Sexueller Missbrauch treibt Israels Ultraorthodoxe um

Ariel Schalit / AP

Über sexuelle Gewalt zu sprechen, war in strenggläubigen Kreisen bisher tabu. Nun demonstrieren Mütter plötzlich gegen übergriffige Lehrer, und Opfer outen sich auf den sozialen Netzwerken. Nur die Rabbiner schweigen weiter und setzen damit ihre Autorität aufs Spiel.

Am 12. November 2021, einem Freitag, erscheint in der israelischen Zeitung «Haaretz» ein Artikel, der die ultraorthodoxe Gemeinde im Land für immer verändern wird. Es geht um einen Fall von sexuellem Missbrauch, und der Täter ist ausgerechnet der Mann, dessen Ratschlägen die Strenggläubigen in der Kindererziehung folgen.

Chaim Walder, 53 Jahre alt, ist preisgekrönter Autor, Kolumnist, Talkshow-Host und Familientherapeut. Nicht nur in Israel ist er ein Superstar. Seine Kinderbücher und Elternratgeber stehen auch in Europa und in den USA im Regal jeder ultraorthodoxen Familie.

Die Ultraorthodoxen sollen nur Bücher und Medien konsumieren, die von den geistlichen Oberhäuptern für «koscher» befunden werden. Chaim Walder geniesst deren Segen, weil er ihre Botschaften verbreitet. Seine berühmteste Kinderbuch-Serie «Kids speak» besteht aus unterhaltsamen Geschichten, mit denen die Kinder lernen, was ein frommes Leben bedeutet.

Ausgerechnet Walder soll nun also jahrelang Minderjährige und junge Frauen missbraucht haben. Sein jüngstes Opfer war neun Jahre alt. Walder soll seine Stellung als Autoritätsfigur schamlos ausgenutzt haben. Er verging sich an Mädchen, Buben und jungen Frauen, die zu ihm in die Therapie kamen, weil sie Probleme in der Familie oder sogar schon häusliche Gewalt und Missbrauch erlebt hatten.

Walder erzählte seinen Opfern, er sei Gott oder von Gott auserwählt. Er vergriff sich an ihnen in seinem Büro während der Therapie oder brachte sie danach in ein Hotelzimmer. Mit einigen Mädchen und jungen Müttern hatte er über Jahre hinweg regelmässig Sex. Er schüchterte sie ein, indem er ihnen drohte, niemand würde ihnen glauben, wenn ihr Wort gegen seines stünde. Der Star-Pädagoge fühlte sich sicher, er hielt sich für unantastbar. Und das war er offenbar auch jahrelang.

Am Tag, als sein Artikel publiziert wird, sitzt Aaron Rabinowitz angespannt zu Hause und wartet. Es ist Wochenende in Israel, und er wünschte sich, er würde an seinem Schreibtisch im Büro sitzen, dort wäre er beschäftigt. Rabinowitz hat monatelang an der Geschichte gearbeitet und weiss, wie brisant sie ist. Er ist erleichtert, dass sie nun endlich veröffentlicht wird, sieht den Reaktionen aber auch mit mulmigem Gefühl entgegen.

Der Journalist schreibt seit fünf Jahren für die linke, säkulare Tageszeitung «Haaretz» über die Charedim, wie die Ultraorthodoxen auch genannt werden. Die 1,2 Millionen Ultraorthodoxen machen 13 Prozent der israelischen Bevölkerung aus. Sie lehnen die Entwicklungen der Moderne ab und führen ein isoliertes Leben. Sie haben ihre eigenen Viertel, ihre eigenen Schulen, ihre eigenen Medien und ihre eigenen politischen Vertreter. Der Einfluss der religiösen Oberhäupter ist gross. Innerhalb der Gemeinde gibt es kaum Kritik an ihnen.

Aaron Rabinowitz in seinem Büro bei der Zeitung «Haaretz» in Tel Aviv.

Aaron Rabinowitz in seinem Büro bei der Zeitung «Haaretz» in Tel Aviv.

Der 35-jährige Rabinowitz stammt selber aus einer charedischen Familie, zählt sich aber zu den modernen Orthodoxen, die ihren Glauben mit dem Leben in der modernen Welt in Einklang bringen möchten. Weil er als einer von ihnen wahrgenommen wird, hat er leichteren Zugang zu den Ultraorthodoxen als seine säkularen Kollegen. Der Investigativjournalist wird von vielen in der Gemeinde aber auch wegen seiner differenzierten und seriösen Arbeit geschätzt.

