Paar mit verschiedenen Religionen: Weil es sich lohnt, Hoffnung zu haben

Wie Judentum und Islam zusammengehen? Problemlos, sagen die Publizistin Saba-Nur Cheema, Muslimin, und der Pädagoge Meron Mendel, Jude. Sie teilen ihr Leben und ihr Ziel: mit Argumenten gegen Vorurteile zu kämpfen.

Der 7. Oktober 2023 begann für Meron Mendel unbeschwert. Er spazierte nach dem Frühstück mit seinem zweijährigen Sohn zum Spielplatz; Saba, wie er seine Frau nennt, sollte ein paar Stunden Ruhe haben. Sie saß gemütlich auf dem Bett und guckte in den sozialen Medien herum, als sie plötzlich Bilder von Menschen sah, die vom Super Nova Festival in Israel zu fliehen versuchten. Sie rief ihren Mann an. Der sagte: “Ich habe auch Informationen gekriegt.”

Die Wochen nach dem Terroranschlag verbrachten sie wie im Nebel

Die folgenden beiden Wochen, werden sie erzählen, verbrachten sie wie im Nebel, sie wussten die Tage und die Uhrzeit nicht mehr, schafften es nur mit aller Mühe, für den kleinen Sohn da zu sein. Saba-Nur Cheemas Familie brachte Töpfe mit pakistanischem Essen. Noch nie war ihnen der Terror so nah gerückt. Die Schwester von Meron Mendels bestem Freund und ihr Mann – ermordet. Deren 16-jähriger Sohn hatte unter dem Körper seiner Mutter überlebt. Menschen, deren Angehörige Meron Mendel gut kennt, wurden getötet, verschleppt. Sein jüngster Bruder wurde nach dem Massaker als Soldat eingezogen. Zur persönlichen Tragödie kam für ihn und Saba-Nur Cheema das Entsetzen, was politisch folgen würde.

Als Treffpunkt haben die beiden ein türkisch-kurdisches Restaurant in der Frankfurter Innenstadt ausgesucht, ein beliebter Selbstbedienungsladen, doch am Vormittag ist hier noch wenig los. Er kommt zuerst, wirkt blass und abgehetzt, sie kommt später nach, die Bahn hatte Verspätung. Vor dem 7. Oktober hatten sie schon gut gefüllte Terminpläne mit Vorträgen, Podcasts und Diskussionsveranstaltungen zu Rassismus und Verständigung, zum Nahen Osten und dem neuen Rechtsextremismus. Jetzt bekommen sie jeden Tag Post, Einladungen, Aufträge, sprechen als Expert:innen für Israel (er) und Rassismus (sie) an der Hochschule in Frankfurt, diskutieren im Schauspielhaus in Düsseldorf und im Literaturhaus in Berlin, schreiben Artikel und Analysen, mal gemeinsam, mal einzeln. Die beiden werden bald Eltern ihres zweiten Kindes, Saba-Nur Cheema weiß, sie muss jetzt aufpassen, sich nicht zu überfordern.

Ihr Blick auf die Welt ist ähnlich

Aber wenn sie da sind, sind sie wirklich da. Freundlich zugewandt und präsent. Wenn sie erzählen, dann ist es, als würden sie gemeinsam einen Zopf flechten. Sie, er, sie, er, sie, er. Sie mit einem sanften hessischen Einschlag, er, der erst mit 25 Jahren Deutsch gelernt hat, mit hebräischem Akzent. Ab und zu fragt er in ihr Erzählen hinein: “Wirklich?”, oder sie sagt: “Meron, das war doch etwas anders …”.

