Opfer zahlt Hunderttausende an nigerianische Bande

Während dreier Jahre zahlt Mireille fast 300 000 Franken an Betrüger, die sie auf einer Dating-Plattform kontaktiert haben. Ihre Scham ist so gross, dass sie ihre Geschichte nicht einmal ihrer Familie erzählt.

Die Täter arbeiten mit gefälschten Websites von Spitälern, Firmen oder Behörden: Collage aus Chats und Fälschungen, mit denen die Betrüger «Mireille» austricksten.

Illustration Simon Tanner / NZZ

1150 Dollar, 4500 Dollar, 950 Dollar, 11 000 Dollar. Zeile für Zeile hat Mireille Beträge in eine Excel-Tabelle eingetragen. Auf den Cent genau dokumentieren sie ihren finanziellen Untergang. Während fast dreier Jahre hat Mireille freiwillig Geld an einen Mann überwiesen, dem sie nicht ein einziges Mal begegnet ist. 60 Zahlungen hat sie getätigt, so lange, bis 286 974 Dollar weg waren. «Ich setze meine Hoffnung auf den Himmel, dass ich diesen Albtraum überlebe, obwohl ich bankrott, gebrochen und krank bin», notiert Mireille, als sie ganz unten angelangt ist.

Es ist nicht das verlorene Vermögen, das am meisten schmerzt, sondern die verletzte Seele, die sich auch nach Jahren so anfühlt, als sei sie durch den Fleischwolf gedreht worden. So beschreibt es Mireille. Heute lebt sie zurückgezogen in einer Schweizer Kleinstadt, weil Schmerz, Angst und Scham nicht mehr verschwinden. «Denn ich trage eine Geschichte in mir, die ich den Leuten nicht erzählen kann.»

Nicht einmal ihre Familie ahnt, wie sich Mireille via Internet von einer mutmasslich nigerianischen Bande während Jahren betrügen, belügen und abzocken liess. Wann immer sie sich überwand und sich einem vertrauten Menschen gegenüber vorsichtig öffnete, endete es mit Kopfschütteln und Vorwürfen: «Wie konntest du bloss so dumm sein?»

Deshalb sind die Namen in dieser Geschichte, die auf Erzählungen des Opfers sowie auf zahlreichen Dokumenten und Screenshots basieren, gerändert. Die Lebensumstände von Mireille sind verfremdet, und es fehlen die Kalenderdaten.

Wie kann man nur so dumm sein?

Mireille ist keine Frau, der man eine solche Geschichte zutrauen würde: Die knapp 50-jährige Frau ist klug, hat einen anspruchsvollen Job, ist sprachbegabt, kulturell interessiert und wirkt alles andere als naiv. Vor einigen Jahren aber befindet sich Mireille in einer schweren Lebenskrise. Sie wird von ihrem langjährigen Partner betrogen und plötzlich verlassen. Mit der Liebe ihres Lebens verliert sie ihr ganzes Umfeld – ihre «Lebensschnur», wie sie sagt. Zudem pflegt sie ihre an Demenz erkrankte Mutter, die die Tochter in ihrer Verwirrung attackiert, statt Dankbarkeit zu zeigen. Dass es Mireille nach einem Unfall gesundheitlich selber schlecht geht – geschenkt. Es ist sowieso niemand mehr da, der sich um sie kümmern würde.

Wie Mireille «Andrew» kennenlernt

Einzig Andrew nimmt Anteil, ein auf einer US-Militärbasis in Kuwait stationierter amerikanischer Maschineningenieur, den sie eines einsamen Abends auf einer Dating-Plattform kennenlernt. Mireille schreibt ihm von ihren Sorgen und ihrem Schmerz. Er hört ihr zu, tröstet, gibt Zuversicht. Auch er hat, fernab der Heimat, in Mireille eine Frau gefunden hat, die in einsamen Nächten via Whatsapp und E-Mail da ist. «Andrews ruhige Art war schön für mich», sagt Mireille.

Monatelanges Vorgeplänkel: Auszug aus Messenger-Chat.

Monatelanges Vorgeplänkel: Auszug aus Messenger-Chat.