Es war Anfang 2021, als Rabinowitz zum ersten Mal von Missbrauchsopfern kontaktiert wurde. Er begann zu recherchieren. Im März veröffentlichte er zusammen mit einer Kollegin einen Artikel über einen ersten grossen Missbrauchsfall. Im Fokus stand damals Yehuda Meshi-Zahav, der Leiter einer bekannten ultraorthodoxen Hilfsorganisation. Der Fall sorgte für einige Aufregung in Israel. Doch als Rabinowitz an diesem 12. November zu Hause wartet, weiss er, die Geschichte über Chaim Walder gehört in eine andere Kategorie. Sie stellt auch die Autorität der religiösen Oberhäupter infrage, die der Koryphäe der ultraorthodoxen Pädagogik jahrelang blind vertrauten. Wie werden sie reagieren?

Zunächst bleibt es an diesem Freitag gespenstisch still. Die Rabbiner ignorieren die Enthüllung. Die von ihnen kontrollierten ultraorthodoxen Newsportale und Medien nehmen das Thema nicht auf. Und auch die Verantwortlichen in den Jeschiwas und Synagogen wagen nicht, sich zu dem Missbrauchsskandal zu äussern.

«Schweige nicht!»

Avigayil Heilbronn liest den Artikel über Chaim Walder am Tag des Erscheinens auf ihrem Smartphone. Die Aktivistin zweifelt keine Sekunde, dass die Vorwürfe begründet sind – und erkennt sofort das Mobilisierungspotenzial des Falles. In Whatsapp-Gruppen und auf sozialen Netzwerken verbreitet sich die Nachricht rasch. Die jüngeren und fortschrittlicheren Gemeindemitglieder, die Zugang zum Internet haben, schicken den Artikel an jene weiter, die nicht online sind.

Am Freitag machen die Leute ihre Einkäufe, bevor mit dem Eindunkeln am Abend der Schabbat beginnt. In den Hauseingängen, auf den Strassen und auf den Märkten der orthodoxen Viertel sind die Vorwürfe gegen Walder das dominierende Gesprächsthema. So erzählen es Avigayil Heilbronn und andere, die an diesem Tag unterwegs sind.

«Erst wollte es niemand glauben, doch sehr schnell wurde klar, dass Rabinowitz keine Unwahrheiten verbreitete. Es gab zu viele Opfer und zu viele Gemeindemitglieder, die Betroffene kannten.» Vor allem in Bnei Brak, dem ultraorthodoxen Vorort im Nordosten von Tel Aviv, in dem Walder lebt und ein grosses Familientherapie-Zentrum betreibt. Die Betroffenen beginnen zu reden. Nicht öffentlich, aber unter sich. Innerhalb eines Tages kippt die Stimmung von Ungläubigkeit in Empörung. Heilbronns Mobiltelefon hört nicht mehr auf zu vibrieren. Ständig bekommt sie Nachrichten von Bekannten, die entsetzt sind.

Heilbronn, 33, ist IT-Fachfrau und Mutter von zwei Kindern. Es war eine spontane Reaktion, die sie vor ein paar Jahren zur Aktivistin werden liess. 2015, in der Zeit der sogenannten Messer-Intifada, stachen überall im Land palästinensische Jugendliche israelische Zivilisten nieder. Auch im ultraorthodoxen Viertel, in dem Heilbronn lebte, ging die Angst vor den Messerstechern um. Pfeffersprays waren ausverkauft. «Willkommen in der Welt der Frauen», schrieb Heilbronn damals in einem Facebook-Post, gerichtet an ihre männlichen Bekannten. «Wir müssen immer Angst haben, wenn wir auf die Strasse gehen.» Sie dachte dabei nicht an Vergewaltigung, sondern an harmlosere Belästigungen wie Nachstellen und Begrabschen, die sie regelmässig erlebte. Der Post löste unerwartete Reaktionen aus. Heilbronn erhielt massenweise persönliche Nachrichten von jungen Frauen und Männern, die ihr von Missbrauch und Vergewaltigungen berichteten.

Avigayil Heilbronn in Wohnzimmer ihres Reihenhauses in Ramot Alon im Norden von Jerusalem.

Avigayil Heilbronn in Wohnzimmer ihres Reihenhauses in Ramot Alon im Norden von Jerusalem.

