Michail Gorbatschow ist im Alter von 91 Jahren gestorben

Er wollte die Sowjetunion erneuern, doch seine Reformen führten erst recht zu deren Zerfall. Im Ausland wurde Michail Gorbatschow deswegen gefeiert, in seiner Heimat angefeindet. Nun ist er verstorben.

Michail Gorbatschow war von 1985 bis 1991 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion.

Boris Yurchenko / AP

Eigentlich war er stets ein Optimist, doch zuletzt fiel er vor allem mit Warnungen auf. Michail Gorbatschow kritisierte die Falken in West und Ost, warnte vor einem neuen Kalten Krieg, rief zu Mässigung und Vernunft auf. Zugleich verteidigte er als Patriot die Annexion der Krim und warf gleichzeitig Präsident Wladimir Putin vor, Russland nicht zu demokratisieren, sondern in alte Zeiten zurückführen.

Am 30. August ist Gorbatschow, der letzte Staatschef der Sowjetunion, im Alter von 91 Jahren in Moskau gestorben. Der Mann aus der Provinz, der in der Moskauer Machthierarchie Stufe um Stufe erklommen hatte und zum Hoffnungsträger von Millionen wurde, prägte wie kaum eine andere Persönlichkeit in den achtziger Jahren und zu Beginn der neunziger Jahre das Weltgeschehen.

Lehrjahre in der Provinz

Michail Sergejewitsch Gorbatschow wurde am 2. März 1931 im Dorf Priwolnoje in der südrussischen Region Stawropol in eine Bauernfamilie geboren. Einer seiner Grossväter galt als «Kulak» und wurde als Klassenfeind für zwei Jahre in ein Arbeitslager gesteckt. Unauffälliger waren Gorbatschows Eltern. Der Vater arbeitete als Techniker in einem Landwirtschaftsbetrieb, die Mutter auf einer Kolchose. Der junge Gorbatschow half bei der Ernte, arbeitete auf einer Maschinen- und Traktoren-Station. Mit 19, als er die Mittelschule abgeschlossen hatte, begann sich für ihn die enge Welt der Provinz zu öffnen: Er wurde an der Juristischen Fakultät der Moskauer Lomonossow-Universität aufgenommen.

Doch das Diplom führte nicht zum erhofften Daueraufenthalt in der Kapitale. Obwohl Mitglied der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), wurden ihm nur Anstellungen in Sibirien, im Fernen Osten an der Grenze zu China oder in Zentralasien angeboten – nicht gerade die bevorzugten Orte eines ambitionierten Mittzwanzigers. Zudem stand seine Ehefrau Raissa vor ihrem Doktorat in Philosophie. Dank Beziehungen konnte wenigstens die Versetzung in den Osten vermieden werden. Stattdessen kehrte Gorbatschow in seine Heimat Stawropol zurück.

Die Provinz blieb für die nächsten 22 Jahre seine Wirkungsstätte. Er machte Karriere im Jugendverband der Partei, stieg zum Sekretär des Stadtkomitees der KPdSU auf, wurde Parteichef der Region, später Vollmitglied des Zentralkomitees. Wiederkehrendes Thema war für Gorbatschow die Landwirtschaft, einer der wichtigsten Wirtschaftszweige Stawropols. Dürren und eine ineffektive Bewirtschaftung führten regelmässig zu grossen Ernteverlusten. Gorbatschow versuchte, neue Erntetechniken einzuführen und die Verarbeitung zu beschleunigen. Mit Erfolg. Die Erträge stiegen. An den strukturellen Problemen des von Kolchosen und Sowchosen geprägten Agrarsektors änderte sich aber nichts.

Die Herrschaft der alten Parteichefs durchbrochen

Politisch hatten die landwirtschaftlichen Experimente den Effekt, dass Moskau immer mehr auf Gorbatschow aufmerksam wurde. Hohe Funktionäre reisten nach Stawropol, um Näheres über den umtriebigen, aber bescheiden auftretenden Genossen in Erfahrung zu bringen. Dessen Beziehungsgeflecht wuchs. Der Durchbruch bahnte sich 1978 an, als mit Fjodor Kulakow ein langjähriger Förderer Gorbatschows verstarb. Gorbatschow übernahm an seiner Stelle die Abteilung für Agrarwirtschaft im Zentralkomitee, siedelte endlich nach Moskau um und wurde kurz darauf zum Sekretär des zweitmächtigsten Gremiums der Partei gewählt.

