“Sie haben mir meine Stadt gestohlen”-Moutier verliert Bewohner

2021 haben die Projurassier in Moutier gewonnen. Die Stadt wechselt den Kanton. Daraufhin traten 13 probernische Gemeinderäte zurück. Diesen Herbst sind wieder Gemeindewahlen. Was machen die Proberner jetzt?

Die Nachmittagssonne scheint auf den Hang oberhalb des Zentrums von Moutier. Dort oben steht das Schloss. Früher war es der Sitz der Berner Landvögte. Heute ist hier die Berner Kantonsverwaltung zu Hause. Doch nicht mehr lange.

Unten vor dem «Cheval Blanc» stehen zwei Männer. Einer sagt: «Wo ist die Berner Fahne auf dem Schloss?» Der andere sagt, er hätte sich schon darüber beschwert. «Man hat mich an den Concierge verwiesen. Das Hissen der Fahne ist seine Aufgabe.»

Doch die Berner Fahne ist weg. Der Mast auf dem Dach: nackt.

Die beiden Männer heissen Patrick Tobler und Patrick Röthlisberger. Früher waren sie Politiker in Moutier. Tobler für die SVP, Röthlisberger für die FDP. Tobler und Röthlisberger kämpften für den Verbleib ihrer Stadt im Kanton Bern. Am 28. März 2021 haben sie verloren. Endgültig. Moutier wird jurassisch. Auch der Fahnenmast auf dem Schloss.

«Aber jetzt noch nicht», sagt Röthlisberger. «Noch ist Moutier bernisch, und solange das so ist, gehört die Berner Fahne an diesen Mast.»

Röthlisberger ist kurz nach der Abstimmung weggezogen. In den Berner Jura. Da sei es ruhiger, sagt er. «Und wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich da keine Jura-Fahne.» Auch Patrick Tobler will weg. Sobald er einen passenden Hof gefunden hat. Die beiden sagen, so wie sie empfänden viele Proberner in Moutier. Wer könne, ziehe weg.

Seit 50 Jahren haben die Menschen in Moutier darüber gestritten, ob sie Berner oder Jurassier sind. Neunmal haben sie darüber abgestimmt. Der Ausgang war jeweils knapp. Am 28. März 2021 stimmten 55 Prozent der Stimmbevölkerung für den Wechsel zum Kanton Jura.

Im Nachgang zu dieser Abstimmung ist ein Drittel der Mitglieder im Stadtparlament zurückgetreten. Sie waren allesamt Proberner. Am 27. November finden erneut Kommunalwahlen in Moutier statt.

Jahrzehntelang verlief zwischen den Probernern und Projurassiern die schärfste Front der Schweiz. Die Menschen demonstrierten, beschmierten Strassenschilder, manchmal prügelten sie sich mit der Polizei. Die Medien schrieben von einer geteilten Stadt, dem «Schweizer Belfast».

Jetzt haben die Proberner verloren und fragen sich, ob sie hier künftig eine Statistenrolle übernehmen oder die Bühne räumen wollen.

Früher galt Moutier als geteilte Stadt, als «Schweizer Belfast».

Früher galt Moutier als geteilte Stadt, als «Schweizer Belfast».

Bild links: Das Hotel Restaurant du Cheval Blanc, Stammbeiz der Proberner. Bild rechts: Patrick Tobler und Patrick Röthlisberger.

Exil im Plattenbau

Stéphanie Nobel, Jahrgang 1983, wurde all das zu viel. Sie ist in Moutier aufgewachsen, in einem probernischen Elternhaus. Doch Politik habe in der Familie keine grosse Rolle gespielt. Später absolvierte Nobel eine Lehre als Coiffeuse, heiratete und zog zwei Kinder gross. Sie kaufte mit ihrem Mann eine Wohnung. Doch dann kamen die Abstimmungen.

Mit jedem Urnengang sei die Stimmung in Moutier aggressiver geworden, sagt Nobel. Die Projurassier veranstalteten Demonstrationen mit Tausenden Teilnehmern. Für Nobel ist klar: Es sollten Machtdemonstrationen sein. «Zu diesen Demonstrationen ist der halbe Kanton Jura angereist.» Zu den Gegendemonstrationen sei niemand aus Bern angereist.