«Wir Charedim glaubten, in unserer Gemeinde gebe es so etwas nicht. Was die Thora verbietet, gibt es nicht. Alle Opfer dachten, sie seien die einzigen!» Heilbronn wusste nichts über sexuellen Missbrauch und begann, im Internet darüber zu lesen. Sie war schockiert und wurde krank. Zwei Wochen sei sie nicht mehr aus dem Bett gestiegen. Dann raffte sie sich wieder auf und wurde aktiv. Sie gründete zusammen mit fünf anderen jungen Charedim eine Facebook-Site unter dem Namen «Lo tishtok» (Schweige nicht!). Missbrauchsopfer können dort anonym ihre Geschichten veröffentlichen.

Die jungen Frauen und Männer gingen noch einen Schritt weiter. Sie lernten von nicht-charedischen Psychologen, Sozialarbeitern und Polizisten, wie man Gespräche mit Betroffenen führt, und bauten die erste Anlaufstelle für ultraorthodoxe Opfer von sexuellen Übergriffen auf.

Die beiden Kinder von Avigayil Heilbronn waren damals noch klein, und sie hatte eine anspruchsvolle Stelle als Programmiererin in einer Hightech-Firma. Ihr Kampf gegen sexuelle Ausbeutung brauchte viel Zeit und belastete sie auch psychisch. Deshalb zog sie sich nach ein paar Jahren etwas zurück.

Der Skandal um den Pädagogen Chaim Walder verleiht Heilbronn nun aber neue Energie. Sie spricht mit Opfern und versucht, diese mit Rabbinern in der Gemeinde in Kontakt zu bringen. Weil das abgeschottete Oberrabbinat unerreichbar ist, versucht sie, an jüngere Geistliche heranzukommen. Sie lobbyiert bei ultraorthodoxen Verlagshäusern und Buchläden für einen Boykott von Walders Werken. Nicht nur in Israel, auch in Europa und den USA.

In Amerika reagieren die Verantwortlichen sehr viel empfindlicher auf das Thema Missbrauch als in Israel. Die grossen ultraorthodoxen Buchhandlungen nehmen Walders Werke umgehend aus dem Sortiment, Nachrichtenportale berichten kritisch über den gefallenen Helden.

Der Druck auf die religiösen Autoritäten in Israel wächst. Eine Woche nach Erscheinen des «Haaretz»-Artikels muss Walder von all seinen öffentlichen Ämtern und Positionen zurücktreten. Seine Bücher werden jetzt auch in Israel aus den Regalen entfernt, seine Kolumne in der Zeitung «Yated Ne’eman», einem Sprachrohr der ultraorthodoxen Führung, wird eingestellt.

Walder beteuert zwar bis zuletzt seine Unschuld, die Beweislast gegen ihn wird aber immer erdrückender. Ein Rabbiner-Gericht, das 22 Opfer anhört, kommt am 26. Dezember 2021 zum Schluss, Walder habe über Jahrzehnte hinweg systematisch Frauen, Mädchen und Buben missbraucht. Die meisten Opfer waren bei ihm in Behandlung, er verging sich aber auch an jungen Menschen in seinem familiären Umfeld und in seinem Freundeskreis.

Noch am selben Tag leitet die israelische Polizei eine Untersuchung ein. Tags darauf nimmt sich Chaim Walder das Leben.

Plakate am Schabbat

Suizid gilt als eine der schwersten Sünden im Judentum. Wer sich umbringt, wird in der Regel unauffällig irgendwo am Rande des Friedhofs begraben. Nicht so Chaim Walder. Der Sexualverbrecher bekommt ein Begräbnis, wie es nur den ganz Grossen in der Gemeinde zusteht. Während der Trauerfeier in Bnei Brak werden seine Leistungen von einem Chefrabbiner und vom Bürgermeister gepriesen. Walders Taten und die vielen Opfer erwähnen sie mit keinem Wort. Sie stellen Walder sogar als bedauernswertes Opfer dar und bezichtigen den Journalisten Rabinowitz des Mordes. Mit übler Nachrede habe dieser den angesehenen Autor in den Selbstmord getrieben.

Diese Vorwürfe und die postume Rehabilitation Walders treffen Aaron Rabinowitz schwer. Viele junge Ultraorthodoxe feiern den Journalisten auf den sozialen Netzwerken zwar als Helden, er wird aber auch beschimpft und bedroht. Er fängt an, seinen Glauben infrage zu stellen. Er leidet an Depressionen und Panikattacken. «Nur dank der Hilfe eines Psychiaters habe ich nach ein paar Monaten wieder Frieden mit Gott und mir selbst gefunden.»

