Psychologie: Dieses Wort kann helfen, mit dir selbst ins Reine zu kommen

Selbstverständnis
Ein Wort kann dir dabei helfen, mit dir selbst ins Reine zu kommen

© Davide Angelini / Adobe Stock

Sich selbst verstehen und Frieden mit sich schließen – klingt das nicht schön? Welches Wort dabei helfen kann, liest du hier.

Viele Menschen leben mit gewissen Mustern und Gewohnheiten, die sie selbst als problematisch empfinden. Die eine isst literweise Schokoeis, wenn sie gestresst ist. Der andere stellt sich jeden Morgen als erstes auf die Waage. Manche Personen reagieren passiv-aggressiv auf eine harmlose Frage und hassen sich dafür hinterher oder können die Wohnung nicht verlassen, ohne dreimal geprüft zu haben, ob der Herd ausgeschaltet und der Kühlschrank richtig verschlossen ist. Und bei einigen Menschen entwickeln sich aus problematischen Mustern psychische Störungen: Sie hungern, schneiden sich mit einer Rasierklinge in Arme und Beine, überessen sich regelmäßig und übergeben sich danach vielleicht, sperren sich in ihrer Wohnung ein oder waschen sich die Hände, bis ihre Haut sich pellt. 

So verschieden die Muster sind, mit denen Menschen leben, und so unterschiedlich groß der daraus resultierende Leidensdruck und die Notwendigkeit, sich damit auseinanderzusetzen: Eine wichtige Grundlage, um sich davon zu lösen und freier zu werden, ist in der Regel, sich mit sich selbst zu verbünden und das eigene Verhalten zu versuchen, zu verstehen. Während die meisten dazu auf Anhieb die Frage stellen “Warum verhalte ich mich so und so und kann es einfach nicht lassen?”, kann ein anderes Wort in diesem Zusammenhang zum Teil noch wertvollere Erkenntnisse und Ansatzpunkte liefern – und zwar das Wort “Wozu?”. 

Systemische Therapie: Wir sind Teil eines sozialen Gefüges

In der Folge “Du bist mehr als Du” aus dem Podcast “Betreutes Fühlen” mit Atze Schröder und Doktor Leon Windscheid sprechen die beiden unter anderem mit Professor Doktor Björn Enno Hermans, einem Experten im Gebiet der Systemischen Therapie. Bei diesem Ansatz, der seit 2020 als vierte Therapieform von den gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland anerkannt und gefördert wird, spielt die Grundannahme eine große Rolle, dass jeder Mensch mit seinem Verhalten auf das System reagiert, in das er als Individuum eingebunden ist – zum Beispiel auf die Familie, die Klassengemeinschaft, die Nachbarschaft, das Team, in dem er arbeitet, die Kultur und Gesellschaft, der er angehört. Als soziale Wesen haben wir ein großes Interesse daran, uns jeweils in das für uns relevanteste System einzufinden und darin zu überleben, und unser Handeln, Denken und Fühlen ist in hohem Maße von diesem Interesse geprägt

Den meisten Menschen gelingt es sehr gut, sich in ihr System oder ihre Systeme zu integrieren und darin zu leben – wie wir sehen: Die Entwicklung der Menschheit auf der Erde ist aus biologischer und menschlicher Sicht ein Erfolg. Da es aber nicht immer ganz leicht ist, diese Integration hundertprozentig geschmeidig zu schaffen – schließlich sprechen wir hier über den Spagat zwischen so etwas wie persönlicher Abgrenzung und sozialer Teilhabe, Einzigartigkeit und Gemeinsamkeit –, behelfen sich viele Menschen unter bestimmten Bedingungen mit Strategien, die sich irgendwann als nicht nachhaltig herausstellen. Manchmal ist das dann für die Betreffenden keine große Sache, manchmal schon.

Zum Beispiel könnte eine Person, die sich von den Zielen und Ansprüchen überfordert fühlt, mit denen sie in ihrem System konfrontiert ist, feststellen, dass der von ihr empfundene Druck nachlässt, wenn sie am Abend einen Liter Schokoeis verputzt – oder sich in den Arm schneidet. Dann hilft ihr die entsprechende Handlung in dem Moment, mit ihrem Gefühl der Überforderung umzugehen. Sie dient einem Zweck, und zwar dem, sich mit den an sie gestellten Zielen und Ansprüchen, mit ihren Lebensbedingungen, zu arrangieren. Sicher wäre es wünschenswert, dass ihr ein anderes nachhaltigeres und gesünderes Mittel zur Verfügung stünde, doch wenn das nicht der Fall ist, muss sie eben improvisieren. Und Improvisieren liefert nicht immer sofort die optimalen Lösungen. Aber es liefert eine – für den Moment, in dem es einer bedarf.

Unser Handeln dient einem Wozu

Nun ist die entscheidende Erkenntnis, die in der Systemischen Therapie in hohem Maße berücksichtigt ist, aber gewiss auch in andere Ansätze einfließt, folgende: Unsere Verhaltensweisen – einschließlich problematischer Muster bis hin zu psychischen Störungen – erfüllen eine Funktion und haben einen Sinn. Oder zumindest galt dies in der Vergangenheit einmal. Wir sind nicht aus purer Dummheit oder Inkompetenz irgendwo falsch abgebogen, sondern konnten zu einem bestimmten Zeitpunkt unter den bestehenden Voraussetzungen und mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln keinen anderen oder besseren Weg gehen. Stellen wir zu einem späteren Zeitpunkt fest, dass uns bestimmte Verhaltensweisen nicht weiter führen oder an einen Abgrund gebracht haben, ist ein kluges und vielversprechendes Vorgehen, um eine Alternative dafür zu finden, herauszubekommen zu versuchen, was wir damit bezwecken – oder einmal bezweckt haben. Also uns zu fragen: “Wozu?” 

Zwar ist diese Frage ein erster Schritt von vielen, die noch folgen müssen, wenn wir uns und unser Verhalten ändern möchten. Doch abgesehen davon, dass sie wertvolle Einsichten und Ansatzpunkte liefern kann, enthält sie eine schöne Prämisse: Sie unterstellt – zu recht –, dass wir kompetente, lebensfähige Wesen sind, die Lösungen suchen und finden können und denen ihr Leben nicht bloß zufälligerweise oder aus bestimmten Gründen passiert. Wir können schwierige Situationen bewältigen und aus eigener Kraft überleben. Fein, wir finden nicht für jedes Problem sofort die Ideallösung und manchmal brauchen wir später eben Hilfe, um eine andere zu finden und von unserer improvisierten Lösung ablassen zu können. Aber allein die Erkenntnis, dass wir mit einer bestimmten Strategie an eine Grenze gestoßen sind und nun gegebenenfalls Unterstützung brauchen, ist schon der Beweis, dass wir dazu in der Lage sind, einen besseren Weg zu finden – schließlich haben wir den ersten Schritt darauf bereits getan. 

Verwendete Quellen: Betreutes Fühlen, Folge “Du bist mehr als Du”, 16. August 2022, dgsf.org

Brigitte

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