Also beschloss Stéphanie Nobel, sich zu engagieren. Sie nahm an probernischen Demonstrationen teil, verteilte Flyer. Zunächst diskutierte sie auch mit ihren gemässigt projurassischen Freunden. Doch die Gespräche arteten aus. Irgendwann hat sie damit aufgehört.

Nobel sagt, sie schaffe es einfach nicht, die Projurassier zu verstehen. Für diese sei Deutsch zu sprechen, plötzlich zum Makel geworden. Sie erzählt davon, wie man ihrer Tante die Autoreifen zerstach, wie Blumen auf Gräbern mit Berner Namen ausgerissen wurden, wie Projurassier an einer Demonstration einen Sarg mitführten. «Das ist nicht unsere Mentalität und sicher nicht die Mentalität, die ich meinen Kindern vorleben will.»

Die Leute gingen nur noch in Geschäfte, die von Personen ihres Lagers geführt werden. Nobel sagt, die Jurafrage überdecke alles und führe dazu, dass selbst alltägliche Probleme der Lokalpolitik aufgeladen würden.

Vor der letzten Abstimmung hat Nobel gehofft, dass die Proberner gewinnen würden und sich die Stimmung wieder beruhigt. Sie sagt, eigentlich sei es üblich, nach einer verlorenen Abstimmung das Resultat zu akzeptieren und sich einer anderen Sache zuzuwenden. «Aber sie haben über Jahre immer wieder eine neue Abstimmung forciert.»

Noch am Tag der Abstimmung fasste sie den Entschluss: Sie wollte weg. Am nächsten Tag schrieben sie und ihr Mann ihre Eigentumswohnung aus.

Jetzt, anderthalb Jahre nach der Abstimmung, sitzt sie im Wohnzimmer ihrer Wohnung in Bévilard, Berner Jura. Die Jurafrage sei hier weit weg, und die Leute grüssen sie hier auf der Strasse. Doch der Konflikt schmerzt sie immer noch. Nobel sagt: «Auf eine gewisse Weise haben sie mir meine Stadt gestohlen.»

Stéphanie Nobel sagt, nach Moutier wolle sie nicht mehr zurück.

Stéphanie Nobel sagt, nach Moutier wolle sie nicht mehr zurück.

«Politique de merde»

Wenn Emile Kohler, Jahrgang 1946, über Moutier spricht, ist es, als ob der Ort in seinen Erinnerungen zweimal existierte. Da ist das Moutier, das 1970 einen grossen Empfang für ihn ausrichtete. Kohler errang damals mit seinem Team die Goldmedaille an den Weltmeisterschaften im Schiessen. Moutier dankte es ihm mit Blasmusik, einer Einlage der Majorettes und einer Freinacht in allen Bistrots. Die Stadt wurde damals von den Probernern regiert. Über dieses Moutier spricht Kohler mit Stolz.

Doch Emile Kohler kennt auch ein anderes Moutier. Eines, das in seinen Augen immer dominanter wurde.

In den 1980er Jahren sass Kohler sechs Jahre lang für die SVP im Stadtparlament. Er erinnert sich, wie die Projurassier immer wieder den Saal verliessen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Er sagt: «Als letztes Jahr 13 probernische Parlamentarier zurücktraten, hat man das skandalisiert.»

Die Provokateure seien aber die anderen gewesen, die Projurassier. Beispiele dafür hat Kohler genug. Da ist die Geschichte mit «Fritz», dem Soldatendenkmal, das an die Grenzbesetzung im Ersten Weltkrieg erinnert. Die Projurassier haben es beschmiert, gestürzt, enthauptet und angezündet. Oder als die Projurassier nach ihrem Abstimmungssieg das Rathaus von Moutier mit einer Jura-Fahne verhüllten, die so gross wie ein Mehrfamilienhaus war.

Aus einer Mappe nimmt Kohler eine Broschüre. Darin sind Argumente für den Verbleib im Kanton Bern aufgelistet. Die wichtigsten hat er mit Leuchtstift hervorgehoben. Es geht um Tarife im Pflegeheim, um Steuern und Immobilienwerte. Fazit der Broschüre: Der Wechsel zum Kanton Jura kostet zu viel.