Auch Avigayil Heilbronn hatte vieles hinterfragt. Der Aktivismus hat sie von der Gemeinde entfernt. Vor vier Jahren liess sie sich scheiden und zog aus dem ultraorthodoxen Viertel, in dem sie aufgewachsen ist, weg. Heute lebt sie mit den beiden Kindern in einem Reihenhaus in der Siedlung Ramot Alon im Norden von Jerusalem. Ihre Nachbarn sind mehrheitlich moderne Orthodoxe, wie sie selbst mittlerweile auch. Heilbronn hat ihre Perücke abgelegt und hält sich nicht mehr an die strikte Kleiderordnung ihrer Gemeinde. Sie trägt ihr langes Haar nun offen, ihr Kleid ist auffällig kurz. «Ich bin noch immer religiös, nur lebe ich meinen Glauben heute anders», sagt sie.

Mit anderen Aktivistinnen startet Heilbronn am Tag nach Walders Beerdigung eine aufsehenerregende Protestaktion. Sie lassen 300 000 Flugblätter drucken, auf denen das Gesicht eines weinenden Kindes zu sehen ist, dem eine Männerhand den Mund zuhält. Die jüdische Religion verlange nicht, dass man Verbrechen verschweige, steht darauf. Hunderte Freiwillige verteilen die Flugblätter in den ultraorthodoxen Vierteln in Jerusalem, Bnei Brak und anderen Städten des Landes.

Eine Woche später lassen Heilbronn und ihre Mitstreiterinnen 700 000 Plakate drucken und hängen sie in ultraorthodoxen Nachbarschaften auf. Sie tun es am späten Freitagnachmittag, kurz bevor der Schabbat beginnt. So kann kein Gläubiger sie herunterreissen, bevor der jüdische Ruhetag am Samstagabend nach Sonnenuntergang wieder endet. Von allen Seiten bekommen sie Hilfe und Zuspruch, nicht nur Jugendliche und junge Mütter, auch Jeschiwa-Studenten, Ladenbesitzer und ältere Passanten helfen mit, Plakate aufzuhängen. Es sind so viele, dass sie an diesem Wochenende wohl jeder Charedi im Land sieht.

Die Aktivistinnen wollen die Rabbiner unter Druck setzen. Diese sollen sich endlich mit dem Thema Missbrauch auseinandersetzen. Doch die religiösen Oberhäupter halten sich weiter bedeckt. Die Lehrer an den ultraorthodoxen Schulen werden angewiesen, mit den Kindern nicht über den Fall Walder zu sprechen. Wer so schmutzige Dinge in der Öffentlichkeit ausbreite, schaffe damit nur Pädophilie, argumentieren die Gelehrten. Sie weichen nicht von ihrer Version ab, dass Walders Suizid eine schreckliche Folge von übler Nachrede sei. Die Opfer werden derweil sich selbst überlassen. Eine 24-jährige Frau nimmt sich deswegen sogar das Leben.

Die Gläubigen beginnen zu zweifeln

Bis heute schweigen die einflussreichen religiösen Führer. An der Basis ist in den vergangenen Monaten aber viel passiert. Eltern sprechen nun mit ihren Kindern über das Tabuthema. Jede Woche demonstrieren irgendwo im Land ultraorthodoxe Mütter gegen übergriffige Lehrer, Schulleiterinnen und Rabbiner. Immer mehr Opfer wagen, Übergriffe publik zu machen oder gar Anzeige zu erstatten. Einige Täter sind schon verhaftet worden, andere müssen nun fürchten, erwischt zu werden. Der Chaim-Walder-Skandal hat die ultraorthodoxe Gemeinde ein für alle Mal verändert.

«Als ich vor sieben Jahren anfing, mich zu engagieren, war ich fast allein. Nun habe ich das Gefühl, eine Armee hinter mir zu haben», sagt Avigayil Heilbronn. «Möglich war dies vor allem auch deshalb», die Aktivistin zeigt auf ihr Smartphone, auf dem sie sich noch immer täglich mit Opfern austauscht und Protestaktionen organisiert.

