Saudiarabien und der Export des Wahhabismus in die Welt

Saudiarabiens Kronprinz Mohammed bin Salman hat eine Rückkehr des Königreichs zum moderaten Islam versprochen und eine Abkehr vom Export des Wahhabismus in die Welt. In der Praxis ist aber vieles Rhetorik geblieben.

Über Jahrzehnte hat Saudiarabien in Afghanistan und anderen Ländern Moscheen und Schulen finanziert, um seine radikale Lesart des Islam zu verbreiten. Doch damit soll nun Schluss sein.

Marco Di Lauro / Getty

Mancher Saudi dürfte sich verwundert die Augen gerieben haben, als im Mai die Fotos vom interreligiösen Forum in Riad veröffentlicht wurden. An einem runden Tisch sassen da orthodoxe Rabbiner in schwarzen Hüten neben einem Hindu in oranger Robe und einem schiitischen Gelehrten mit Turban. Auf anderen Bildern sind bärtige Mullahs im lockeren Gespräch mit einem evangelischen Theologen zu sehen. Neben dem griechisch-orthodoxen Patriarchen Bartholomäus und dem katholischen Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin zählte auch der Römer Oberrabbiner Riccardo Di Segni zu den Teilnehmern.

Organisiert wurde das «Forum zur Förderung der gemeinsamen Werte unter den Anhängern der Religionen» von der Islamischen Weltliga. Gegründet wurde diese 1962 von islamischen Gelehrten als NGO, doch war ihr wichtigster Financier und Förderer stets Saudiarabien. Über Jahrzehnte diente die Islamische Weltliga dem Königreich als wichtigstes Instrument zur Verbreitung des Wahhabismus in der Welt – jener erzkonservativen, puritanischen und intoleranten Auslegung des Islam, die in Saudiarabien Staatsreligion ist.

Zum Wesensmerkmal des Wahhabismus zählte seit seiner Entstehung die Verurteilung von Christen, Juden, Schiiten und Sufis als Ungläubige und Abtrünnige. Die Islamische Weltliga war denn auch lange für ihren Antisemitismus und die Hetze gegen muslimische Minderheiten berüchtigt. Dass die Organisation nun ein interreligiöses Forum organisiert, bedeutet daher eine 180-Grad-Wende. Wie ist es dazu gekommen, und wie ist diese Wende zu bewerten?

Eine Kehrtwende, dass einem schwindelig werden kann

«Entscheidend war die Ernennung des früheren Justizministers Scheich Mohammed al-Issa zum Generalsekretär der Islamischen Weltliga», sagt der Islamexperte Peter Mandaville, der kürzlich mit dem Band «Wahhabism and the World» ein Grundlagenwerk zu Saudiarabiens transnationaler Religionspolitik veröffentlicht hat. «Unter Scheich Issa hat es mit der Betonung von religiöser Toleranz und Pluralismus eine beispiellose Änderung der Rhetorik gegeben», erläutert der Professor der George-Mason-Universität in Washington.

Die Islamische Weltliga warne nun sogar vor den Gefahren des Antisemitismus. «Wenn man bedenkt, dass sie über Jahrzehnte genau dies gefördert hat, wird einem ganz schwindelig», meint Mandaville. Den Völkermord an den Juden hat Issa verurteilt, und im Januar 2020 erregte er grosses Aufsehen, als er mit anderen islamischen Würdenträgern Auschwitz besuchte. Die Muslime im Westen drängt er derweil, sich in ihren jeweiligen Ländern zu integrieren.

Saudiarabiens Kronprinz Mohammed bin Salman will eine Rückkehr seines Landes zum moderaten Islam. Was damit genau gemeint ist, hat er aber nie erklärt.

Saudiarabiens Kronprinz Mohammed bin Salman will eine Rückkehr seines Landes zum moderaten Islam. Was damit genau gemeint ist, hat er aber nie erklärt.

