Roger Federer geht als blosser Sportstar, Ali war Zeitgeschichte

Jason O’Brien / Action Images

Selbst der grösste Tennisspieler der Geschichte ist nur ein Sportler. Aus politischen und gesellschaftlichen Debatten hat sich Roger Federer stets herausgehalten, anders als Muhammad Ali, der unerreicht bleibt unter den ikonischen Athleten.

Der Weltsport Tennis hat eine Saus-und-Braus-Ära hinter sich – mit Roger Federer als prägendster Figur, mit den weiterhin aktiven Rafael Nadal und Novak Djokovic als ebenso unfassbar erfolgreichen Zeitgenossen. Eine ständig knisternde Dreiecksbeziehung, in der diese Superstars ihres Metiers auch um den Status des «Goat» rivalisieren. Goat für «greatest of all time», «Grösster aller Zeiten» – die Zukunft vielleicht ausgenommen.

Nun räumt Federer das Feld. Doch egal, welche weiteren Rekorde er als Ruheständler noch verliert, egal, wie viele Grand-Slam-Titel Nadal und Djokovic noch gewinnen: Es wird in der Goat-Debatte immer gute Argumente für Federer als grössten aller Tennisspieler geben. Weiche Argumente wie sein anmutiges Spiel. Harte Argumente wie sein Markenwert, der ihn zu einem der bestbezahlten Athleten der Sportgeschichte macht.

Roger Federer geht als einer der grössten Weltstars, die der Sport je hervorgebracht hat. Nicht weniger. Aber auch nicht mehr. Als Figur der Zeitgeschichte wie Muhammad Ali wird er nicht in Erinnerung bleiben.

Mandela, Federer, Obama

Federer verfügt über eine globale Strahlkraft wie nur einige handverlesene andere Sportlerinnen und Sportler – und wie wahrscheinlich kein Mensch aus der Schweiz vor ihm. 2011 belegte er in einer Umfrage eines grossen Reputationsforschungsinstituts zu der glaubwürdigsten Persönlichkeit den zweiten Platz, hinter Nelson Mandela, vor Barack Obama, Queen Elizabeth und Bill Gates.

Federer verkörpert zweifellos mehr als einen vierfachen Familienvater und herausragenden Weltsportler. Er wandelt auch als Geschäftsmann und Wohltäter in Erfolgsspuren. Ein Überflieger in der eigentlichen Domäne, der daneben Business und Charity macht – es ist der klassische Dreiklang eines modernen Stars der Unterhaltungsbranche. Wie tugendhaft. Und wie langweilig im Vergleich zu Muhammad Ali.

Rafael Nadal (links) hat bis anhin 22 Grand-Slam-Titel gewonnen, Roger Federer (rechts) räumt das Feld mit 20 – doch es wird in der Goat-Debatte immer gute Argumente für Federer als grössten aller Tennisspieler geben. Aufnahme von der Siegerehrung nach dem French-Open-Final 2011, den Nadal in vier Sätzen gewann.

Rafael Nadal (links) hat bis anhin 22 Grand-Slam-Titel gewonnen, Roger Federer (rechts) räumt das Feld mit 20 – doch es wird in der Goat-Debatte immer gute Argumente für Federer als grössten aller Tennisspieler geben. Aufnahme von der Siegerehrung nach dem French-Open-Final 2011, den Nadal in vier Sätzen gewann.

Michel Spingler / AP

Federer macht Sport, Business und Charity – es ist der klassische Dreiklang eines modernen Stars der Unterhaltungsbranche. «Match for Africa» im Februar 2020 in Kapstadt.

Federer macht Sport, Business und Charity – es ist der klassische Dreiklang eines modernen Stars der Unterhaltungsbranche. «Match for Africa» im Februar 2020 in Kapstadt.

Ashley Vlotman / Getty

Ali, 1942 in bescheidenen Verhältnissen als Cassius Clay geboren, 2016 verstorben, war Boxer, klar, Olympiasieger und dreifacher Weltmeister. Aber auch: Rassismusopfer, Kriegsdienstverweigerer, Bürgerrechtskämpfer, polarisierender Provokateur und Maulheld, ein Stachel im Fleisch des Establishments. Ali war alles, Gesellschaft, Politik, Religion, Sport. Er wurde gerichtlich verurteilt, musste die Boxlizenz abgeben und den Reisepass. Millionen verdiente auch er.

Federer mit Ali zu vergleichen, mag unfair sein. Es ist deswegen aber nicht weniger interessant. Federer hat gar kein Ali werden können, allein schon wegen der Welten und Zeiten, in die sie hineingeboren wurden. Ali beziehungsweise Clay als dunkelhäutiger Junge im tief rassistischen US-Südstaat Kentucky, der seine olympische Goldmedaille von 1960 in den Ohio River geworfen haben soll, weil er aufgrund der Hautfarbe nicht bedient wurde in Restaurants. Federer als Sohn eines Rheintalers und einer (weissen) Südafrikanerin in mittelständischer Schweizer Beschaulichkeit und Sorglosigkeit.