Keine zwei Jahre später war er Vollmitglied des Politbüros, dies im relativ jungen Alter von 48 Jahren. Dominiert wurde die Spitze des Partei- und Staatsapparats von Kranken und Greisen. Bittere Witze über die Gerontokratie machten die Runde. Zum Beispiel: «Warum reiste Breschnew ins Ausland, Andropow aber nicht? Breschnew funktionierte mit Batterien (Herzschrittmacher). Andropow brauchte eine Steckdose (Dialyse-Maschine).» Leonid Breschnew starb 1982.

Auf ihn folgte Juri Andropow als Generalsekretär, der wie Gorbatschow aus Stawropol stammte und diesem wohlgesinnt war. Doch Andropow verstarb nur zwei Jahre nach seiner Amtseinsetzung. Staats- und Parteichef wurde darauf der greise, kaum noch amtsfähige Konstantin Tschernenko.

Michail Gorbatschow schüttelt am 16. Dezember 1984 die Hand der britischen Premierministerin Margaret Thatcher in deren Landsitz Chequers. Gorbatschow war von März 1985 bis August 1991 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU). (Bild: Terry Disney / Express / Getty)

Der Moment für einen Generationswechsel schien unvermeidlich geworden zu sein. Gorbatschow waltete geschickt. Er verstand es, sich der Unterstützung wichtiger Exponenten zu versichern. Dazu gehörten Persönlichkeiten aus den Regionen, etwa Eduard Schewardnadse oder Boris Jelzin, aus der Regierung – Figuren wie der stellvertretende Ministerpräsident Nikolai Ryschkow, Verteidigungsminister Sergei Sokolow oder der Geheimdienstchef Wiktor Tschebrikow – sowie aus reformorientierten intellektuellen Kreisen der Partei. Nur einen Tag nach Tschernenkos Tod, am 11. März 1985, wurde Gorbatschow, quasi alternativlos, vom Zentralkomitee zum neuen Generalsekretär gewählt.

Unverzüglich machte er sich an die Umbildung des Machtapparats. Innert Jahresfrist wechselte Gorbatschow Dutzende von Ministern und Parteisekretären aus. Weichen musste «Mr. Njet», der jahrzehntelang amtierende Aussenminister Andrei Gromyko. An dessen Stelle setzte Gorbatschow seinen langjährigen Freund aus Georgien, Schewardnadse, der schon bald dazu beitrug, die Welt nachhaltig zu verändern. Die Herausforderungen waren gewaltig.

Der Widerspruch zwischen den sozialistischen Heilsversprechungen und der Lebensrealität der 276 Millionen Sowjetmenschen war unübersehbar geworden. Die zentralisierte, schwerfällige Planwirtschaft des Vielvölkerstaates produzierte weiterhin ineffektiv am Markt vorbei; die aufgeblähten Rüstungsausgaben waren eine immense Last. Bei der Lebensmittelversorgung kam es immer wieder zu Engpässen. Gegenüber dem Westen hatte das Riesenreich den Anschluss verloren.

Der junge Parteisekretär führte neues Denken ein

Den Zerfallserscheinungen begegnete Gorbatschow mit den Reformkonzepten Perestroika (Umbau) und Glasnost (Offenheit). Er wollte damit die Sowjetunion modernisieren, nicht beseitigen. Im Kern ging es einerseits darum, schrittweise marktwirtschaftliche Elemente einzuführen. Anderseits bedeutete es die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft. Dies umfasste die Reformierung der Partei, Ansätze zu Meinungs- und Pressefreiheit, die Rehabilitierung von Kritikern des Sowjetsystems und den Beginn der Aufarbeitung der Vergangenheit.

