Mütter und Aggressionen: Das Tabu der Kindererziehung

Ich schlage mit der Hand gegen den Schrank

“Jetzt zieh dir endlich die Schuhe an, ich sage es nicht noch einmal!” zische ich meine Fünfjährige an, während ich versuche, ihre dreijährige, sich windende und schreiende Schwester in einen Schneeanzug zu zwängen. Ich merke, wie mein Puls rast und meine Stimme bebt. Es ist, als könnte ich die Wut auf mich zurasen sehen, unaufhaltsam wie ein Schnellzug, und ich kann nichts dagegen unternehmen. Als die Große dann eine Diskussion darüber beginnt, dass man im Januar sehr wohl auch Ballerinas anziehen könne und die Kleine in den frisch gewaschenen Schneeanzug pinkelt, passiert es: Ich schlage mit der Hand gegen den Schrank und brülle: “Es reicht!”.

Ich bin die Mutter geworden, die ich nie sein wollte

Früher war ich mal ein recht ausgeglichener Mensch. Ich bin nie laut geworden. Seit ich Kinder habe, weiß ich, wie wütend ich werden kann. Ausgerechnet die Menschen, die ich am meisten liebe, schaffen es regelmäßig, eine dunkle Seite von mir offen zu legen, die ich nicht kannte und die ich vehement versuche zu verstecken.

Täglich sehe ich in den sozialen Netzwerken und auf Mama-Blogs, wie es richtig geht: Wie man seine Kinder “bedürfnisorientiert”, geduldig und achtsam erzieht. So will ich sein. Stattdessen bin ich zu der Art von Mutter geworden, die ich nie sein wollte.

Ich bin die Art von Mutter, die ihr Kind anschreit und es unter 1000 Drohungen dazu zwingt, sich anzuziehen, sich die Zähne zu putzen oder im Bett zu bleiben.

Noch während ich sie anbrülle oder in ihren Autositz presse, verachte ich mich dafür. Ich erkenne mich selbst nicht wieder und schäme mich.

Die Autorin dieses Artikels ist Mutter zweier Töchter, die sie regelmäßig zum Explodieren bringen. Wütende Mütter werden verachtet – am allermeisten von sich selbst. Die 34-Jährige findet, dass es Zeit wird, dem Wutmonster in uns Gehör zu verschaffen.

Leider bewahrt mich die Scham nicht vor dem nächsten Ausraster. Sie bewahrt uns Mütter lediglich davor, über unsere negativen Gefühle gegenüber unseren geliebten Kindern zu sprechen. Wut und Aggression sind ohnehin Gefühle, die wir uns kaum zugestehen. Im Kinderzimmer erst recht nicht. Männer leben sie im Straßenverkehr oder im Fußballstadion aus. Wir Frauen gelten als hysterisch, wenn wir uns nicht unter Kontrolle haben. Eine Mutter in Rage passt noch weniger ins Bild. Der Mythos der immer geduldigen Mutter ist so heilig, dass wir nicht mal vor uns selbst eingestehen wollen, dass wir ihm nicht gerecht werden können. 

Allein mit den Kindern raste ich aus

Kaum jemand hat mich je in meinem “Zombie-Mama-Modus” gesehen. Nicht einmal der Vater meiner Kinder. Den ganzen Tag über sammele ich Ärger und Wut in mir. Über die zickige Verkäuferin an der Kasse, den schlecht gelaunten Chef, die zugeparkte Innenstadt. Aber ich habe gelernt, mich zu beherrschen.

Und dann bin ich mit meinen Kindern allein und raste aus. Warum? Die Antwort ist so einfach wie erschütternd: Weil ich es hier kann.

Hinter verschlossenen Türen bahnt sich das Wutmonster in mir den Weg ins Freie, welches in der Erwachsenenwelt so brav gelernt hat, sich bedeckt zu halten. Pausenlos füttere ich es mit kleinen Provokationen und am Ende brauchen meine Töchter nur ein kleines “buh”, um es hervor zu locken. Das Einzige, das sie vor Schlimmerem schützt, ist meine bedingungslose Liebe. Sie ist ihr natürlicher Schutzschild. Cleverer Schachzug, Evolution.

Was macht meine Wut mit meinen Kindern?

Schlimmer noch als die Scham ist die Angst davor, was ich damit bei meinen Kindern anrichten könnte. Was mache ich für Menschen aus Ihnen, wenn ich Ihnen vorlebe, so mit Konflikten umzugehen? Wenn ich sehe, wie sie mir beim Mutter-Kind-Spiel den Spiegel vorhalten, wenn die wütende Mutter ihr Kind anschreit, bricht es mir das Herz. 

Und dann traf ich eine Freundin, die mir anvertraute, in was für ein “Monster” sie sich manchmal verwandele, wenn ihre Kinder sie in den Wahnsinn treiben. Ich bin nicht allein. Was für eine Erleichterung.

Es ist in Ordnung, sich zu entschuldigen

Selbstverständlich bedeutet das nicht, dass es ok ist. Ich arbeite jeden Tag daran, es besser zu machen. Ich atme tief durch und versuche mir darüber klar zu werden, woher diese Wut in mir kommt. Und falls es doch passiert, spreche ich danach mit meinen Kindern offen über diese negativen Gefühle und darüber, dass man manchmal von ihnen überwältigt wird. Sie wissen, dass Mama nicht unfehlbar ist und vor allem, dass es in Ordnung ist, sich zu entschuldigen.