NZZ

Mireille und Andrew chatten immer intensiver. Er wirbt heftig um sie, sie aber bleibt vorsichtig. «I have big plans for us, my love», schreibt er ihr nach einigen Monaten, «very big plans». «Uuuhh», antwortet sie. «Be careful with plans. Let’s drink coffees first.» Bis heute versichert Mireille, niemals in Andrew verliebt gewesen zu sein. Und doch gibt er ihr Halt in ihrem Leben ohne festen Boden. Andrew kann sich in sie einfühlen wie kaum ein Mensch zuvor. Er stützt Mireille und hilft ihr dabei, sich nach ihrer schweren Zeit langsam wieder aufzurichten. Ihm kann sie alles erzählen. Oft unterhalten sich die beiden ganz einfach über Gott und die Welt, so wie es Freunde tun.

Pascal Baumann kennt die Maschen der Betrüger. Er ist Dezernatschef Digitale Kriminalität bei der Kantonspolizei Bern. Seit Jahren beschäftigt er sich mit dem sogenannten «Romance Scam», wie der moderne Beziehungsschwindel via Internet heisst. Die Banden sind mit attraktiv wirkenden, aber gefälschten Profilen auf verschiedenen Plattformen unterwegs. So wie Andrew, der natürlich nicht so heisst und schon gar nichts mit der US-Army am Hut hat. Die Betrüger kontaktieren ihre Opfer und lullen sie so lange mit Zuneigung und Liebesschwüren ein, bis diese anbeissen, sich dem Täter vertrauen und sich vielleicht gar verlieben. In den meisten Fällen sind Frauen die Opfer, doch es gibt auch die umgekehrte Variante.

Während die Betrüger ihre Opfer weichklopfen, beginnen sie gleichzeitig, Informationen zu sammeln. «Die Täterinnen und Täter gehen äusserst professionell und empathisch vor», sagt Baumann. Sie wollen alles über ihr Opfer wissen: Welchen Lebensstandard es hat. Wie die Familienverhältnisse aussehen. Wie gut es Fremdsprachen beherrscht. Ob es an einem Helfersyndrom leidet oder ob es harmoniebedürftig ist. Auch die sozialen Netzwerke werden auf verwertbares Material abgesucht. Mehrere Monate kann diese Aufbauphase andauern, bei Mireille war es über ein halbes Jahr. So wächst eine scheinbar tiefe Beziehung heran. In Wirklichkeit aber entsteht ein dichtes Persönlichkeitsprofil, auf dessen Basis ein massgeschneidertes Drehbuch für den Betrug entwickelt wird. Ziel: das Opfer so lange wie möglich auszunehmen, ohne dass es etwas bemerkt.

«Andrew hat mich besser gekannt als ich mich selber», beschreibt Mireille ihr Gefühl aus dieser Zeit. Fast ein halbes Jahr sind die beiden befreundet, als Andrew erstmals beiläufig von Geld redet. Er wolle in der Schweiz investieren. Mireille sagt, sie kenne sich da nicht aus, und so geht das Thema wieder vergessen. Zwei Monate später teilt Andrew Mireille mit, er habe nun in Indonesien investiert, brauche aber dazu noch ihre Hilfe. Weil sein Arbeitsvertrag in Kuwait unerwartet verlängert worden sei, komme er nicht schnell genug an seine Bankdaten in den USA heran. Er wäre deshalb froh, wenn sie ihm den Betrag für eine Gebühr vorschiessen könnte.

Put my password!

Mireille tut das, was in einer solchen Situation jeder kluge Mensch tun würde: Sie lehnt ab. Doch Andrew scheint darauf vorbereitet zu sein. «Intelligent woman», lobt er sie für ihre Vorsicht. Wieder scheint das Thema Geld vom Tisch. Bis Andrew ein paar Tage später einen neuen Vorschlag bringt. Er schickt ihr den Link seiner angeblichen Bank in Jakarta, eines Ablegers eines auch in der Schweiz bekannten weltweit tätigen Unternehmens. Andrew lotst Mireille zum «customer log-in». «Put my user ID and password», fordert er sie auf. Sie tippt ein. «Tell me what you see», fährt Andrew erwartungsfroh fort.

«Click on Login»: Whatsapp-Chat mit Betrügern.

«Click on Login»: Whatsapp-Chat mit Betrügern.