Eine Biografie frei von Brüchen

Federer wurde Tennisspieler. Tennis ist historisch gewachsen als Sport für Gentlemen, die Etikette wird bis heute hochgehalten. Wimbledon, Federers liebste Wirkungsstätte, kultiviert das Elitäre, den Snobismus. Wimbledon ist Establishment – und Federer gehört seit vielen Jahren dazu. Er bewegt sich in solchen Kreisen mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie auf dem Platz.

Federer hat Rückschläge überwunden auf seinem Karriereweg, auch persönliche wie etwa den Unfalltod von Peter Carter, einem früheren Trainer. Ob seiner zahlreichen Triumphe geht manchmal vergessen, wie viele grosse Partien mit beissenden Niederlagen geendet haben, vor allem gegen Nadal und Djokovic. Und doch ist Federers Biografie frei von Brüchen.

Bis zu den Knieoperationen, die am Ursprung des Rücktritts stehen, war ein Malheur 2016 in Melbourne die grösste Zäsur in gut zwei Jahrzehnten Profitennis. Federer hatte den Zwillingstöchtern damals ein Bad eingelassen und dabei einen Meniskusschaden erlitten. Die Knieprobleme, die Federer seit Wimbledon 2021 vom Turnierbetrieb fernhalten, sind nicht dem Pech geschuldet, sondern so gut wie unvermeidliche Abnützungserscheinungen in einem alternden Hochleistungskörper.

Der Einschnitt im Jahr 2016 ermöglichte Federer eine Comeback-Geschichte, wie sie jeder illustren Sportlerlaufbahn gut ansteht. Nie zuvor und nie danach wirkte Federer begeisternder und begeisterter als bei der Rückkehr 2017 mit den Grand-Slam-Turniersiegen am Australian Open und in Wimbledon. Erst diese Wendung machte die Erzählung seiner Vita auch zu einer kleinen Heldenreise.

Nie zuvor und nie danach wirkte Federer begeisternder und begeisterter als bei der Rückkehr 2017. Im Bild seine Reaktion auf den Finalsieg gegen Rafael Nadal am Australian Open.

Nie zuvor und nie danach wirkte Federer begeisternder und begeisterter als bei der Rückkehr 2017. Im Bild seine Reaktion auf den Finalsieg gegen Rafael Nadal am Australian Open.

Lukas Coch / EPA

Der achte Triumph in Wimbledon war die Krönung seines grossen Comebacks im Jahr 2017.

Der achte Triumph in Wimbledon war die Krönung seines grossen Comebacks im Jahr 2017.

Andrew Couldridge / Reuters

Aufstieg, Triumph, Krise, Wiederaufstieg, neuerlicher Triumph – es ist ein Zyklus, der typisch ist für das Leben eines heroisierten Sportlers. Doch die Heldenreise von Muhammad Ali beinhaltet so viel Aussersportliches. Sie war in ihrer extremen Ausprägung nur möglich, weil sie mit bewegten Zeiten für ein Land verwoben war, das sich damals wie heute stärker im Fokus der Weltöffentlichkeit befand als jedes andere.

Wie viele grosse Boxer kam Ali von weit unten; so gesehen gelang ihm eine sehr amerikanische Karriere. Doch der Champ und das offizielle Amerika waren sich lange in gegenseitiger Ablehnung verbunden. Ali taugte nicht zum «all-American hero», dafür besetzte er zu viele Minderheitenpositionen: der Afroamerikaner, der seinen Sklavennamen ablegte, dem Rassismus mit Rassismus begegnete und der militanten Sekte «Nation of Islam» beitrat.

Als sich die Sicht auf Ali zu verändern begann

Als die USA in den Vietnamkrieg zogen, verweigerte Ali den Dienst. «Ich entferne mich nicht 10 000 Meilen von zu Hause, um beim Morden zu helfen und ein weiteres armes Land niederzubrennen, nur um die Dominanz der weissen Sklavenhalter gegenüber Leuten mit dunklerer Haut fortzusetzen», begründete er. Seine Weigerung stiess auf viel mehr Ablehnung als Zustimmung. Doch nachdem der Vietnamkrieg zu einem Fiasko geraten war, begann sich die Sicht auf Ali und seine Haltung zu verändern.

Bald sollte der Mainstream keinen Verräter mehr in ihm sehen, sondern einen Charismatiker, der auch für sein Wirken und seine Wirkung ausserhalb des Boxrings bewundert wurde. Als Ali – bereits gezeichnet von der Parkinsonkrankheit – an der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 1996 in Atlanta vor den Augen der Welt das olympische Feuer entzündete, galt er längst als eine Heldenfigur, auf die sich die Menschen im Land geeinigt hatten.

Muhammad Ali an der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 1996 in Atlanta.

Muhammad Ali an der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 1996 in Atlanta.

Michael Probst / AP

Roger Federer ist von jeher eine Konsensfigur. Ein «Mister Nice Guy», dem jegliche Exzentrik und jegliche Provokationslust abgehen, für den die Showtime mit dem Matchball endet und der abgesehen von sporadischen emotionalen Ausschlägen in sich zu ruhen scheint. Federer ist wie die weissen Tenniskleider, die er in Wimbledon hat tragen müssen: passend zu allem.

