Reisners Blick auf die Front: “Die Ukraine hat hier sehr interessant reagiert”

Erneut greift die Ukraine für die Russen wichtige Brücken zur Krim an. Die Schäden sind laut dem österreichischen Oberst Markus Reisner aber nicht groß genug, um die Nachschublinien nachhaltig zu stören. Dafür fehle es der Ukraine an den passenden Waffen, sagt der Militärexperte im wöchentlichen Interview. Die Rakete vom Typ Storm Shadow sei für einen solchen Einsatz nicht vorgesehen. Trotzdem versuche die Ukraine das Momentum aufrecht zu erhalten und habe beispielsweise beim Getreideabkommen, das die Russen aufgekündigt haben, sehr interessant reagiert, so Reisner.

ntv.de: Im Osten der Ukraine wurden für heute über 30 Grad Celsius gemeldet, in Bachmut waren es sogar bis zu 37 Grad. Ist es für die Soldaten überhaupt möglich, unter dieser Hitze Angriffe wie gewohnt auszuführen?

Jeden Montag beantwortet Oberst Markus Reisner bei ntv.de Fragen zur aktuellen Lage in der Ukraine. Er ist Militärhistoriker, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wien sowie Kommandant des österreichischen Gardebataillons. Seit Beginn der russischen Invasion analysiert er den Krieg in der Ukraine.

(Foto: privat)

Markus Reisner: Das Herausfordernde daran ist das Gewicht der modernen Schutzausrüstung, die den Soldaten heutzutage zur Verfügung steht. Vor allem die angreifenden Soldaten auf ukrainischer Seite sind durch ballistischen Schutz, die mitzuführende Munition, und Kampfmittel mit relativ viel Gewicht belastet. Ein Kampf bei derartigen Temperaturen wirkt deshalb sehr zermürbend auf die eigene Leistung und die Erschöpfung ist rasch da. Ein ukrainischer Sanitäter hat letztens in einem Interview mit einem US-Medium gesagt, dass sie mittlerweile mehr Ausfälle aufgrund der Hitze haben, beispielsweise durch Dehydrierung oder Hitzeschlag, als durch Waffeneinwirkung.

Schafft es die Ukraine, immer genug Trinkwasser an die Front zu transportieren?

Oft ist das nicht so ein großes Problem, weil die Ukraine im Osten durch sehr viele Flüsse durchzogen ist und die Qualität des Wassers dort nicht schlecht ist. Nicht vergleichbar mit einem Kampf zum Beispiel in der Wüste. Ein Problem wird daraus dann, wenn Soldaten unter Dauerbeschuss stehen und sich zum Beispiel aus einem Schützengraben nicht wegbewegen können. Sie dort mit Wasser zu versorgen ist oft eine Herausforderung. In Bachmut testen Soldaten deshalb gerade mit Hilfe von Drohnen, Wasserflaschen zu den Soldaten an die Front zu fliegen. Aber nicht nur die Soldaten leiden unter der Hitze, auch die Kampfhandlungen sind eingeschränkt.

Inwiefern?

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Drohnen mit Trinkwasserflaschen sollen Soldaten bei der Hitze in Bachmut erreichen.

(Foto: picture alliance / AA)

Die hohen Temperaturen heizen den Boden auf und die Hitze wird nach oben abgegeben. Das führt nicht nur zu Gewittern, sondern beeinträchtigt auch die Beobachtungsmöglichkeiten. Wärmebildgeräte zum Beispiel oder auch der Einsatz von Drohnen werden dadurch gestört. Panzerabwehrlenkwaffensysteme zum Beispiel haben Wärmebildkameras, die auf eine sehr große Distanz beobachten, indem sie eine Wärmequelle aufnehmen. Bei extremer Hitze wird diese Distanz verringert, weil die Umgebung um das Ziel und der Boden auch aufgeheizt sind und Wärme abstrahlen. Das kann die Beobachtung erheblich erschweren.

Die Soldaten kämpfen oft in sehr flachem Land mit wenig Schutz von Bäumen. Sie sind deswegen der Sonne auch schutzlos ausgeliefert, oder?