Ultraorthodoxe dürfen offiziell nur «koschere» Mobiltelefone benutzen, also solche, mit denen man telefonieren und Nachrichten verschicken kann, aber keinen Zugang zum Internet und zu den sozialen Netzwerken hat. Die religiösen Autoritäten versuchen die Charedim vom Internet fernzuhalten. Ihr Argument: Man wolle sie vor all den Widerwärtigkeiten, die dort kursieren, schützen. Doch der Informationsfluss wird immer schwieriger zu kontrollieren.

Viele ultraorthodoxe Männer verbringen ihren Tag mit dem Studium religiöser Schriften und gehen keiner regulären Arbeit nach. Die kinderreichen Familien sind meistens von staatlicher Sozialhilfe abhängig. Weil diese knapp ist, arbeiten aber auch immer mehr Frauen. Dabei kommen sie in Kontakt mit Leuten von ausserhalb der Gemeinde – und mit dem Internet. Auch immer mehr junge Charedim haben ein Smartphone und damit Zugang zu sozialen Netzwerken. Sie beginnen, Fragen zu stellen und die Regeln und Weisungen von oben kritisch zu betrachten.

Bereits das unglückliche Krisenmanagement während der Pandemie hat innerhalb der Gemeinde zu Diskussionen geführt. Die Rabbiner widersetzten sich damals dem staatlichen Lockdown und erlaubten Veranstaltungen, an denen Hunderte von Gläubigen teilnahmen. Aus ihrer Sicht liegt das Schicksal der Gemeindemitglieder in den Händen Gottes und nicht eines Staates, dem sie kritisch gegenüberstehen. Die Folge war, dass die Ultraorthodoxen überdurchschnittlich viele Covid-19-Tote zu verzeichnen hatten.

Sexuellen Missbrauch gibt es nicht nur bei den Ultraorthodoxen, aber weil bei den Strenggläubigen nicht über das Problem gesprochen wird, ist es akuter geworden als anderswo. «Der Skandal ist sehr viel grösser als Chaim Walder», sagt der Journalist Aaron Rabinowitz. Bis heute melden sich immer neue Opfer bei ihm. Sogar einige seiner engen Freunde haben sich als Missbrauchsopfer geoutet. «Das Ausmass des Problems ist enorm», sagt er. «Meine Recherchen zeigen: In den am stärksten isolierten Vierteln hat fast jedes Kind schon Erfahrungen mit sexueller Belästigung oder Gewalt gemacht.»

Das vergangene Jahr hat bei Aaron Rabinowitz Spuren hinterlassen. Er ist nicht mehr der unbeschwerte Reporter von früher, er ist nachdenklicher geworden. Und er recherchiert verbissener denn je. «Es gibt noch so viel aufzudecken», sagt er. «Nur wenn wir die Täter entlarven, können wir den Teufelskreis durchbrechen und künftige Generationen schützen. Denn viele Opfer werden später selbst zu Tätern.»

Ein Rabbi, der offen redet

Auch Rabbi Asher Yechiel Kasel macht sich Sorgen: um die nächste Generation und darüber, wie sich ihr Verhältnis zum Glauben entwickeln wird. Der 50-Jährige unterrichtet an einer religiösen Abendschule für junge Ultraorthodoxe, die tagsüber arbeiten. Davor hat er lange in einem Internat für Jugendliche aus zerrütteten Familien und für Schwererziehbare gearbeitet.

Als Rabbi Kasel die Enthüllungen über Chaim Walder liest, ist er schockiert. «Ich konnte nicht glauben, dass dieser hochangesehene Mann zu so etwas fähig war. Dass sexueller Missbrauch verbreitet ist, war mir aber bewusst.»

Bei der Arbeit trifft der Rabbi immer wieder betroffene Jugendliche. Wenn sie sich ihm anvertrauen, versucht er, so gut es geht, zu helfen. «Oft geht es nur darum, zuzuhören. Die meisten Opfer schämen sich und fühlen sich mitschuldig. Verständnis und Mitgefühl hilft da oft schon viel.»

Rabbi Asher Yechiel Kasel weiss aus eigener Erfahrung, wie prägend sexueller Missbrauch sein kann.

Rabbi Asher Yechiel Kasel weiss aus eigener Erfahrung, wie prägend sexueller Missbrauch sein kann.