So gibt er sich auch, wenn versucht wird, ihn in politische oder gesellschaftliche Debatten einzubeziehen. Federer bleibt dann stumm oder vage, er äussert sich jedenfalls nie pointiert. Warum? Weil er seine Ansichten für eine Privatsache hält? Weil es seinen Geschäftsinteressen schaden könnte? Weil er schlicht und einfach ein gänzlich unpolitischer Mensch ist, der höchstens als Philanthrop direkt mit Politik in Berührung kommt? Man weiss es nicht, auch nach all den Jahren nicht.

2019 fiel eine Serie von Schaukämpfen in Südamerika mit grossen politischen Unruhen zusammen. Federer begegnete den Fragen und der Kritik, die seine kleine Tournee provozierte, reichlich unbeholfen. «Die Probleme dort sind eigentlich losgelöst von mir», sagte er im Vorfeld. Als der Match in Bogotá kurzfristig abgesagt werden musste, weil die Proteste gegen Kolumbiens Regierung eskaliert waren, hüllte sich Federer in Schweigen. Gutschweizerisch neutral. Oder gutschweizerisch opportunistisch. Muhammad Ali hätte bestimmt etwas zur Konfliktsituation zu sagen gehabt.

Federer wirkt wie eine Antithese in einer Sportwelt, die wieder politischer geworden ist, die sich stärker einbringt in die grossen Debatten ihrer Zeit. Für Gleichstellung, gegen Rassismus; für Diversität, gegen Homophobie. Stars wie der Formel-1-Fahrer Lewis Hamilton, die Fussballerin Megan Rapinoe oder der Basketballer LeBron James stehen dafür. Sie setzen sich aus Betroffenheit oder Überzeugung ein, ein bisschen wie einst Ali, aber ohne dafür geächtet zu werden.

Manchmal erscheint es aufgesetzt, fadenscheinig oder gefallsüchtig, wenn sich Sportlerinnen und Sportler auf einmal politisiert geben. Dieser Gefahr setzt sich Federer erst gar nicht aus. Er hält sich aus allem heraus. Wovon ist er überzeugt, wovon betroffen, wofür bereit, sich zu exponieren, vielleicht sogar zu polarisieren, ausnahmsweise?

Die Antwort lautet: Tennispolitik. Da ist er engagiert, da legt er sein Gewicht in die Waagschale, da wird er im Duett mit seinem Manager Tony Godsick zum Dealmaker. Federer agiert diskret, gerade im Vergleich zu Novak Djokovic, mit dem er in vielen Fragen uneinig ist. Djokovic geht mit Brimborium auf Konfrontationskurs, indem er etwa eine eigene Spielergewerkschaft gegründet hat. Federer setzt manchmal verbale Spitzen in der Öffentlichkeit, den Rest erledigt er hinter den Kulissen.

Die ewige Spielernatur

Wenn Federer an einem Turnier war, ging es ihm um Tennis und um nichts anderes; er verstand es, sich auf die Rolle eines Spielers zu reduzieren. In dieser Rolle war er maximal glaubwürdig. Federer auf dem Tennisplatz – das hatte stets etwas Reines, Unverdorbenes an sich. Auch als fast 40-Jähriger spielte er sein Spiel mit dem Esprit eines jugendlichen Newcomers. Nadal und Djokovic arbeiten Tennis. Federer hat es zelebriert, wenn auch mit dem gleichen Siegeswillen, mit der gleichen Aufopferungsbereitschaft. Er wird als ewige Spielernatur in Erinnerung bleiben, nicht als Kämpfernatur. In seinen besten Jahren fragte man sich ernsthaft, ob er überhaupt schwitzt, wenn er einen Gegner vom Platz fegt.

Wenn er an einem Turnier war, ging es ihm um Tennis und um nichts anderes. Federer 2017 in Schanghai, nach einem von insgesamt 103 Turniersiegen.

Wenn er an einem Turnier war, ging es ihm um Tennis und um nichts anderes. Federer 2017 in Schanghai, nach einem von insgesamt 103 Turniersiegen.

Yifan Ding / Getty

Bei Ali spritzte der Schweiss, wenn er traf oder getroffen wurde. Er vereinte geballte Schlagkraft und geschmeidige Eleganz, er war beides, Kämpfer und Spieler, im Ring wie im Leben. Das Boxen war die Fortsetzung des Lebens oder das Leben die Fortsetzung des Boxens. Austeilen, einstecken; tänzeln, nach Luft schnappen; verhöhnen, sich auflehnen; Schmerzen zufügen, Schmerzen spüren.

Von Muhammad Ali gibt es berühmte Zitate. «Ich schwebe wie ein Schmetterling und steche wie eine Biene.» Oder: «Ich habe keinen Streit mit dem Vietcong. Kein Vietcong hat mich jemals Nigger genannt.» Über Roger Federer gibt es einen berühmten Text, einen Essay mit dem Titel: «Roger Federer as Religious Experience», als religiöse Erfahrung. Den Text schrieb der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace. Nachdem er Roger Federer 2006 in Wimbledon zugesehen hatte. Beim Spielen.

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