Ja, die Gebiete in denen gekämpft wird, sind sehr flach. Man kann das in etwa mit Mitteldeutschland vergleichen, in der Gegend südlich von Magdeburg. Das Gelände ist im Wesentlichen strukturiert in Getreidefelder. Die sind etwa 1,5 lang und zwei Kilometer breit und haben an den Randlinien sogenannte Windschutzgürtel, also Baumreihen. Die Schützengräben sind genau in diesen Baumreihen untergebracht, weil sie so aus der Luft nicht erkennbar sind. Das ist die positivere Nachricht, denn die Soldaten sind unter diesen Blättern nicht nur getarnt, sondern auch von der Sonne geschützt. Problematisch wird es nur, wenn sie in einer Baumreihe isoliert sind, weil sie aufgrund von russischem Beschuss sich nicht von dort wegbewegen können und dort dann keine Bäche vorbeifließen. Dann ist die Wasserversorgung die Herausforderung.

Sprechen wir über die Angriffe auf die Brücken zur Krim. Die stellen laut dem Institute for the Study of War (ISW) eine erhebliche Störung in der Logistik für die Russen dar. Sind sie dadurch gezwungen, längere Umwege bei den Versorgungslinien von Waffen und Munition in Kauf zu nehmen?

Ja, denn die Krim ist in Richtung Norden zum Großteil durch Gewässer vom Festland abgegrenzt und es gibt nur wenige Stellen, wo man die Krim erreichen beziehungsweise verlassen kann. Die Krim ist für Russland ein großer Stützpunkt, nicht nur der Flotte, sondern ist auch für die Landstreitkräfte ein großes Lager von Rüstungsgütern. Von dort wird in Richtung Cherson oder Saporischschja immer wieder Material an die Front gebracht, was die Ukraine mit den Angriffen versucht zu unterbrechen. Allerdings versprechen die Schäden, wie sie bis jetzt zu sehen sind, nur zum Teil einen Erfolg.

Warum?

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Trümmerteile der abgestürzten Storm Shadow bei den Angriffen auf die Tschongar-Brücke zur Krim.

(Foto: Telegram)

Für die Angriffe wurden britische Raketen vom Typ Storm Shadow verwendet und auch die französische Scalp. Diese Waffen sind entwickelt worden, um Bunker anzugreifen. Das heißt, sie sind dafür vorgesehen, durch die Art und Weise des Gefechtskopfs, tief in die Erde einzudringen und dort Bunkerwände zu durchschlagen. Es ist aber nicht eine perfekte Waffe, um beispielsweise eine Brücke anzugreifen. Das sieht man auch an den Bildern. Die eine Brücke wurde schwerer beschädigt, aber in der anderen Brücke ist in der Mitte sehr präzise einfach nur ein rundes Loch. Das ist das typische Ergebnis von so einer Rakete. Dieses Loch kann man aber relativ leicht wieder instand setzen. Man müsste stattdessen die sogenannten Widerlager der Brücke angreifen, also die Brückenpfeiler, auf denen die Brückenstraße liegt. Dafür müsste man aber andere Waffen einsetzen. Die Ukraine hat nur die bunkerbrechenden, die Großbritannien und Frankreich zugesagt haben.

Welche Raketen wären besser für den Angriff auf die Brücken geeignet gewesen?

Die Amerikaner haben zum Beispiel die GBU-24 Paveway III. Das ist eine sogenannte lasergelenkte Bombe. Das heißt, man beleuchtet den Zielpunkt mit Laser, entweder von einem Flugzeug aus oder von Bodenkräften. Dann feuert man die Rakete ab, die sehr zielgenau diese beleuchtete Stelle trifft. Storm Shadow oder Scalp fliegen alle mit GPS-Koordinaten. Die sind zwar sehr präzise, können aber, wenn sie nicht perfekt treffen, nicht so eine große Zerstörung erzielen, weil sie eben nicht dafür gemacht sind. Die Europäer haben also nur eingeschränkte Mittel, und die Amerikaner, die diese Waffen hätten, liefern sie nicht. Das liegt wahrscheinlich daran, dass die Su-24M-Flugzeuge, die die Ukraine umgerüstet hat, zwar jetzt mit dem Storm Shadow zusammenpassen, aber nicht die GBU 24 tragen können. Nicht jede Bombe passt an jedes Flugzeug. Die F-16 könnte wiederum eine GBU-24 tragen.