Louiza Vradi / Reuters

Eingesetzt wurde Issa im August 2016 auf Betreiben von Mohammed bin Salman, der seit Juni 2017 offizieller Kronprinz Saudiarabiens ist. Wenige Monate nach seiner Beförderung zum Thronfolger kündigte der damals erst 31-Jährige in einer vielbeachteten Rede eine Rückkehr Saudiarabiens zu einem «moderaten Islam» an. Das Königreich werde hier und jetzt Schluss machen mit dem Extremismus, versprach er.

Seither eilt dem Kronprinzen der Ruf des religiösen Reformers voraus. Tatsächlich hat MbS, wie er genannt wird, einige bedeutende Schritte unternommen, um die Macht des wahhabitischen Klerus zu beschränken: So hat er die gefürchtete Religionspolizei von den Strassen verbannt, radikale Prediger inhaftiert und die Posten im Hohen Rat der Gelehrten und anderen islamischen Organisationen mit Leuten besetzt, die seine Vision eines «moderaten Islam» teilen.

Der Kronprinz stellt den Vertrag mit den Wahhabiten infrage

Auch sonst hat sich einiges in dem einst so verschlossenen und konservativen Königreich geändert: Den Frauen hat MbS das Autofahren erlaubt, die strengen Kleidervorschriften hat er gelockert und Kinos wieder zugelassen. Touristen bekommen heute leichter ein Visum, und Frauen können ohne Zustimmung ihres männlichen Vormunds ins Ausland reisen. Heute gibt es riesige Technopartys in der Wüste, Filmfestivals und Sportspektakel wie das Formel-1-Rennen, bei dem sich Frauen und Männer ungezwungen mischen.

«Was das Verhältnis des religiösen Establishments zum Staat betrifft, hat es einige sehr relevante Änderungen gegeben», sagt Mandaville. Mit seinen Reformen habe MbS den Vertrag infrage gestellt, der seit der Gründung des Staats 1932 zwischen den Al Saud und den Wahhabiten galt. Demnach gewährt das Königshaus den Geistlichen im religiösen Bereich freie Hand, wenn sie dafür seine Legitimität als Hüter der heiligen Städte Mekka und Medina bestätigen.

Dieser Pakt geht auf das Bündnis zurück, das der Stammesfürst Mohammed bin Saud 1744 mit dem Prediger Mohammed bin Abd al-Wahhab schloss, der für eine Rückbesinnung auf die Grundlagen des Islam eintrat. Gemeinsam unterwarfen sie die rivalisierenden Stämme Arabiens im Namen des «wahren Islam» und gründeten das erste saudische Königreich. Zwar hielt dieser Staat nur wenige Jahrzehnte, doch der Wahhabismus setzte sich dauerhaft durch.

Ein Knabe steht am Eingang des Schreins des Sufi-Heiligen Mir Sayyid Ali Hamadani in Kaschmirs Hauptstadt Srinagar. Den Wahhabiten sind Sufi-Praktiken wie Heiligenverehrung ein Graus.

Ein Knabe steht am Eingang des Schreins des Sufi-Heiligen Mir Sayyid Ali Hamadani in Kaschmirs Hauptstadt Srinagar. Den Wahhabiten sind Sufi-Praktiken wie Heiligenverehrung ein Graus.

Adil Abbas / Imago

Im Zentrum dieser Lesart des Islam steht die Überzeugung, dass alle religiösen Rituale, Praktiken und Gesetze, die sich nicht in Koran und Sunna – den Überlieferungen zum Leben des Propheten Mohammed – finden, unzulässige Neuerungen seien. Vor allem Praktiken wie Heiligenverehrung und Gräberkult, die unter Sufis und Schiiten verbreitet sind, lehnen die Wahhabiten ab. Entsprechend betrachten sie Schiiten und Sufis als «takfiri» – als Abtrünnige.

Im Zentrum steht die Modernisierung der Wirtschaft

Über die Jahrzehnte erlangte diese puristische und intolerante Lesart der Wahhabiten immer mehr Einfluss in Saudiarabien. Doch diese Entwicklung hat MbS mit seinen Reformen nun erstmals gestoppt. Auch die sozialen Normen, die lange vom wahhabitischen Klerus bestimmt waren, hätten sich mit der Abschaffung der Geschlechtertrennung verändert, sagt Mandaville. Allerdings seien die Reformen von MbS weniger im Glauben an Toleranz und Pluralismus begründet als durch pragmatische Erwägungen bestimmt.

