung im Kreis 6. Sie haben zusammen gebruncht, wie sie es fast jedes Wochenende tun, Baumer macht gerne selber Zopf. Er sagt: «Ich bin schon etwas angespannt.»

Zu diesem Zeitpunkt weiss er noch nicht, was ihm bevorsteht. Dass er mit Grabesmiene die Resultate auf den Bildschirmen verfolgen wird. Dass sich sein politisches Schicksal stündlich ändern wird und er abwechselnd als derjenige dasteht, der den freisinnigen Sitz verlieren und als erster Stadtrat seit 1998 abgewählt werden wird. Und dann wieder als derjenige, der alle Zweifler Lügen straft und den Einzug doch noch schafft.

Die Zitterpartie für Baumer hat tiefer liegende Gründe. Politische Gegner tun ihn zwar gerne als blass ab, aber im Kern geht es um den Platz der Bürgerlichen in den grossen Städten. Baumer steht aber noch für etwas anderes, nämlich die Bürgerlichen, die in den letzten Jahren verzweifelt ihren Platz in den grossen Städten dieses Landes suchten und gegen die Linke kaum ein Rezept fanden. Jetzt schöpfen sie neue Hoffnung.

Bettina Uhlmann sagt zu ihrem Mann: «Ich habe einen Champagner kalt gestellt. Der wird heute Abend aufgemacht, egal, wie die Wahl herauskommt.» Es wird Stunden dauern, bis Baumer im Stadthaus endlich den Blumenstrauss entgegennehmen kann.

Dass es für den Freisinnigen Baumer knapp werden könnte, hatte sich abgezeichnet. Er galt als Wackelkandidat, wie eine Umfrage der Tamedia-Zeitungen ergab. Dabei hat er sich keinen Skandal geleistet, er kennt sich aus in seinem Dossier, verzichtet auf Polemik. Die Tamedia-Zeitungen schrieben, Baumer sei «eher unbekannt». Das ärgert ihn, sagt er, während er in der Stube sitzt. «Mir ist einfach nicht klar, wie diese Behauptung zustande kommt.»

Warten auf die ersten Wahlresultate: Baumer mit seiner Frau Bettina Uhlmann in der gemeinsamen Wohnung im Kreis 6.

Warten auf die ersten Wahlresultate: Baumer mit seiner Frau Bettina Uhlmann in der gemeinsamen Wohnung im Kreis 6.

Bettina Uhlmann nickt. «Das regt mich auch auf», sagt sie. Wird ihr Mann in der Öffentlichkeit kritisiert, hält sie sich zurück. «Auch wenn mir das manchmal schwerfällt.» Dann zieht sich das Paar für einige Stunden zurück.

Ist Baumer wirklich «eher unbekannt»? Jedenfalls dürfte er gemerkt haben, dass es knapp wird. Er hat im Wahlkampf alle Hebel gezogen. Er führte Standaktionen durch, schaltete Inserate. Plötzlich gab es auffällig viele Medientermine mit ihm. Gar eine Rundfahrt in einem der neuen Flexity-Trams war geplant, musste dann wegen der Corona-Situation aber abgesagt werden.

Auf seiner persönlichen Website veröffentlichte er Podcasts unter dem Titel «Stadtratsgespräche» und liess sich zu Themen vernehmen wie dem Zürcher Trinkwasser, Temp0 30 oder der ÖV-Vision 2050. Seine grösste Vision: ein Seetunnel, um den Verkehr unter der Erde verschwinden zu lassen.

Baumer in seinem Büro am Beatenplatz.

Baumer in seinem Büro am Beatenplatz.

Ausgerechnet wenige Tage vor den Wahlen schaffte es Baumer dann doch noch in die Schlagzeilen, aber nicht so, wie er es sich wohl gewünscht hätte. Nachdem die nationale FDP-Spitze bekanntgegeben hatte, sie wolle den Bau neuer Atomkraftwerke zulassen, sagte Baumer gegenüber den Medien, der Antrag stehe «schräg in der Landschaft». Zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt sah es aus, als würden ihm seine Parteikollegen einen Bärendienst erweisen.