Warum können die Russen die Raketenangriffe der Ukraine nicht besser abwehren?

Offensichtlich haben sie auf der Krim immer noch zu wenig Flugabwehr zur Verfügung, um sich gegen diese Angriffe überall gleichzeitig zu wehren. Das Gebiet dort ist zudem sehr groß. Auf der anderen Seite ist das Problem, dass die Ukraine auch zu wenige Flugzeuge hat, um dieses Defizit der Russen ausnützen zu können und massiv anzugreifen. Meistens ist es so, dass ein oder zwei Su-24 starten. Sie haben entweder zwei oder vier Flugkörper unter den Tragflächen und können dann auch nur ein oder zwei Ziele angreifen. Bei den Angriffen auf die Tschongar-Brücken können wir davon ausgehen, dass vermutlich zwei Flugzeuge beide Brücken angegriffen haben und es jeweils zwei Einschläge gab. Die Russen behaupten, dass jede Brücke von vier Raketen angegriffen worden ist, zu sehen sind aber nur zwei Einschläge: Den exakten Einschlag auf der Brücke und unmittelbar neben der Brücke einen weiteren Treffer. Der Einschlag neben der Brücke ist übrigens sehr interessant.

Weshalb?

Es könnte darauf hindeuten, dass die Russen bereits Störsysteme vor Ort haben und die Rakete im Zielanflug gestört worden und darum neben der Brücke eingeschlagen ist. Die Trümmerteile bestätigen das. Man sieht noch den Sprengkopf, was zeigt, dass die Rakete nicht wie beabsichtigt das Ziel getroffen hat. Die Trümmer sind zudem eindeutig einer Storm Shadow zuzuordnen.

In den letzten 24 Stunden haben die ukrainischen Streitkräfte eigenen Angaben zufolge russische Artilleriesysteme an der Südfront zerstört. Versucht die Ukraine mit den Angriffen auf Artillerie und Nachschubrouten den Nachteil an der Front auszugleichen, dass sie aufgrund von Minenfeldern und fehlender Luftwaffe keinen schnellen Durchbruch erzielen können?

Dafür muss man verstehen, wo die Ukraine in der Offensive steht. Wir haben heute den 65. Tag der Gegenoffensive. Nach über zwei Monaten lassen sich mehrere Punkte feststellen. Der erste ist, dass die Operationsziele, die man sich vorgenommen hat – also die Unterbrechung der Brückenverbindungen und die Isolierung der Krim, mit dem Ziel, die Russen zu Verhandlungen zu zwingen und Truppen aus der Ostukraine zurückzuziehen – bis jetzt nicht gelungen sind. Der zweite ist, dass nahezu alle Brigaden der Offensive mittlerweile im Einsatz sind, auch die zuletzt genannten 116., 117. und 118. der zweiten Staffel. Nur noch die 82. Luftsturm-Brigade ist noch nicht an der Front.

Lässt sich abschätzen, wie hoch die Verluste westlicher Panzer der Ukraine sind?

Das ist der dritte Punkt. Laut der Seite Oryx hat die Ukraine insgesamt 14 Leopard-Panzer, 47 Bradleys und über 100 minengeschützten Fahrzeugen verloren. Vergleicht man das mit dem, was geliefert wurde, muss man sagen, dass diese Verluste signifikant sind. Von den Leoparden sind etwa 30 Prozent zerstört worden, von den Bradleys ebenfalls. Fast alle Brigaden sind also im Einsatz und es gibt hohe Verluste beim eingesetzten Gerät. Dazu kommt als vierter Punkt, dass trotz der Taktik, die die Ukraine immer wieder gewechselt hat – von massiertem Angriff zur Stoßtrupp-Taktik, dann vor kurzem wieder zurück zum massierten Angriff – sie bis jetzt keinen operativen Durchbruch erzielen konnte. Es fehlen noch immer wesentliche Fähigkeiten, wie zum Beispiel eine verfügbare Luftstreitmacht. Das heißt, die Kampfkraft der Offensivbrigaden, die als sehr stark angesehen wurden, sind zu gering, um es alleine zu schaffen. Die Ukraine ist deshalb gezwungen, ihren operativen Angriffsplan noch einmal neu auszurichten.