Besonders deutlich trat Gorbatschows Reformagenda in der Aussenpolitik zum Vorschein. Zusammen mit Schewardnadse leitete er nach Jahrzehnten der Konfrontation mit dem Westen eine Wende ein. An die Adresse der USA gerichtet, sprach der neue Kremlchef von einem unverantwortlichen Wettrüsten, das weder zu gewinnen sei noch zur globalen Sicherheit beitrage. Statt auf Ideologie setzte Moskau mehr auf Pragmatismus und Flexibilität.

Ausdruck der neuen Politik waren eine Reihe von Gipfelgesprächen zwischen Gorbatschow und dem amerikanischen Präsidenten Reagan, darunter in Genf und in Reykjavik. 1987 erzielten die beiden einen Durchbruch in der Abrüstungspolitik, als sie sich auf die Vernichtung sämtlicher atomarer Mittelstreckenraketen einigten. Von grosser Bedeutung war auch Gorbatschows Entscheidung, die politischen Umwälzungen in Ostmitteleuropa zu dulden.

Der amerikanische Präsident Ronald Reagan (links) und Michail Gorbatschow, abgebildet 1985 in Genf.

Der amerikanische Präsident Ronald Reagan (links) und Michail Gorbatschow, abgebildet 1985 in Genf.

Mary Ann Fackelman / EPA

Dies geschah nicht immer nur aus demokratischem Verständnis, sondern auch aus einer Zwangslage heraus. Wegen ihrer prekären inneren Lage konnte die Sowjetunion die Regime in ihren osteuropäischen Satelliten wirtschaftlich nicht mehr stützen. Zudem wollte Gorbatschow durch das Vorantreiben des Entspannungsprozesses finanzielle Mittel freimachen.

Im November 1989 fiel die Berliner Mauer; das DDR-Regime kollabierte. Nach anfänglichem Zögern bot Gorbatschow Hand zum Zwei-plus-Vier-Vertrag, der den Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands ebnete. Der Kalte Krieg war endgültig vorbei, bald folgte die Auflösung des sowjetischen Militärbündnisses, des Warschauer Pakts. 1990 erhielt Gorbatschow den Friedensnobelpreis.

Gorbatschow war anders als seine Vorgänger. Er besass nicht nur ausgeprägtes Verhandlungsgeschick, sondern laut damaligen Gesprächspartnern auch grosse Glaubwürdigkeit und verblüffte mit Eloquenz, Witz und Offenheit. Zu offiziellen Anlässen nahm er seine charismatische Frau Raissa mit, ein Novum in der bisher von grauen Apparatschiks geprägten sowjetischen Aussenpolitik.

Das schützte ihn freilich nicht vor Ungemach im Inneren. Der Zerfall der Wirtschaft setzte ihn unter enormen Druck. Die Kritik und Skepsis an Gorbatschow und seinen Verbündeten wuchs. Ideologische Grabenkämpfe brachen auf, die konservative Fraktion erhielt Aufwind. Der Generalsekretär begann zu lavieren, zu hadern und zu drohen.

Angesichts der ökonomischen Krise erkannte Gorbatschow andere Gefahren zu spät, vor allem die Brisanz des Nationalitätenproblems, das einen föderalistischen Umbau der Sowjetunion notwendig machte. In mehreren der fünfzehn Unionsrepubliken wurde der Ruf nach Selbständigkeit immer lauter.

Die Demokratisierung gerät ausser Kontrolle

Besonders ausgeprägt war die Unabhängigkeits- und Demokratiebewegung im Baltikum. Als Litauen, Lettland und Estland ihre Souveränität erklärten und über eine neue Unionsverfassung diskutieren wollten, eskalierte die Lage: In Sorge um die Integrität der Sowjetunion suchte Gorbatschow zwar noch eine Verständigung. Doch es fehlte ihm am notwendigen Gespür für die Dynamik. In Moskau obsiegten alte Reflexe, das KGB und die sowjetische Armee wurden in Gang gesetzt. Der Versuch, die litauische Unabhängigkeitsbewegung zu ersticken, endete mit einem Blutbad.