Baumer ist der Typ Politiker, die es braucht, damit ein Regierungskollegium funktionieren kann. Er ist ein «stiller Schaffer». Die letzten vier Jahre als Vorsteher der Industriellen Betriebe hat er ohne Patzer hinter sich gebracht.

Er hat ein dankbares Departement. Die Zürcherinnen und Zürcher lieben ihre VBZ. Und mit dem «städtischen Energiegesetz» setzt Baumer ein rot-grünes Anliegen um: die Verbannung von Öl- und Gasheizungen zugunsten des Ausbaus der umweltfreundlichen Fernwärme. «Es ist sicher richtig, wenn man mich einen umweltbewussten Freisinnigen nennt», sagt Baumer.

Als Vorsteher der Industriellen Betriebe ist Michael Baumer oberster Trämler.

Als Vorsteher der Industriellen Betriebe ist Michael Baumer oberster Trämler.

Er sagt: «Das Departement läuft, Leute aus allen Parteien attestieren mir, ich hätte einen guten Job gemacht. Aber wenn es keine Probleme gibt, kommt man halt nicht in der Zeitung.»

Getrübte Stimmung im Pub

An diesem Sonntag dauert es lange, bis der erste Kreis ausgezählt ist. Es ist kurz nach vier, als die Zahlen aus Schwamendingen kommen. Hier wird traditionell bürgerlich gewählt, und trotzdem schafft es Baumer nur auf Rang neun. Walter Angst von der AL sitzt ihm im Nacken, er liegt nur rund hundert Stimmen zurück. Und in den linken Wahlkreisen, die noch folgen, dürfte Angst aufholen. Baumer sagt dazu nur: «Es ist noch zu früh für eine Einschätzung.»

Knapp eine Stunde später macht er sich auf ins James-Jocye-Pub, wo die FDP ihre Wahlfeier abhält. Am Rennweg steigt er mit düsterer Miene allein aus dem Tram. Seine Frau ist zu Hause geblieben und wird erst später dazustossen. Mehrere Kreise wurden ausgezählt, Walter Angst von der AL liegt inzwischen vor ihm auf dem neunten Platz.

Baumer öffnet die Türe zum Pub, geht schweigend hinein. Die Anwesenden schauen freundlich, als sie ihn sehen. Doch die Stimmung ist gedämpft. FDP-Geschäftsführerin Claudia Simon sagt, sie habe die Hoffnung auf eine Wahl noch nicht verloren. «Michael Baumer hat eine sehr gute Leistung gezeigt in den letzten vier Jahren.»

Auf den TV-Bildschirmen läuft Tele Züri. Auch wenn Parteipräsident Severin Pflüger auf allen Kanälen Optimismus verbreitet: Es schaut nicht gut aus. Baumer schaut besorgt. Eine Kellnerin balanciert ein Tablett mit Weingläsern durchs Pub. Wer eines nimmt, tut das fast verschämt. Die Nüssli in den Gläsern bleiben unangetastet. Schliesslich gibt es grad nichts zu feiern. Dabei möchte Baumer unbedingt wiedergewählt werden.

Baumer verfolgt im James-Joyce-Pub die Auszählung der Wahlkreise. Zu diesem Zeitpunkt sieht es nicht gut aus für ihn.

Baumer verfolgt im James-Joyce-Pub die Auszählung der Wahlkreise. Zu diesem Zeitpunkt sieht es nicht gut aus für ihn.

Wenn Baumer, 47 Jahre alt, studierter Informatik-Ingenieur, von seinem Weg ganz nach oben in der städtischen Politik erzählt, dann tut er das sehr unaufgeregt. Er ist seit über 20 Jahren FDP-Mitglied. «Für mich gibt es keine andere Partei», sagt er. «Das Liberale ist doch in jedem Schweizer verankert.» Wahrscheinlich, sagt er, habe ihn auch seine Familiengeschichte zum Freisinn gebracht. Sein Vater wuchs in der DDR auf, in einem unfreien Staat. «Das hat ihn geprägt und mich auch.»

Bevor er Stadtrat wurde, sass er 15 Jahre im Gemeinderat. An diese Zeit denkt er gerne zurück. «Ich wollte etwas erreichen und habe mich nicht davor gescheut, ein paar polemische Sprüche fallen zu lassen.» Als Parteipräsident habe er Wert darauf gelegt, dass die FDP nach aussen wahrgenommen werde. «Ab und zu gab es von uns auch unpopuläre Forderungen, etwa, wenn wir das Budget ablehnten.»