So verschieden die Kulturen sind, aus denen sie kommen, so ähnlich ist ihr Blick auf die Welt. Saba-Nur Cheema, geboren 1987, wuchs mit drei Geschwistern in Frankfurt auf. Ihr Vater, in den 70er-Jahren aus Pakistan geflüchtet, arbeitete in einer Großbäckerei am Fließband, ihre Mutter, die in Pakistan Lehrerin war, war mit der ältesten Tochter zwei Jahre nach ihm gekommen. Ihre Eltern gehören der in Pakistan verfolgten, religiösen Minderheit der Ahmadiyya an; Religion spielte eine große Rolle in der Familie, Saba verbrachte viel Zeit in der Moschee. Sie früh politisch interessiert, machte mit 15 ein Praktikum in der Bildungsstätte Anne Frank, studierte Politik, Geschichte und Volkswirtschaft, vertiefte sich in das Thema Rassismus, entwickelte ein Anti-Rassismus-Training, später übernahm sie an der Bildungsstätte die Leitung des pädagogischen Programms.

2010 kam Meron Mendel als Direktor an die Bildungseinrichtung, die überparteilich und religiös unabhängig über Anne Franks Leben informiert und Beratungen zu Diskriminierung und Gewalt anbietet. Er war damals 34, Vater von zwei Kindern, hatte in Haifa und München Geschichte studiert und in Frankfurt in Erziehungswissenschaften promoviert. Aus der kleinen Einrichtung, die dem Geburtsort des berühmten jüdischen Mädchens und Opfers der Nationalsozialisten gewidmet war, machte Meron Mendel eine international vernetzte Institution. Seine Stimme hatte bald Gewicht, wenn es um das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel ging. Sein 2023 erschienenes Buch “Über Israel reden” wurde zum Bestseller.

Auch ihre Kinder sollen offen für alle Religionen sein

Saba-Nur Cheema und Meron Mendel waren sich 2010 in der Bildungsstätte begegnet, arbeiten seit 2013, als sie dort eine Festanstellung bekam, eng zusammen – und wurden 2018 ein Paar. Da es für sie beide zur Lebensaufgabe geworden war, sich für Verständigung und Offenheit einzusetzen, stellte ihr jüdischer und muslimischer Hintergrund für sie kein Hindernis dar. Ihre Familien empfanden das anders. “Die haben erst mal keine Luftsprünge gemacht”, berichtet Cheema trocken. Für sie und Meron sei klar gewesen, “dass uns niemand an unseren Plänen hindern wird”. Doch die Vorbehalte waren zunächst erheblich, beide Familien ließen durchblicken, der jeweils anderen Kultur sei “alles zuzutrauen”, sogar dieser Satz sei in Cheemas Kreisen gefallen: “Na, so wirst du wenigstens immer Geld haben.”

Sie heirateten 2020. Inzwischen, so klingt es, führen alle zusammen eine große, religionsunabhängige, herzliche bis überschwängliche Beziehung. “Es ist wie im Bilderbuch”, sagt Cheema, “alle mögen sich sehr.” Sie war 2022 mit ihrer Mutter und ohne Meron bei seiner Familie in Israel. Und wenn Meron ohne sie bei ihren Eltern, die in Frankfurt leben, mit ihrem Sohn zu Besuch ist, dann, sagt Cheema, schwärme ihre Mutter später “von jeder Minute, die sie zusammen verbracht haben”.

Sie werden, wo immer sie sind, gefragt, wie sie denn Judentum und Islam zusammen bekommen. Problemlos, sagen beide. Sie feiern die jüdischen und die muslimischen Feste, Jom Kippur und Chanukka, Opferfest und Zuckerfest, sie bezeichnet sich als “eine gläubigere Muslima, als er ein gläubiger Jude ist”, woraufhin er eher spaßhaft einwirft: “Wirklich?”, und sie antwortet: “Ja, schon.” Sie betet täglich, er nicht, sie hält den Fastenmonat Ramadan ein, ernährt sich halal, er nimmt es nicht so genau damit, ob etwas koscher zubereitet wurde. Ihre Kinder wollen sie offen für alle Religionen und Kulturen aufziehen. Auch sprachlich sollen sie mit weitem Horizont aufwachsen. Schon jetzt wechselt ihr Sohn mit seinem kleinen Wortschatz die Sprache je nach Gegenüber. “Zur Kindergärtnerin sagt er Elefant”, berichtet Saba. Und, damit keine Missverständnisse aufkommen: “Also, ich meine, zu ihr sagt er das auf Deutsch, zu uns in unseren Sprachen.”