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Schwarz auf weiss sieht Mireille nun, dass ihre Skepsis unbegründet ist: «Account Balance: US$ 1 500 000.00», heisst es dort. Kontoinhaber, Design der Website, Adresse der Bank – alles scheint perfekt zu stimmen. «Wir stellen immer wieder fest, dass die Täterschaft mit gefälschten Websites von Spitälern, Firmen oder Behörden arbeitet, die so detailliert ausgearbeitet sind, dass der Fake kaum zu erkennen ist», erklärt Cybercrime-Spezialist Baumann. Zur Sicherheit macht Mireille einen Screenshot des Bankauszugs. Und obwohl sie die Probleme von Andrew nachvollziehen kann, stellt sie ihm sechzehn spezifische Fragen zu seiner Investition. Andrew beantwortet alle.

Nach einer Bedenkfrist und liebevollem Betteln von Andrew bezahlt sie den gewünschten Betrag: 1850 Dollar. Viel Geld, aber eine Summe, die Mireille zur Not verschmerzen kann.

Andrew zeigt sich tief dankbar und schreibt, dass ihre Hilfe keine Selbstverständlichkeit sei. Und doch ändert sich ab dem Moment, ab dem Mireille den Betrügern erstmals Geld bezahlt, die Kommunikation schlagartig. Andrew gibt weiterhin den vertrauensvollen Freund. Aber nun entsteht Hektik und stetig wachsender Druck, der bis zum bitteren Ende nie mehr aufhören wird.

Einen Monat später werden plötzlich erneut 1961 Dollar fällig, sonst falle sein Vermögen wegen einer Gesetzesänderung an den indonesischen Staat, wie Andrew klagt. Und weil er beruflich gerade im Stress sei, bittet er Mireille, sie möge doch die Angelegenheit mit seiner Assistentin Cynthia in Indonesien direkt abwickeln.

Andrew weiss, dass Mireille der Kontakt mit «Cynthia» keine Mühe bereiten wird. Sie ist als Disponentin im internationalen Transportgeschäft tätig, sozusagen kampferprobt und den mehrsprachigen Umgang mit Kunden, Behörden und Finanzinstituten gewohnt. Von Cynthia erfährt Mireille kurze Zeit später, dass angeblich ein weiteres Konto auf den Namen von Andrews verstorbener Frau mit 3,5 Millionen Dollar existiere, das ebenfalls an den Staat zu fallen drohe. Neue Gebühren werden fällig.

Das Konto muss zudem auf Andrew überschrieben werden, was wiederum mit Kosten verbunden ist. Auch Andrew reagiert ungehalten auf die immer neuen Forderungen der Bank. Und es tue ihm leid, dass er Mireille in diese Geschichte hineinziehe. Weil sich Andrew gegenüber Cynthia des Öfteren im Ton vergreift, übernimmt Mireille die unangenehmen Angelegenheiten immer häufiger selbst in die Hand. Auf die Idee, dass Cynthia – wie Andrew – frei erfunden ist, kommt sie nicht.

So reiht sich Geschichte an Geschichte, und langsam gewinnt Mireille den Eindruck, dass ihr Freund Andrew Überblick und Kontrolle über sein eigenes Vermögen verloren hat. So wie Andrew ihr in schwieriger Zeit geholfen hat, unterstützt sie nun ihn. Manches kommt ihr zwar merkwürdig vor, doch sie weiss auch, dass die Dinge in anderen Ländern nicht so laufen wie in der Schweiz.

Nach zwei Monaten sind 22 000 Dollar weg

Zweifel hat sie nicht, denn sie telefoniert ja mehrfach mit Andrew. Sogar ein Video-Call findet statt, wobei sie den Mann, der sich als Andrew ausgibt, wegen eines Tonausfalls nicht hören kann. Mireille hat zudem gar keine andere Wahl, als weiterzumachen: Nach zwei Monaten hat sie fast 22 000 Dollar einbezahlt – Geld, das sie unbedingt zurückhaben will.

Psychologen bezeichnen diese Situation als «Sunk-cost-Falle». Es bezeichnet die Tendenz, an einem Projekt festzuhalten, in das man Geld, Arbeit oder Zeit investiert hat, auch wenn die Dinge nicht laufen wie gewünscht: Verliert man beim Geldspiel, zockt man weiter, um wenigstens die Verluste wettzumachen. Nichts hasst der Mensch so sehr wie Verluste – das wissen die Betrüger. Mireille bezahlt weiter. Jeder Betrag ist für sich genommen überschaubar und dient schliesslich auch dem Zweck, die bereits getätigten Zahlungen wieder hereinzuholen. Nach acht Monaten beträgt ihr Minus über 100 000 Franken.