Der bald aus dem Parlament scheidende Grüne Markus Kunz erinnert sich gut an den Parlamentarier Baumer. «Er war präsent und lebendig, im positiven Sinne angriffig, innovativ, ideenreich.» Als Stadtrat sei er blass. Auch im Reden sei Baumer früher besser gewesen, sagt Kunz. «Ich dachte nach einem meiner Voten oft: Ui, jetzt wäscht er mir dann die Kappe. Aber dann las er einfach herunter, was in der Weisung stand.»

Kunz sieht Baumer eher als Verwalter denn als Gestalter. Gewiss habe es in Baumers Departement traditionell starke Dienstchefs. «Aber sein Vorgänger Andres Türler war alles andere als blass», sagt Kunz. «Es ist, als wenn Baumer nie richtig angekommen wäre.»

Als Stadtrat ist Baumer wenig angriffig. Über seine Zeit als Gemeinderat sagt er: «Ich wollte etwas erreichen und habe mich nicht davor gescheut, ein paar polemische Sprüche fallen zu lassen.»

Als Stadtrat ist Baumer wenig angriffig. Über seine Zeit als Gemeinderat sagt er: «Ich wollte etwas erreichen und habe mich nicht davor gescheut, ein paar polemische Sprüche fallen zu lassen.»

AL-Gemeinderat Andreas Kirstein hat ähnliche Beobachtungen gemacht. Aber er bewertet sie anders. Baumer sei integer, ruhig, sachorientiert und freundlich. Seinen Auftritt als Stadtrat bezeichnet er als technokratisch. «Er ist nicht besonders innovativ, aber in diesem Departement wäre es auch nicht richtig, zwanghaft innovativ sein zu wollen.» Baumer stehe starken Dienstabteilungen vor. Was auch Kirstein kritisch sieht: Man habe bei ihm nicht wirklich das Gefühl, dass er das Heft in die Hand nehme.

Unendlich lange 20 Minuten

Baumer ist kaum zehn Minuten im Pub, als er seinen Schal schon wieder anzieht. Er will ins Stadthaus, «man erwartet mich dort». Nun sind alle Kreise bis auf einen ausgezählt, Baumer wäre gewählt. Es fehlt nur noch der Kreis 6, wo Baumer wohnt. Es ist aber auch ein Kreis, in dem traditionell eher links gewählt wird. Richard Wolff (AL) lag 2018 um 1800 Stimmen vor Baumer.

Baumer sagt, die FDP sei im rot-grün dominierten Zürich tatsächlich in einer herausfordernden Position. «Vielleicht», sagt Baumer, «müssen wir unsere Positionen noch offensiver vertreten.» Die Stadt Zürich sei nicht zuletzt deshalb so erfolgreich, weil sie freiheitlich sei, eine starke Wirtschaft habe und qualitativ hochstehende Bildungsinstitutionen. Doch positive Botschaften zu verbreiten, sei für die Medien oft nicht spannend.

Auf dem Weg ins Stadthaus verfolgt Baumer auf seinem Handy die Auszählung der Stimmen.

Auf dem Weg ins Stadthaus verfolgt Baumer auf seinem Handy die Auszählung der Stimmen.

Ist Baumer also doch zu wenig bekannt in der Öffentlichkeit? Im persönlichen Gespräch ist er freundlich, aber zurückhaltend. Bei öffentlichen Auftritten wirkt er sicher, an Medienkonferenzen hat er auf alle Fragen eine Antwort und spricht mit ruhiger Stimme. Manchmal macht er allerdings den Eindruck, als sei es ihm unangenehm, wenn alle Augen auf ihn gerichtet sind.

Das stimme nicht, sagt Baumer. «Es macht mir nichts aus, in der Öffentlichkeit zu stehen. Aber ich muss auch keine grosse Show abziehen.» Ganz im Gegensatz zu seinem Parteikollegen im Stadtrat, Filippo Leutenegger. Dieser liebt den grossen Auftritt. Baumer sagt, man könne gut miteinander in der Exekutive. Das ist auch wichtig: Es ist ein offenes Geheimnis, dass es bei internen Abstimmungen oft 7 zu 2 steht.