Als Familie diskutieren, verstehen – und vor allem miteinander lachen

Ihr Lieblingsplatz, erzählen sie, ist der Esszimmertisch und manchmal auch das Sofa in ihrer Vier-Zimmer-Wohnung in der Frankfurter Innenstadt. Da reden sie stundenlang. Sie lieben es zu diskutieren, zu beleuchten, zu verstehen. Und: zu lachen. Mendel sagt: “Kein Mensch bringt mich so sehr zum Lachen wie Saba.” Sie schaffe es, auch zu Ärgerlichem humorvolle Distanz zu schaffen.

Das Ergebnis ihrer Privatdebatten fließt seit 2021 in eine Kolumne ein, die in der “FAZ” erscheint und “Muslimisch-jüdisches Abendbrot” heißt. Es sind geistreiche, oft lakonische Texte, in denen es um ihre Familien geht, darum, welche Traditionen man pflegt, um tragisch-komische Erinnerungen. Diese Gedanken erscheinen am 05.09.2024 in ihrem gemeinsamen Buch mit dem gleichnamigen Titel “Muslimisch-jüdisches Abendbrot“.

Beide bekommen sehr viele Reaktionen auf alles, was sie äußern, und oft handelt es sich um, sehr freundlich ausgedrückt: Kritik und Vorurteile. Saba-Nur Cheema wurde 2020 nach dem Terroranschlag in Hanau in einen Expertenkreis des Innenministeriums berufen, der Bericht “Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz” wurde im Juni 2023 vorgestellt. Wenn sie irgendwo über die ziemlich niederschmetternden Ergebnisse berichtet, ist fest mit Abwehr und Abwertung zu rechnen. Zum Beispiel, als sie im Juli 2023 im Videoformat “Jung und naiv” über antimuslimischen Rassismus sprach. Sie sagte dabei Sätze wie: “Warum sollte ich etwas dagegen haben, wenn eine Frau freiwillig ein Kopftuch trägt?” Noch nie habe es so viel Unflätiges in den parallel laufenden Chats gegeben, wurde ihr anschließend mitgeteilt, offenkundig empfanden einige es bereits als Anmaßung, dass sie als Muslima Nicht-Muslime dazu aufforderte, die eigenen Vorurteile zu überdenken.

Hass und Hetze: Manchmal haben die beiden Angst umeinander

Auch Meron Mendel ist Hass und Hetze gewohnt – es gelinge ihm gut, das meiste abprallen zu lassen oder gar nicht erst zu lesen. Manchmal leitet er auch rechtliche Schritte ein. Erika Steinbach, Mitglied der AfD, hat er 2019 durch drei Instanzen verklagt – sie hatte ihm auf ihren Social-Media-Kanälen unterstellt, er habe ihr gegenüber eine Person aus der Gruppierung “Juden in der AfD” mit einem Nazi-Verbrecher verglichen.

Dass Meron und Saba sich Sorgen um die Unversehrtheit des anderen machen, kommt trotz allem selten vor. Sie sagen übereinander: “Saba ist unglaublich stark.” Und: “Meron ist nicht emotional – zumindest beruflich.”

In Alarm geraten sie nur, wenn es persönlich und bedrohlich wird. Einmal war Saba-Nur Cheema in einer Regionalbahn unterwegs, ein Skinhead nahm ihr gegenüber Platz, pöbelte sie an, sie gehöre hier nicht hin. Es kam ihr niemand zu Hilfe, sogar der Schaffner hielt sich raus. Sie stand auf, nahm so viel Abstand wie möglich, rief Meron an. Das Gefühl von Ohnmacht, erinnert er sich, die Angst um sie war schrecklich.