Rabbi Kasel hat eine sanfte Stimme und ein gütiges Lächeln. Er tritt Menschen mit Wärme entgegen. Mit den Jugendlichen in Not versteht er sich aber auch deshalb so gut, weil er selbst ein Opfer ist. Als Kind wurde er jahrelang von einem Bekannten der Familie missbraucht. Erst mit 45 sprach er zum ersten Mal über die traumatischen Erlebnisse.

Sexueller Missbrauch ist oft mit Machtmissbrauch verbunden. So war es auch bei Rabbi Kasel. «Der Täter sagte mir, wenn ich darüber rede, würde mir niemand glauben.» In der engen Blockwohnung in Bnei Brak, in der Rabbi Kasel aufgewachsen ist, leben heute nur noch die Mutter, der Vater, der jüngste Bruder und ein grüner Papagei. 14 Kinder sind hier gross geworden. Asher Yechiel ist das älteste von ihnen und der Liebling der Mutter. «Er denkt nie an sich, er ist immer für die anderen da», sagt sie. Er habe sie schon als Kind sehr unterstützt und sich um die jüngeren Geschwister gekümmert.

Rabbi Kasels Mutter ist keine typische ultraorthodoxe Hausfrau. Sie ist aufgeschlossen und gebildet. Vor der Heirat ist sie um die Welt gereist. Umso schwieriger war es für sie, zu akzeptieren, dass ihr Sohn jahrelang missbraucht wurde, ohne dass sie etwas merkte.

Zur Rede gestellt oder gar angezeigt haben die Kasels den Täter nie. Sie haben nur den Kontakt zu ihm abgebrochen. Ein Prozess hätte wenig gebracht, weil Rabbi Kasel wie viele Missbrauchsopfer erst Jahrzehnte später bereit war, darüber zu sprechen. Da war die Tat längst verjährt.

Vor fünf Jahren hat der Religionsgelehrte aber in einem Fernsehinterview offen über den Missbrauch gesprochen, den er erlebt hatte. Ein Journalist versuchte damals vergeblich, missbrauchte Schülerinnen und Schüler zu interviewen. Niemand wollte reden. Da entschied Rabbi Kasel, mit gutem Beispiel voranzugehen und auszupacken. Bis heute geschieht das selten. Unter Ultraorthodoxen ist es verpönt, über solche Erlebnisse in der Öffentlichkeit zu reden. Rabbi Kasel sagt, er habe eine wunderbare Frau und zehn Kinder. Es sei ihm nicht leichtgefallen, seine Liebsten mit dem Interview dem Gerede der Leute auszusetzen.

Viele Opfer schweigen, weil sie Angst haben, den Ruf der Familie zu beschmutzen. Wenn sie sich outen oder ihre Peiniger gar anzeigen, riskieren sie auch, nicht mehr «gut» verheiratet zu werden. Bei den Charedim werden Ehen bis heute arrangiert.

Die Strenggläubigen wollen ihre Glaubensgemeinschaft aber auch nicht in ein schlechtes Licht rücken. Israel ist ein religiös und ethnisch sehr gemischtes, aber auch gespaltenes Land. Viele Israeli stehen den Frommen skeptisch bis feindselig gegenüber – weil deren Familien mehrheitlich von staatlicher Sozialhilfe abhängen und weil die Ultraorthodoxen nicht wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger zwei bis drei Jahre Militärdienst leisten müssen.

Die Ultraorthodoxen bleiben unter sich. Der israelische Staat räumt ihnen nicht nur in religiösen Fragen weitgehende Autonomie ein.

Die Ultraorthodoxen bleiben unter sich. Der israelische Staat räumt ihnen nicht nur in religiösen Fragen weitgehende Autonomie ein.

Oded Balilty / AP

Rabbi Kasel befürchtet selbst Monate nach Bekanntwerden des Skandals, dass es noch lange dauern und viele neue Opfer geben wird, bis die religiösen Autoritäten endlich gegen Missbrauch vorgehen. Dennoch will er nicht so weit gehen, sie zu kritisieren. Die Enthüllungen seien ein Schock gewesen für alle und es brauche Zeit, bis sich das setze, sagt er. Viele jüngere Rabbiner sprächen zudem nun über das Problem der sexuellen Gewalt, wenn auch noch verklausuliert.

Eine junge Frau hat genug

Heute, fast ein Jahr nach der Veröffentlichung des «Haaretz»-Artikels über Chaim Walder, haben viele jüngere Ultraorthodoxe die Hoffnung auf ein Umdenken bei den geistlichen Oberhäuptern jedoch verloren. «Wenn eine solche Ungeheuerlichkeit nichts bewirkt, was dann?», fragt Rivka Klugman.