Emile Kohler hält seine Broschüre fest. So als ob da alles stehen würde, was man zur Jurafrage wissen müsste. So als ob diese Broschüre die nüchterne Antwort hätte sein können. Würde, hätte, könnte. Für Emile Kohler ist klar: Hätte das Berner Kantonsparlament die Proberner unterstützt, müsste er jetzt nicht im Konjunktiv denken.

Vor zehn Jahren reichte ein bernisch-jurassischer Grossrat eine Motion ein. Damals gleisten die Kantone Jura und Bern ein Verfahren auf, das es den Gemeinden erlauben sollte, kommunal über ihre Kantonszugehörigkeit abzustimmen. Die Motion forderte vom Berner Regierungsrat, keine solche Rahmenbedingungen zu schaffen und damit auch die Abstimmungen in Moutier zu verhindern. Sowohl der Berner Regierungsrat als auch der Grossrat sprachen sich gegen die Motion aus.

Kohler und zahlreichen Probernern schwante damals bereits: Moutier ist verloren. Denn die Projurassier haben mit ihren Festen und Kampagnen immer mehr junge Menschen für sich gewinnen können. Kohler sagt, die Leute seien vor der Abstimmung regelrecht paralysiert gewesen.

Drei Wochen nach der Abstimmung vom 28. März hat Emile Kohler seinen neuen Mietvertrag unterschrieben. Heute wohnt er in Bévilard. Er ist sich sicher, dass noch mehr Proberner Moutier verlassen würden, wenn sie denn könnten. «Aber es gibt Bauern mit ihren Höfen, Familien, die ein Haus oder eine Wohnung gekauft haben. Die können nicht so schnell weg wie ich.»

Und doch: Kohler glaubt, der Graben zwischen den beiden Lagern in Moutier könnte sich eines Tages wieder schliessen. Aber ohne ihn und nicht in naher Zukunft. Es brauche wenigstens eine, vielleicht sogar zwei Generationen.

Emile Kohler fährt immer noch mehrmals in der Woche nach Moutier, um als Concierge in einem Haus zu arbeiten. Und dreimal in der Woche fährt er von Bévilard nach Crémines, wo seine Frau in einem Pflegeheim lebt. Moutier liegt dazwischen. Doch es gibt einen Umfahrungstunnel.

Emile Kohler präsentiert seine Trophäensammlung.

Emile Kohler präsentiert seine Trophäensammlung.

Bild links: Kohler auf seinem neuen Balkon in Bévilard (BE). Bild rechts: Als er diesen Pokal erhielt, gab es den Kanton Jura noch gar nicht.

Bienvenue im «Cheval Blanc», dem Reduit Bernois

Patrick Röthlisberger und Patrick Tobler sitzen inzwischen im «Cheval Blanc». Wer hier einkehrt, ist Proberner. Als 2017 die Abstimmung über den Wechsel Moutiers zum Kanton Jura annulliert wurde, tranken Röthlisberger und Tobler hier Champagner.

Im «Cheval Blanc» ist Bern nicht Unterdrücker, sondern Garant für wirtschaftliche Stabilität und kulturelle Bedeutung.

Tobler sagt, die Realität im Kanton Jura werde weniger schön sein als der Traum davon. Auch Röthlisberger fürchtet, wirtschaftlich werde Moutier immer unattraktiver, gute Steuerzahler würden gehen, und auch der Service public werde abgebaut. Tobler sagt, die Proberner hätten versucht, der Bevölkerung all das klarzumachen. «Aber es war, als ob sie in einer Parallelwelt lebte.»

Tatsächlich hat die Stadt an Attraktivität verloren. Während in weiten Teilen der Schweiz Kleinstädte boomen, schrumpft Moutier. Allerdings tut es das schon seit Jahrzehnten. 1997 zählte die Stadt 8000 Einwohnerinnen und Einwohner. 2021 waren es noch 7300.

Die Einwohnerkontrolle macht dafür wirtschaftliche Gründe geltend und weist darauf hin, dass der Sog der grossen Schweizer Städte auch die Jungen in Moutier erreiche.

Er komme immer seltener hierher, sagt Röthlisberger. Vornehmlich zum Arbeiten, Röthlisberger leitet in Moutier immer noch eine Firma. Doch zum Einkaufen fahre er inzwischen lieber nach Biel. Die Politik in Moutier gehe ihn nichts mehr an.

