Sexuelle Offenheit: Muss ich von meinen Fantasien erzählen?

Wenn er in der vollen U-Bahn fährt, denkt George häufig daran, was er einmal gelesen hat: Dass es Männer gibt, die “öffentlichen Nahverkehr” ganz anders verstehen. Diese Männer stimulieren sich sexuell, indem sie ihren Körper scheinbar unabsichtlich an Frauen reiben. Und manchmal, wenn George eine attraktive Frau in seiner Nähe entdeckt, stellt auch er sich vor, wie er sich mit seinem Becken an sie drücken könnte, welche angenehmen Gefühle ihn dann durchfluten würden. George würde sich niemals einer Frau auf diese Art annähern. Schon wenn er es sich ganz realistisch ausmalt, findet er es wenig sexy. Eine unbekannte Frau so missbräuchlich zu bedrängen, findet er in Wahrheit abstoßend. Es ist eine reine Fantasie, die er nie mit jemanden geteilt hat. Auch mit Janine nicht, seiner Frau.

Fantasie und Realität

Sexualität in Liebesbeziehungen ist intim. In ihr wird emotionale Nähe unmittelbar körperlich erlebbar. Im Sex gelingt es uns, für Augenblicke unsere Vereinzelung, unsere existenzielle Einsamkeit aufzuheben und miteinander zu verschmelzen. Da liegt es nahe zu denken, dass wir in der Sexualität keine Geheimnisse voreinander haben sollten, um unsere sexuelle Vereinigung, unsere erotische Hingabe nicht zu stören. Dass nichts zwischen uns existieren sollte, das uns trennt. Wir all unsere erotischen Träume offenbaren, weil sie dann in unsere Sexualität einfließen und sie lebendig halten können. 

Oskar Holzberg, 66, berät seit mehr als 20 Jahren in seiner Hamburger Praxis Paare und bekommt immer wieder Beziehungsfragen gestellt. Sein aktuelles Buch heißt: “Neue Schlüsselsätze der Liebe” (242 S., 20 Euro, Dumont).

Doch dabei übersehen wir den Unterschied zwischen Fantasie und Realität. Wir können uns in unseren Fantasien auf die Realität vorbereiten und uns ausmalen, wie wir uns heute Abend in der Badewanne lieben werden. Wir können fantasieren, was uns in der Realität versagt ist, denn wir werden vermutlich nie Sex mit Brad Pitt haben. Doch die allermeisten erotischen Fantasien sollen gar nicht wahr werden. Wir möchten weder von drei Typen gleichzeitig penetriert werden, noch wirklich mit unserem Nachbarn ins Bett gehen. Und wir möchten auch niemanden beim Vögeln bewusstlos würgen, schon gar nicht unsere Liebste. Sexuelle Fantasien zu haben ist wie Achterbahn fahren. Wir können Angst und Lust erleben, ohne wirklich in Gefahr zu sein.

Verschmelzung und Abgrenzung 

Es tut uns gut und dem Partner nicht weh, wenn es eine erotische Welt gibt, die nur uns gehört. Denn Partner-Sexualität lebt zwar in der Nähe, braucht aber neben Verschmelzung auch Abgrenzung und Fremdheit. Eine geheime Fantasie kann uns darin stärken. Es gibt keine sinnvolle Pflicht, unsere sexuellen Fantasien zu teilen, außer sie bedrängen uns auf gefährliche Art. Eine sexuelle Fantasie ist aber wie ein Traum auch eine Bilderwelt, in die unsere inneren Konflikte projiziert sind. Und wenn man sie so versteht, kann es durchaus mal gut sein, sie unserer Partnerin, unserem Partner zu erzählen. Vielleicht käme George ja dann darauf, dass er manchmal weniger angepasst sein möchte und sich einsamer fühlt, als er sich eingesteht. Wir müssen unsere sexuellen Fantasien nicht teilen. Aber wir können sie teilen, wenn wir uns sicher sind, richtig verstanden zu werden. Wenn es intim ist, und wir noch intimer miteinander werden möchten.

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