Spiel mit der Angst: Auszug aus Messenger-Chat.

Spiel mit der Angst: Auszug aus Messenger-Chat.

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Immer stärker erhöhen die Betrüger nun den Druck, denn sie haben noch lange nicht genug: Sie inszenieren Andrew als Opfer von Bank und Behörden. Andrew und Cynthia zerstreiten sich angeblich, und Mireille muss vermitteln, um die Beschlagnahmung des Vermögens durch den indonesischen Staat abzuwenden. Sie erhält unzählige Dokumente, die alle täuschend echt und bedrohlich zugleich wirken. Auch Andrew ist nun bei aller Freundschaft angespannt und oft gereizt.

Sein Vermögen muss schliesslich hektisch nach Malaysia transferiert werden, damit es gerettet werden kann. Das alles geschieht unter enormem Druck. Bank und Behörden setzen Andrew und Mireille scheinbar Frist um Frist, oft kommen dringend erwartete Neuigkeiten mitten in der Nacht, so dass Mireille übermüdet ist und physisch an ihre Grenzen kommt. Sie ist heute überzeugt, dass die Betrüger gezielt auf ein Schlafmanko hingearbeitet haben, um ihre Widerstandsfähigkeit zu brechen.

Pascal Baumann von der Berner Kantonspolizei hält dies für plausibel: «Die Betrüger gehen sehr strategisch vor und planen alles bis ins letzte Detail. Sie machen Druck, täuschen, drohen, erpressen. Sie sind auf jede Eventualität vorbereitet. Und sie kennen kein Pardon.» Wenn in Mireille Zweifel aufkeimen, ob das alles stimmen kann, erhöht die Bande den Druck einfach zusätzlich und treibt sie in die Enge.

Gefälschtes Dokument: «Die Betrüger gehen sehr strategisch vor und planen alles bis ins letzte Detail.» (Schwärzungen durch die NZZ)

Gefälschtes Dokument: «Die Betrüger gehen sehr strategisch vor und planen alles bis ins letzte Detail.» (Schwärzungen durch die NZZ)

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So wird ihr Freund angeblich nach Syrien versetzt, er wird krank und landet in einem Militärspital, flüchtet aus Syrien nach Dubai. Immer neue Akteure treten auf, mit denen sich Mireille herumschlagen muss. Die Bewältigung der Geschichte wird mehr und mehr zu ihrem Lebensinhalt. «Die Täter haben mich langsam an einen Punkt gebracht, an dem es kein Zurück mehr gab», beschreibt Mireille ihre Lage: «Ich war vor Angst gelähmt und isoliert und wurde wie ein Tier zu Tode gejagt.»

Lange waren nigerianische Banden in Europa vor allem für ihre plumpen Spam-Mails bekannt. Doch die Betrüger haben ihr Geschäftsmodell sukzessive verfeinert. Wie die Täter organisiert sind, ist nicht ganz klar. Baumann spricht von verschiedenen ausländischen Clans mit einer gewissen hierarchischen Struktur. Der Fall von Mireille zeigt ausserdem, dass mehrere Personen arbeitsteilig am Werk sind. Dass Nigeria als einer der Hotspots gilt, ist kein Zufall: Das Land ist arm, die staatlichen Strukturen sind schwach, die Rechtshilfe klappt oft eher schlecht als recht.

Immer mehr Leute bedrängen Mireille

Ausserdem ist die Amtssprache in Nigeria Englisch, was die Kommunikation mit europäischen Opfern erleichtert. Seit die nigerianische Strafverfolgungsbehörde Economic and Financial Crime Commission (EFCC) jedoch entschiedener gegen Cyberkriminelle vorgeht, verlagert sich das Geschäft zunehmend auch in andere westafrikanische Staaten, zum Beispiel nach Ghana.