Doch die Selbständigkeitsbestrebungen im Baltikum waren nicht mehr aufzuhalten. Gorbatschow war danach angeschlagen. Er propagierte demokratische Werte, trotzdem reagierte Moskau mit Gewalt. Der Generalsekretär schien hilflos, isoliert und in Gefahr, ein Opfer der von ihm freigesetzten Kräfte zu werden.

Im Frühjahr 1990 schnürte er zwar noch ein Reformpaket, das den Verzicht auf das Machtmonopol der KPdSU und die Einführung eines Präsidialsystems vorsah. Ein Sonderkongress der Volksdeputierten wählte ihn zum ersten sowjetischen Präsidenten. Doch die Kritik an seiner Person riss nicht mehr ab. Selbst sein langjähriger Weggefährte Schewardnadse ging auf Distanz. Angesichts des Erstarkens reaktionärer Kräfte warf er ihm Lavieren vor und warnte vor einer «kommenden Diktatur».

Gleichzeitig erwuchs Gorbatschow im früheren Moskauer Stadtparteichef Boris Jelzin, den er 1987 aus dem Politbüro geworfen hatte, ein immer stärkerer Widersacher. Im Sommer 1991 wurde Jelzin vom Volk zum ersten Präsidenten der russischen Unionsrepublik gewählt. Jelzin war nun der Hoffnungsträger für Reform und Fortschritt, während Gorbatschow für das Vergangene stand und ihm die Zügel der Macht entglitten.

Am 19. August 1991 war es so weit. In Reaktion auf einen zwischen Gorbatschow und Jelzin hart ausgehandelten neuen Unionsvertrag, der den Sowjetstaat in eine lockere Föderation umwandeln sollte, putschten reaktionäre Kräfte. Ein selbsternanntes «Notstandskomitee» aus höchsten Staatsvertretern setzte Gorbatschow in dessen Sommerresidenz auf der Krim fest.

Boris Jelzin (links) schlug im August 1991 einen Putschversuch kommunistischer Hardliner zurück und verdrängte Gorbatschow schliesslich von der Macht.

Boris Jelzin (links) schlug im August 1991 einen Putschversuch kommunistischer Hardliner zurück und verdrängte Gorbatschow schliesslich von der Macht.

Anonymous / AP

Doch es unterschätze den Widerstand, den ihr Programm hervorrief. Aufgeschreckt durch die Gefahr eines Rückfalls in alte, totalitäre Strukturen, strömten in Moskau Zehntausende vor das belagerte Weisse Haus, den Sitz des Obersten Sowjets der russischen Sowjetrepublik. Jelzin stieg auf einen Panzer, geisselte den Staatsstreich als illegal und sprach allen sowjetischen Behörden auf russischem Boden die Befehlsgewalt ab. Die Putschisten verliess rasch der Mut, nach drei Tagen war ihr Staatsstreich gescheitert.

Widerstand und Machtverlust an Boris Jelzin

Als Gorbatschow am 22. August nach seiner Freilassung in Moskau eintraf, kehrte er laut seinen eigenen Worten in eine andere Welt zurück. Die alte politische Führung bestand nicht mehr. Schlimmer noch, er musste sich eingestehen, von einem beträchtlichen Teil seiner engsten Mitarbeiter betrogen worden zu sein. Nun war Jelzin der Mann der Stunde. Unter Protest Gorbatschows setze Jelzin ein faktisches Verbot der Kommunistischen Partei durch und drängte diesen zur Entlassung der Regierung.

Am 24. August trat Gorbatschow als KP-Generalsekretär zurück, kurz darauf wurden seine Sondervollmachten als sowjetischer Präsident aufgehoben. Zudem scheiterte er mit seinem Versuch, zumindest eine Union souveräner Republiken unter zentraler Führung am Leben zu erhalten. Auf Initiative von Russland, Weissrussland und der Ukraine formierte sich die Gemeinschaft unabhängiger Staaten. Gorbatschow zog die Konsequenzen und trat als Präsident zurück. Über dem Kreml wurde die Fahne mit Hammer und Sichel eingezogen. Am Jahresende 1991 existierte die Sowjetunion nicht mehr.