«Damit sein ehrgeiziges Programm Vision 2030 zur Modernisierung der Wirtschaft Erfolg hat, braucht es eine Öffnung der kulturellen und sozialen Sphäre», erläutert Mandaville. Insbesondere der Aufbau eines Tourismussektors und einer Unterhaltungsbranche in Saudiarabien setze voraus, dass Männer und Frauen in der Öffentlichkeit interagieren könnten und dass die Saudi auch mit Menschen anderer religiöser und kultureller Herkunft zu kooperieren bereit seien.

Der Islam soll nicht liberal, sondern unpolitisch sein

Die religiösen Reformen sind also lediglich die Folge des Bestrebens nach Modernisierung der Wirtschaft. Dabei bleibt bis heute unklar, was der Kronprinz genau mit «moderatem Islam» meint. «MbS hat nie eine detaillierte theologische Vision dargelegt. Es gibt nur Bruchstücke, die interpretationsbedürftig sind», sagt Mandaville. Wenn MbS von moderatem Islam spreche, meine er aber wohl weniger einen liberalen, toleranten Islam als einen unpolitischen Islam, der den Staat nicht herausfordere und sich auf den privaten Bereich beschränke.

In der Aussenpolitik stellt sich die Frage, ob Saudiarabien unter MbS wirklich dem Export des Wahhabismus abgeschworen hat. Seit den 1960er Jahren hat Saudiarabien Zehntausende von Moscheen und Koranschulen in aller Welt finanziert. Zudem wurden Prediger entsandt und Schriften publiziert, um die strenge wahhabitische Interpretation des Islam zu verbreiten. Gerade im Hinblick auf Schiiten, Sufis und Ahmadi war dies eine zutiefst intolerante, aggressive Lesart.

In den achtziger Jahren finanzierte Saudiarabien die Mujahedin in Afghanistan. Auch Usama bin Ladin schloss sich damals dem Kampf gegen die Sowjets an.

In den achtziger Jahren finanzierte Saudiarabien die Mujahedin in Afghanistan. Auch Usama bin Ladin schloss sich damals dem Kampf gegen die Sowjets an.

Str / EPA

Die USA haben diese saudischen Missionstätigkeiten lange unterstützt, um der Verbreitung des Kommunismus in der islamischen Welt entgegenzuwirken. Mit den Anschlägen vom 11. September 2001, die von dem Saudi Usama bin Ladin geplant und vorwiegend von saudischen Attentätern ausgeführt wurden, wurde aber klar, welche Dämonen man da genährt hatte. Der Wahhabismus geriet im Westen in Verruf und galt fortan als Inbegriff des islamischen Extremismus.

Ideologischer Nährboden für die Kaida

Die saudische Interpretation des Islam wurde nun für die Entstehung radikaler Jihadistengruppen wie der Kaida und später des Islamischen Staats verantwortlich gemacht. Insbesondere die Stigmatisierung von Christen, Juden, Schiiten und Sufis als Ungläubige und Abtrünnige wurde dafür kritisiert, dass sie den Boden bereite für deren gewaltsame Verfolgung. In den Jahren nach 2001 zeigte sich zudem, dass es nicht nur ideologische, sondern auch finanzielle und personelle Verbindungen der Wahhabiten zur Kaida und zu anderen Jihadisten gab.

Neben der Islamischen Weltliga und ihrer 1972 gegründeten Schwesterorganisation, der World Assembly of Muslim Youth, geriet vor allem die International Islamic Relief Organisation (IIRO) ins Visier der Anti-Terror-Ermittler. Nachdem festgestellt worden war, dass mehrere Büros der Hilfsorganisation und der Weltliga finanzielle Verbindungen zur Kaida gehabt hatten, sah sich Riad gezwungen, die Strukturen zu straffen und die Kontrolle zu verschärfen.