Leutenegger sagt über ihn: «Michael Baumer ist ein umsichtiger Mensch und hat seine Dossier im Griff. Er weiss, wovon er spricht. Ich schätze seine Kollegialität auch mir gegenüber. Wir können die liberale Sicht gemeinsam in den Stadtrat einbringen.» Ein gutes Beispiel sei Tempo 30 auf Hauptverkehrsachsen, wo man zusammen noch Schlimmeres für den öV habe abwenden können. Baumer selbst sagt, er erlebe den Stadtrat durchaus als pragmatisch. «Filippo und ich werden als Minderheit angehört und wir können unsere Meinung einbringen.»

Filippo Leutenegger und Michael Baumer blicken auf die Bildschirme mit den Abstimmungsresultaten.

Filippo Leutenegger und Michael Baumer blicken auf die Bildschirme mit den Abstimmungsresultaten.

Leutenegger scheut sich nicht, seiner Partei offen zu widersprechen. So lehnte er das CO2-Gesetz im Gegensatz zur FDP ab und warb sogar auf Plakaten für ein Nein. Baumer hingegen gilt eher als konsensorientiert und sucht das Gemeinsame. Auf Wahlplakaten liess er sich zusammen mit dem GLP-Kandidaten Andreas Hauri ablichten.

Musste Baumer in den letzten Monaten um Aufmerksamkeit kämpfen, so ist sie ihm jetzt gewiss. Als er beim Stadthaus ankommt und die Haupttür aufstösst, sind alle Kameras sofort auf ihn gerichtet. Journalisten scharen sich um ihn, halten ihm Mikrofone unter die Nase. Baumer kann sich kaum bewegen, jede Regung wird verfolgt.

Neben ihm stehen FDP-Parteipräsident Severin Pflüger und Filippo Leutenegger. Die drei starren auf die Bildschirme in der Halle, auf denen die Resultate angezeigt werden. Unendlich lange 20 Minuten dauert es noch, bis endlich feststeht: Baumer hat die Wahl geschafft. Pflüger und er klopfen sich gegenseitig auf die Schulter. Euphorie sieht anders aus. Diese Wahl war ein elender Krampf.

Alle Kameras und Mikrofone sind auf ihn gerichtet: Baumer am Wahlsonntag im Stadthaus.

Alle Kameras und Mikrofone sind auf ihn gerichtet: Baumer am Wahlsonntag im Stadthaus.

Als sich die FDP-Truppe auf den Weg ins James-Joyce-Pub macht, weicht die Anspannung langsam aus Baumers Gesicht. «Ich habe die Hoffnung nie verloren, dass es gut kommen kann.»

Im Pub wird Baumer mit Jubelschreien und Geklatsche begrüsst. Wieder sind alle Augen auf ihn gerichtet, doch diesmal kann er es geniessen. Und er kann seine Frau in die Arme schliessen, die den ganzen Tag mitgelitten hat. «So eine Wahl geht nicht spurlos an einem vorbei», sagt sie. «Ich freue mich unglaublich für Michael, dass er gewählt wurde.»

Es war ein langer Tag. Baumer schüttelt Hände, nimmt Gratulationen entgegen, lächelt. Er sei stolz, dass er 9000 Stimmen mehr gemacht habe als vor vier Jahren, sagt er. Später sitzt er an der Bar mit einem Teller Älplermagronen und einem Bier. Es ist das erste Mal, dass er einen ruhigen Moment für sich hat. Dass es derart knapp geworden ist, kann er sich nur so erklären: «Wenn das links-grüne Lager acht Kandidaten aufstellt, wird es schwierig als Bürgerlicher.»

Aber das ist jetzt zweitrangig. Zu Hause wartet eine Flasche Champagner. Sie wird doch noch geöffnet.

Das Siegerfoto mit Baumer in der Mitte: Die Anstrengung der letzten Stunden ist ihm anzusehen.

Das Siegerfoto mit Baumer in der Mitte: Die Anstrengung der letzten Stunden ist ihm anzusehen.

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