Zaghaft sucht Mireille schliesslich Hilfe in der Schweiz: Sie kontaktiert den Schweizer Ableger von Andrews angeblicher Bank. Dort warnt man sie in allgemeiner Form, so schildert es Mireille. Doch man geht nicht auf Details und schon gar nicht auf ihre Not ein, so dass bei Mireille Ratlosigkeit zurückbleibt. Über das Ergebnis solcher Abklärungen werde dem Bittsteller jeweils «in beschränktem Umfang Auskunft erteilt», rechtfertigt die Bank ihre Zurückhaltung später.

Auch ein Hilferuf auf dem Polizeiposten an ihrem Wohnort bringt nichts: Ein älterer Polizist, mit Cybercrime offenbar kaum vertraut, rät ihr lapidar, sie solle halt nichts mehr bezahlen. Ausser Anzeige zu erstatten, könne man nichts tun, und auch das bringe nichts. So bleibt der Druck der Betrüger auf Mireille unverändert bestehen. Das diffuse Gefühl, dass vieles merkwürdig wirkt, führt noch immer nicht zu einem konkreten Verdacht. «Ich bin dann verschämt nach Hause gegangen und weiter in der Falle geblieben.»

Auf dem Höhepunkt im Betrugsfall bewegte sich Mireille scheinbar in fünf Ländern

1

Schweiz: Wohnsitz Opfer

2

Kuwait: Andrews 1. Station

3

Syrien: Andrews 2. Station

4

Dubai: Andrews 3. Station

5

Indonesien: angebliches Konto

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Malaysia: angebliches Konto

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Kalifornien: Andrews angebliche Familie

8

Nigeria: möglicher Sitz der Täter

9

Indonesien: möglicher Sitz der Täter

Immer tiefer wird Mireille in eine verwirrende, angstvolle und fiebrige Scheinwelt manövriert, in ein bedrohliches Universum, das die Täter immer weiter ausschmücken. Auf dem Höhepunkt der Geschichte bewegt sich Mireille virtuell scheinbar in fünf Ländern auf drei Kontinenten und hat mit 22 Akteuren zu tun: mit Geschäftspartnern, Behördenmitgliedern, Anwälten, Militärs. Mit Andrews Verwandten, Freunden und Feinden. Ständig wechseln die Personen ihre Rolle und ihr Auftreten, so dass Mireille nie weiss, wem sie trauen kann und wem nicht.

Auch an sich selber zweifelt Mireille immer mehr. So sehr, dass sie an schlimmen Tagen sogar an Suizid denkt. Alles dreht sich in ihrem Leben nun nur noch um die Katastrophe rund um ihr Geld und um ihren amerikanischen Freund. Sie isoliert sich, spricht mit niemandem mehr und fürchtet sich aus Angst vor immer neuen Hiobsbotschaften sogar vor dem Blick aufs Handy. Sie bezahlt und bezahlt, alleine in der Hoffnung, dass die Tortur endlich aufhört.

Zynisch bis zum Schluss: Auszug aus einem Whatsapp-Chat.

Zynisch bis zum Schluss: Auszug aus einem Whatsapp-Chat.

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Nur einer scheint bis zuletzt fest an ihrer Seite zu stehen und gemeinsam mit ihr gegen die Übermacht des Bösen zu kämpfen: Andrew. «I have lost everything», schreibt ihm Mireille ganz zum Schluss wütend und verzweifelt. Doch auch jetzt offenbaren die Täter ihren perfiden Zynismus: «You have not lost everything. You have me», antwortet Andrew. «You have your money once I get home.»

Mireilles Befreiung kommt paradoxerweise in Form ihres leeren Kontostandes. Drei Jahre nachdem sie mit Andrew ihre ersten Chat-Nachrichten ausgetauscht hat, überweist sie den letzten Betrag. 1500 Dollar an eine Bank in Dubai. Wofür, weiss Mireille nicht mehr. Sie besitzt nun keinen Rappen mehr.

Sie geht zum zweiten Mal zur Polizei. Noch realisiert sie selber nicht, was ihr in den letzten drei Jahren wirklich widerfahren ist. Doch endlich trifft sie auf einen Polizisten, der die Tragweite des Falles erfasst. Er hört sich Mireilles Geschichte in aller Ruhe an und versichert ihr schliesslich, dass der Horror mit ihrer Strafanzeige zu Ende sei. Erst jetzt ahnt Mireille, dass auch Andrew auf der Seite der Täter steht. Es ist, als ob sich die Erde unter ihr ein weiteres Mal öffnet.