Patrick Tobler sagt, dass auch er Moutier bald verlassen werde. Trotzdem hat er mit Gleichgesinnten je eine Liste für den Gemeinde- und Stadtrat aufgestellt. Vertreter der SVP, der FDP und der Partei Moutier à venir suchten nach Kandidaten für eine alternative Liste.

Diese Listen seien wichtig, sagt Tobler. Einige Proberner hätten die Wahl andernfalls boykottiert. Tobler sagt, die Menschen, die hier bleiben müssten, brauchten eine politische Alternative. Ein Gedränge ist um die Listenplätze nicht entstanden.

Die Zahl der Kandidaten ist in Moutier allerdings generell gesunken. Für die Wahl in die Stadtregierung stehen 28 und fürs Parlament 35 Prozent weniger Kandidaten zur Wahl als vor vier Jahren.

Abgerissener Bern-Sticker im Zentrum von Moutier. Wem gehört die Stadt?

Abgerissener Bern-Sticker im Zentrum von Moutier. Wem gehört die Stadt?

Vae victis?

Einige hundert Schritte vom «Cheval Blanc» entfernt liegt das Rathaus von Moutier. Hier hängen doppelt so viele Fahnen, wie das Gebäude Stockwerke hat.

Eine für den Kanton Jura, eine für Moutier. Darunter sechs weitere Fahnen. Es sind die Wappen der drei jurassischen Bezirke Delsberg, Pruntrut und Freiberge. Dann nochmals Moutier.

Vor dem Rathaus hängen aber auch die Fahnen von La Neuveville und Courtelary. Berner Jura. Zumindest am Rathaus ist der Jura vereint.

Im Sitzungszimmer hat Valentin Zuber Platz genommen. Er ist Stadtrat des Parti socialiste autonome du sud du Jura. Schon sein Vater hat hier als projurassischer Stadtpräsident gesessen. Jetzt ist Valentin Zuber der Kopf der Projurassier. Und als solcher hat er versucht, deren Strategie umzukehren.

Zuber will weg von identitären Diskursen und weg von der Segregation von Probernern und Projurassiern. All das gehöre in die 1970er Jahre, sagt Zuber. Heute würden andere Themen, wie der Klimawandel, die Jugendlichen viel mehr umtreiben. Die neue Agenda laute: erst die Jurafrage beenden, dann den Klimawandel bekämpfen.

Valentin Zuber glaubt, dieser Strategiewechsel sei geglückt. Er ist überzeugt, dass sein Lager gewonnen hat, weil man viele junge Menschen aus Proberner Familien überzeugen konnte. Er sagt: «Das war keine Identitätsfrage.» Es sei der Stimmbevölkerung um Nähe und um politisches Gewicht gegangen.

«Jura», das ist nach Zuber in erster Linie ein geografischer Begriff. Ob daraus eine Identität abgeleitet wird, ist für ihn eine individuelle Entscheidung.

Im Rathaus von Moutier dominieren seit den 1980er Jahren die Projurassier.

Im Rathaus von Moutier dominieren seit den 1980er Jahren die Projurassier.

Bild links: Zuber fühlt sich einer jurassischen Schicksalsgemeinschaft zugehörig. Bild rechts: Valentin Zuber sagt, bei der Abstimmung sei es nicht um Identität gegangen.

Auch wenn sich Zuber darum bemüht, Identität von der Politik zu trennen: Letztlich hat sie auch für ihn den Ausschlag gegeben. Er fühle sich als Teil einer jurassischen Schicksalsgemeinschaft, sagt er und spricht von einer «historischen Wahrheit», wonach Moutier jurassisch sei.

Zuber sagt, es sei auch künftig möglich, sich als Bernerin oder Berner zu fühlen und in Moutier zu leben. Schliesslich gebe es auch in der Ajoie bis heute stramme Proberner.

Für die Gemeinderatswahlen vom 27. November wünscht er sich, dass einige Proberner gewählt werden; dass sie sich einbringen und die Stimmen ihrer Wählerschaft hörbar machen. Dass einige Proberner weggezogen sind, bedauert Zuber. Doch momentan handle es sich dabei um ein Randphänomen.

Aber Zuber sagt auch: «Wenn wir die Abstimmung verloren hätten, würde ich mich vielleicht auch fragen, ob ich noch hier leben möchte.»

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