Wie machen sie das?

Sie versuchen das Momentum trotz allem aufrechtzuerhalten, indem sie vor allem die russische Artillerie abnutzen und die Russen isolieren. Durch die Angriffe auf russische Artilleriesysteme treffen sie deren stärkste Waffen, und durch die Zerstörung der Brücken zur Krim wollen sie verhindern, dass die Russen weitere Kräfte nachziehen können. Der Zweck dieses Vorgehens ist, sie insgesamt abzunutzen, in der Hoffnung, dass sie ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr in der Lage sind, ihren Abwehrerfolg aufrechtzuerhalten und dann durchbrechen können. Dazu hat man die Reserven in der Hinterhand, wie zum Beispiel die genannte 82. Brigade.

Ist das erfolgsversprechend?

Das Wichtigste ist, wie auch von Budanov, dem Leiter des ukranischen Militärnachrichtendienstes vor kurzem gesagt, dass die Offensive nicht zum Erliegen gekommen ist, sondern fortgesetzt wird. Die Gegenoffensive tut sich schwer und mittlerweile haben die Russen Gefechtsstände aus Beton und Zement gebaut, was das ganze nochmal erschwert. Die Ukraine muss weiter Initiative und Momentum zeigen, damit die Russen keine Ruhe bekommen und sich wieder vorbereiten und neu konsolidieren können. Aus diesem Grund greift die Ukraine auch immer noch an drei Stellen an und zwingt die Russen Reserven dorthin zu bringen. So könnte ein Durchbruch noch gelingen. Gleichzeitig versuchen die Russen selbst auf operativer Ebene mit der 1. Gardepanzerarmee im Raum Svatove in die Offensive zu gehen. Hier sind tatsächlich einige Kilometer an Geländegewinnen gelungen.

Das ist die operative Seite, wie Sie sagen. Und die strategische?

Dort sieht man, dass die russische Seite ihre Luftkriegskampagne gegen die Ukraine vor kurzem wieder intensiviert hat. Sie haben einen wichtigen Flugplatz der Ukraine bei Starokonstantinov ganz massiv attackiert. Das zeigt, dass die Angriffe der Ukraine mit den Su-24M und deren Storm Shadow und Scalp den Russen sehr wohl wehtun. Sonst würden sie nicht versuchen, diese Flugzeuge und ihre Basis zu zerstören. Dazu versucht die Ukraine, auch an anderen Stellen das Momentum aufrecht zu erhalten.

Wo zum Beispiel?

Nachdem die Russen das Getreideabkommen aufgekündigt haben, hat die Ukraine darauf sehr interessant reagiert. Sie haben nicht nur ein russisches Landungsschiff angegriffen, das schwer beschädigt worden ist, sondern auch einen russischen Tanker und dazu die russischen Häfen zum Kriegsgebiet erklärt. Der Druck auf die Russen ist dadurch enorm, denn die sie wollen mit dem Aufkündigen des Getreidedeals die ihnen nahestehenden Länder mit ihrem Getreide versorgen. Aber wenn die Häfen ab jetzt Kriegsgebiet sind, tun sich auch die internationalen Schiffe, die zum Beispiel aus Afrika anreisen, sehr schwer damit, dort einzufahren, weil sie ja möglicherweise auch von den Ukrainern angegriffen werden können. Welche Versicherungsunternehmen, die ja die Schiffe versichert haben, möchte dieses Risiko eingehen? Die Ukraine versucht so auf der strategischen Ebene damit das Blatt zu wenden.

Mit Markus Reisner sprach Vivian Micks

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