Es ist, als ob die Täter ihre Seele geraubt hätten

Noch am selben Tag versucht die Polizei mit Mireilles Hilfe, Andrew mit einer manipulierten Word-Datei in die Falle zu locken und zu lokalisieren, ohne Erfolg. Die Täter kennen die Masche. Mit VPN-Diensten täuschten sie falsche Standorte vor. IP-Adressen deuten später auf Nigeria und Indonesien hin, so heisst es in den Polizeiakten. Die von Andrew verwendete Porträtbilder tauchen unter mehreren Namen auf Online-Plattformen auf. Sie wurden vermutlich auch in anderen Betrugsfällen verwendet.

Bis heute sind sämtliche Versuche, die Täter zu verfolgen, gescheitert. Auch dies passt ins Bild: Die polizeiliche Kriminalstatistik der Schweiz verzeichnet für 2021 776 angezeigte Fälle von «Romance Scam», nur 12 Prozent wurden aufgeklärt. Für Mireille ist deshalb nicht verständlich, weshalb in ihrem Fall kein Rechtshilfegesuch gestellt wurde.

Bis heute sind sämtliche Versuche, die Täter zu verfolgen, gescheitert: Auszug aus der Sistierungsverfügung der Polizei.

Bis heute sind sämtliche Versuche, die Täter zu verfolgen, gescheitert: Auszug aus der Sistierungsverfügung der Polizei.

NZZ

Auch vom Geld fehlt jede Spur. Die Polizei vermutet, dass Mireille ihr Geld auf Konten von sogenannten Money-Mules einbezahlt hat, Geldboten, die im Auftrag der Banden handeln: Diese heben die Beträge nach Eingang unverzüglich in bar ab und leiten sie mithilfe von Bargeld-Transfer-Services wie Western Union an ihnen unbekannte Geldempfänger im Ausland weiter. So verläuft auch die Spur von Mireilles Geld im Sand. Schon bald blockiert Andrew Mireille auf Whatsapp. Das Ermittlungsverfahren wird eingestellt.

Hier könnte die Geschichte zu Ende sein.

Doch für Mireille ist sie nicht zu Ende. Ihre Welt bleibt düster, und sie sieht keine Perspektive. Ihr Erspartes, das sie sich während 30 Jahren erarbeitet hat, ist unwiederbringlich weg. Nach und nach erkennt Mireille, dass ein grosser Teil ihres Lebens während mehr als dreier Jahre auf Unwahrheiten und Betrügereien gebaut war. Nicht nur ihre Angst basierte auf Lügen, sondern auch die scheinbar vertrauenswürdige Zeit mit Andrew, als er ihr mit viel Zuneigung aus der Krise half. Nichts davon gilt noch. Nichts gibt es mehr, auf das sich Mireille abstützen kann, ausser auf die Gewissheit, während Jahren in Angst versetzt, betrogen, gedemütigt und in besonderer Weise missbraucht worden zu sein. Mireille schämt sich selbst endlos dafür, dass sie in die Falle getappt ist, so sehr, dass sie weiterhin mit kaum jemandem darüber spricht. Mit Mireilles Geld haben die Täter auch ihre Seele geraubt.

«Viele Menschen können kaum verstehen, wie sehr solche Betrüger ihre Opfer auf allen Ebenen ausbeuten, finanziell, psychisch und emotional», erklärt Cybercrime-Spezialist Pascal Baumann. Viele von ihnen – auch Mireille – benötigen danach psychologische Unterstützung. Oft werden die Opfer von ihren Mitmenschen als naiv wahrgenommen, und es wird ihnen wenig Verständnis entgegengebracht. Auf diese Weise würden sie erneut gedemütigt, erklärt Baumann. Er hält dies für fatal: «Man darf Opfer von Verbrechen niemals zu Mitverantwortlichen machen.»

Sosehr es Mireille zu wünschen wäre, dass sie sich eines Tages von dieser Geschichte lossagen kann – sie selber sieht auch zwei Jahre später kein Licht am Ende des Tunnels. Bis heute dreht sich jeder zweite Gedanke um die bitteren Geschehnisse von damals, wie sie sagt: «Ich habe die Zuversicht verloren, dass es irgendwann doch noch gut kommen kann.»

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