Die persönliche Rivalität mit Jelzin – Gorbatschow machte ihn für das Ende der Sowjetunion verantwortlich – hielt noch Jahre an. Dies hinderte Gorbatschow nicht, gesellschaftlich und politisch aktiv zu bleiben. Er gründete die Gorbatschow-Stiftung, später die Umweltorganisation Green Cross. 1996 nahm er an der Präsidentschaftswahl teil, blieb aber chancenlos. Unbeirrt machte er weiter, doch wie der Rest der demokratischen Opposition versank Gorbatschow zusehends in der politischen Bedeutungslosigkeit.

Ein Kämpfer für die Freiheit bis ins hohe Alter

An seinem Engagement für mehr Freiheit änderte sich nichts. Er entwickelte eine grosse publizistische Schaffenskraft, beteiligte sich finanziell an der regierungskritischen Zeitung «Nowaja Gaseta» und nahm zu vielen innen- und aussenpolitischen Themen Stellung. Scharf kritisierte er den Ämtertausch des Führungstandems Putin-Medwedew, und er forderte Putin angesichts der Massenproteste von 2011/12 zu einem Machtverzicht auf.

Gorbatschow unterstellte dem Kreml, das Land nicht modernisieren, sondern in die Vergangenheit zurückführen zu wollen. Er ergriff Wort für den verfolgten Regierungskritiker Alexei Nawalny, warb weltweit für Abrüstung, Demokratie und Freiheit, propagierte ein «gemeinsames europäisches Haus» als bessere Zukunftsperspektive für den Kontinent. Kritisch kommentierte er die Osterweiterung der Nato, auch wenn er einräumte, dass der Westen ihm nie eine feste Zusicherung gegeben hatte, das Militärbündnis nicht weiter auszudehnen.

Im Ausland avancierte Gorbatschow zum geschätzten Gast und umworbenen Redner. Er zierte die Titelseiten der wichtigsten Zeitungen und Magazine, wurde zum Werbeträger von Luxusmarken. Er galt als die Person, die das Korsett des Homo sovieticus abgestreift hatte, sich gegen starre Ideologien erhob, die Teilung Europas beendete, die Welt vom Irrsinn des Wettrüstens befreite.

In Russland, fällt das Urteil hingegen zwiespältig aus. 2011 erhielt Gorbatschow zwar mit dem Andreas-Orden die höchste Auszeichnung seiner Heimat. Aber in der Bevölkerung wird er nicht für seine Verdienste um die Überwindung des repressiven Sowjetsystems geehrt, sondern eher als Totengräber eines Imperiums angefeindet sowie zum Sündenbock für das Chaos der neunziger Jahre abgestempelt.

Gorbatschow erscheint vielen als die Antithese zum heutigen Kremlchef, Putin, der für Stärke, Kompromisslosigkeit und eine erneuerte Grossmachtrolle Russlands steht. Viele russische Politiker betrachten ihn als Verräter am Vaterland; einmal strengten Abgeordnete der Staatsduma wegen seines Handelns im Schlüsseljahr 1991 gar einen Strafprozess gegen ihn an.

Totengräber der totalitären Sowjet-Gesellschaft

Doch es gibt auch differenzierte Meinungen, etwa jene des Kulturredaktors Andrei Archangelski von der Zeitschrift «Ogonjok». Für den in der Sowjetunion geborenen Journalisten hat Gorbatschow mit seiner Reformpolitik die Menschen von der sowjetischen Propaganda, von der Notwendigkeit der Lüge, vom permanenten Zwang der Heuchelei und der Loyalität befreit. Er habe die totalitäre Gesellschaft aufgebrochen, den Menschen ihre Sprache zurückgegeben und die Weichen dazu gestellt, dass die Freiheit nicht mehr nur ein Gut von «zwei Dutzend in Küchen sitzenden Dissidenten» sei, sondern von Millionen von Menschen.

Dies ist eine kluge Würdigung Gorbatschows, die auch zeigt, wie notwendig solche visionären Persönlichkeiten sind – gerade im heutigen Russland, in dem die demokratischen Werte wieder so gefährdet sind wie seit langem nicht mehr.

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