Die 22-Jährige lebt noch immer bei ihren Eltern in einem ultraorthodoxen Viertel im Zentrum von Jerusalem, geistig hat sie die Gemeinde aber verlassen. Sie führt ein riskantes Doppelleben, weshalb sie auch nicht mit ihrem richtigen Namen genannt werden will. Jeden Morgen verwandelt sie sich hinter einer Strassenecke oder in einem Hauseingang in ihr neues Selbst. Sie sitzt in einem Café in Jerusalem und trägt enge schwarze Jeans und ein weit ausgeschnittenes gelbes Top. «Erst seit ein paar Monaten laufe ich so herum. Ich habe lange gebraucht, bis ich mich getraut habe», erzählt sie. Am Abend «verkleidet» sich Klugman dann wieder in eine züchtige Ultraorthodoxe für die Familie.

Klugman ist als Kind von einem Cousin missbraucht worden. Jahrelang sagte sie nichts. Sie schämte sich und hatte Angst, die Familie werde ihr die Schuld dafür geben. «Ultraorthodoxe Mädchen werden dazu erzogen, nicht attraktiv auf Männer zu wirken.» Die Kleidungsvorschriften seien völlig verrückt: nur lange Röcke, ja keine Hosen, immer Strümpfe oder Socken, lange Ärmel, keine engen Oberteile, keine Ausschnitte und alles möglichst farblos. Auch zu viel Parfum oder Schminke sei verboten.

«Auch wir haben Hormone und verlieben uns als Jugendliche. Aber wir dürfen es nicht zeigen. Jede Form von Sexualität wird einem als schwere Sünde verkauft. Viele junge Frauen haben bis kurz vor der Hochzeit keine Ahnung, wie Kinder gezeugt werden», sagt Klugman.

Möglich ist das, weil der israelische Staat den Ultraorthodoxen nicht nur in religiösen Fragen weitgehende Autonomie einräumt. Die Rabbiner an der Spitze und die mit ihnen verbündeten ultraorthodoxen Politiker wehren sich vehement gegen jede staatliche Einmischung und haben dank dieser Abschottung weitreichende Kontrolle über ihre Gemeinden.

In den Schulen der Charedim stehen Fächer wie Biologie oder Chemie nicht auf dem Lehrplan. Die Polizei kümmert sich aber auch kaum um Rechtsbrüche in den Vierteln der Strenggläubigen. Selbst schwere Verbrechen wie Kindesmissbrauch werden deshalb intern geregelt. Das heisst oft: von überforderten Rabbinern totgeschwiegen. Sowohl im Fall Meshi-Zahav als auch im Fall Walder hatte die Polizei Hinweise auf sexuellen Missbrauch erhalten, ist diesen aber nicht nachgegangen.

Rivka Klugman ist wütend auf ihre Gemeinde. Sie hat mit 17 Jahren einen psychischen Zusammenbruch erlitten und ist schwer depressiv geworden. Als sie den Missbrauch, den sie erlebt hatte, zum ersten Mal ansprach, sagte ihre Mutter nur, kleine Mädchen würden sich oft Dinge ausdenken. Die Eltern brachten sie zu verschiedenen Ärzten. Einer riet, die Tochter so bald wie möglich zu verheiraten. Ein anderer warf ihr vor, den Cousin verführt zu haben. Ein fragwürdiger Naturheiler begrabschte sie während der Therapie. Drei Jahre lang ging das so, dann holte sich Klugman professionelle Hilfe bei einer säkularen Psychiaterin.

Früher hat die 22-Jährige als Assistentin bei einem Zahnarzt gearbeitet. Seit einem Jahr besucht sie nun eine staatliche Schule für charedische Frauen, um ihre Bildungslücken zu füllen. Dort hat sie zum ersten Mal gehört, was eine Zelle und was ein Atom ist. Sie träumt davon, einen Bachelor in Naturwissenschaften zu machen. Erst einmal will sie aber Geld verdienen und zu Hause ausziehen. Sie weiss, dass sie damit den völligen Bruch mit der Familie riskiert. Aber Rivka Klugman mag sich nicht mehr länger verstecken.

Gäste an einer ultraorthodoxen Hochzeit in Jerusalem.

Gäste an einer ultraorthodoxen Hochzeit in Jerusalem.

Oded Balilty / AP

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