Die Sehnsucht nach Versöhnung

An ein ähnliches Gefühl lähmender Ohnmacht erinnert sie sich, als Meron sechs Wochen nach dem Massaker nach Israel reiste. Als er in Tel Aviv ankam, fielen Bomben. Ständig fielen Bomben. Die Angst, es könnte ihm etwas passieren, war immens – “es war ja alles vollkommen unsicher”; sie fühlte mit, was er emotional durchmachte, als er die Orte des Terrors aufsuchte, die traumatisierten, trauernden Menschen traf. Meron und Saba telefonierten in den zehn Tagen, in denen er dort war, sehr viel. Als sie davon sprechen, rückt sie nah an ihn heran. “Er hat mir erzählt: Saba, ich habe so sehr geweint. Dreimal an diesem Tag”, sagt sie. So etwas hätte es in ihren früheren Gesprächen nie gegeben.

Bei den vielen Veranstaltungen, auf denen sie sprechen, gibt es meist zwei Lager – das eine solidarisiert sich mit den Palästinenser:innen, das andere mit Israel. Mendel sagt: “Manchmal kommt es mir vor wie im Fußballstadion. Jeder glaubt, er gehöre zur richtigen Seite, alles dazwischen interessiert nicht.” Besonders schwer zu ertragen ist es für Mendel, wenn der Terror der Hamas als eine Art logische Reaktion auf die Siedlungspolitik Israels interpretiert wird, es entsetzt ihn, dass auch politisch gebildete Menschen nicht differenzieren können – oder wollen. “Es waren auch eigentlich kluge Leute, die zu mir sagten: ,Ich sage dazu lieber nichts, das muss man im gesamten Kontext sehen‘”, sagt er; sie hätten damit ausgedrückt, Israel habe irgendwie doch selbst schuld an dem, was passierte. Es ist ein Punkt, da wirkt Meron Mendel angeschlagen, seine Stimme klingt dünn. Saba-Nur Cheema legt ihm die Hand auf den Arm. Sie atmet tief ein, als wollte sie jetzt ein bisschen für ihn mitatmen.

Mendel lässt keinen Zweifel daran, dass er die rechtsextreme Regierung Netanjahus für die “schlimmste Regierung hält, die Israel je hatte”, und die Siedlungspolitik im Westjordanland für ein Desaster, den Krieg im Gazastreifen für eine “humanitäre Katastrophe” ohne jeden Plan für den “Tag danach”. Er wünscht sich einen eigenen Staat Palästina mit einer gemäßigten Regierung; alle seine Freunde, berichtet er, seien unermüdlich auf den Straßen gewesen, um gegen Netanjahu und seine Pläne zu protestieren. Sogar jetzt, im Angesicht des Horrors, der zunichtegemachten Friedensbemühungen und unfähigen Regierung Netanjahus, könnten sich in Israel “von unten nach oben”, aus der starken Zivilgesellschaft heraus, neue und noch viel stärkere Initiativen zur Versöhnung entwickeln, sagt Mendel. Er zitiert David Ben-Gurion, den ersten Ministerpräsidenten Israels: “Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.”

Saba-Nur Cheema nickt sanft, es ist ein Kalenderspruch und zugleich viel mehr, sie schweigen, schauen auf eine Gruppe junger Mittagsgäste, die plaudernd ihre Pides und Böreks durch den Raum tragen. Sie wirken sehr entschieden, Realisten zu sein.

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Die Bildungsstätte Anne Frank: Ein Ort, der Fragen stellt

Gegründet 1994 in Frankfurt, will die aus öffentlichen Geldern und Spenden finanzierte Einrichtung im Sinne Anne Franks über Antisemitismus, Rassismus und Ausgrenzung aufklären. Sie wendet sich an Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte, Pädagogen und begleitet Firmen, Vereine, Schulen bei Fragen zum Umgang mit Diskriminierung oder Rechtspopulismus. Mendel leitet die Einrichtung mit der Psychologie-Professorin Deborah Schnabel.

Nina Poelchau ist Autorin und außerdem Paartherapeutin in Wolfegg im Allgäu. Bei diesem Paar fiel ihr auf: Sobald der eine über etwas emotional Schwieriges sprach, nahm die andere Körperkontakt auf, legte ihm die Hand auf den Arm, den Arm um die Schulter oder rückte ganz nah an ihn heran.

© Philipp von Ditfurth

Brigitte

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