Viele islamische Hilfsorganisationen entzogen sich aber weiter der Aufsicht des Staates. Im Mai 2015 führte die Regierung daher KSRelief als zentrale Plattform für die Koordination der Spenden und die Kontrolle der Hilfsorganisationen ein. Heute müssen alle Spenden über KSRelief abgewickelt werden. In den saudischen Medien wird regelmässig gemahnt, dass sich jeder strafbar mache, der direkt an Hilfsprojekte im Ausland spende.

Trennung von humanitärer Hilfe und religiöser Mission

Während islamische Hilfsorganisationen in Saudiarabien früher meist humanitäre Hilfe mit religiöser Mission verbanden, heben sie heute ihre weltanschauliche Neutralität hervor. In ihrer offiziellen Rhetorik fehlt jeder Verweis auf den Islam, stattdessen wird betont, dass die Hilfe unabhängig von der Religion und allein gemäss den humanitären Bedürfnissen der Empfänger geleistet werde.

Saudiarabien hat die Finanzierung von Koranschulen im Ausland stark reduziert. Unter dem Einfluss des Wahhabismus hat sich die lokale Lesart des Islam aber vielerorts unumkehrbar verändert.

Saudiarabien hat die Finanzierung von Koranschulen im Ausland stark reduziert. Unter dem Einfluss des Wahhabismus hat sich die lokale Lesart des Islam aber vielerorts unumkehrbar verändert.

Rahman Roslan / Getty

Die Finanzierung von Koranschulen und Moscheen wurde in den meisten Teilen der Welt stark zurückgefahren. Zum Teil lag dies daran, dass es dafür weniger Geld gab, zum Teil war es eine Folge der veränderten politischen Prioritäten. In Europa kam hinzu, dass viele Moschee-Gemeinden schlicht nicht länger Hilfe von aussen benötigten. Allerdings war da die wahhabitische Saat längst aufgegangen, und der religiöse Diskurs hatte sich unumkehrbar verändert.

Aus diesem Grund ist es fraglich, welchen Effekt es hat, wenn der Generalsekretär der Islamischen Weltliga heute Toleranz und Pluralismus preist. Auch ist offen, wie viel Substanz darin steckt. «Diese Rhetorik scheint sich mehr an die westlichen Partner zu richten, als dazu gedacht zu sein, vor Ort etwas zu verändern», sagt Mandaville. Bis heute habe er keinen Beleg dafür gesehen, dass die Länderbüros der Weltliga ihre Tätigkeiten der neuen Rhetorik angepasst hätten.

Zwar gab es Bemühungen, alte Lehrbücher mit antisemitischen und antischiitischen Passagen einzusammeln, doch waren diese Versuche eher erfolglos. Auch verbreitet Saudiarabien noch heute annotierte Übersetzungen des Koran, die ideologisch gefärbt sind und Christen und Juden herabsetzen. Ausserdem sendet Riad weiterhin wahhabitische Prediger aus, um gegen die Schiiten zu predigen und vor der Bedrohung durch den grossen Rivalen Iran zu warnen.

Eine Rückkehr der Wahhabiten bleibt möglich

Es bleibt daher die Frage, wie dauerhaft die Änderungen der religiösen Politik Saudiarabiens sind. «Solange MbS die Wahhabiten als Hindernis für seine wirtschaftlichen Reformen sieht, wird er ihren Einfluss einzuschränken suchen», sagt Mandaville. «Sobald sie ihm aber nützlich erscheinen, wird er sie wieder einspannen.» Insbesondere wenn seine wirtschaftlichen Reformen nicht aufgehen, könnte er gezwungen sein, sich wieder stärker auf die Wahhabiten zu stützen.

In der Logik von MbS stütze sich die Legitimität des Staates weniger auf die Anerkennung durch die religiösen Oberhäupter als auf die Gewährleistung von wirtschaftlicher Entwicklung und Wohlstand, sagt Mandaville. Dies bedeute aber auch, dass der Staat liefern müsse. Scheitere die Vision 2030, werde dies MbS schwächen. Dann wäre nicht auszuschliessen, dass die heute marginalisierten Geistlichen wieder an Einfluss gewinnen und sich zum Sprachrohr der Unzufriedenen machen. Denn die Macht der Wahhabiten mag geschwächt sein, gebrochen ist sie nicht.

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