So wirkt sich die Energiekrise auf die Gas- und Strompreise aus

Kann sich Deutschland von russischem Gas lösen? Wie wirkt sich die Energiekrise auf die Strom-, Sprit- und Gaspreise aus? Alle Zahlen, täglich aktualisiert.

Wer heute einen Gas- oder Stromvertrag abschliesst, zahlt je nach Haushaltsgrösse Hunderte, zum Teil Tausende Euro mehr als im vergangenen September. Die folgende interaktive Karte zeigt die tagesaktuellen Strom- und Gaspreise für eine vierköpfige Familie in Ihrem Ort sowie einen Vergleich zum Vorkrisenniveau.

Der Grund für den Anstieg: massive Preissprünge an den Beschaffungsmärkten, ausgelöst durch den Ukraine-Krieg und die Sanktionspolitik von Russland und der EU.

Steigende Kosten für Gas und Strom

Die höheren Beschaffungskosten der Gasversorger machen sich derzeit in erster Linie bei Neukunden-Tarifen bemerkbar. In Deutschland wird jede zweite Wohnung von einer Gasheizung versorgt; hinzu kommen 6 Prozent, die über Fernwärme mit Erdgas beheizt werden. Der grösste Verbraucher ist allerdings die Industrie.

Gas kostet bei Neuabschluss 4670 Euro im Jahr, Strom 2240 Euro

Kosten¹ für 20 MWh Gas und 4 MWh Strom, in Euro

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Preisexplosion wegen historisch niedriger Füllstände in den Gasspeichern.

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Russischer Überfall auf die Ukraine.

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Gazprom drosselt erstmals die Gaslieferungen durch Nord Stream 1.

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Bis März 2024 gilt ein reduzierter Mehrwertsteuersatz (7 Prozent).

Dass die Energiekrise nun auf einen weiteren Höhepunkt zusteuert, hat mehrere Gründe. Bereits im Winter 2021/22 führten historisch niedrige Füllstände in den Gasspeichern – insbesondere in Anlagen von Gazprom Germania – zu einem starken Anstieg der Energiekosten. Die Unruhe am Gasmarkt trieb auch den Strompreis nach oben. Der Wegfall der EEG-Umlage zum 1. Juli 2022 änderte daran wenig.

Gas-Speicher müssen zu 95 Prozent voll sein

Die Bundesregierung schreibt den Betreibern von Gasspeichern deshalb nun Mindestfüllstände vor: Am 1. November müssen sie zu 95 Prozent gefüllt sein. Dieses Ziel hat Deutschland am 12. Oktober erreicht. Zum Vergleich: In Polen waren die Speicher schon seit Ende Mai zu 95 Prozent gefüllt.

Gasspeicher zu 96,0 Prozent gefüllt

Füllstand deutscher Gasspeicher, in Prozent

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Am 1. 10. mussten die Speicher zu 85% voll sein.

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Am 1. 11. müssen die Speicher zu 95% voll sein.

Die Speicher füllen sich allerdings immer seltener mit russischem Erdgas, weil Gazprom die Lieferungen über Nord Stream 1 Mitte Juni zunächst auf 40, im August dann auf 20 Prozent der ursprünglichen Menge reduzierte.

Gasspeicher füllen sich

Tägliche Veränderung der Füllstände der Gasspeicher, in Prozentpunkten

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Gazprom drosselt erstmals die Gaslieferungen durch Nord Stream 1.

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Routinemässige Wartungsarbeiten an Nord Stream 1.

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Kompletter Lieferstopp über Nord Stream 1.

Gas-Speicher können sich schnell wieder leeren

Selbst wenn die Gasspeicher im November komplett voll sein sollten, könnten sie sich daher innert weniger Monate wieder leeren, zumal das Gas nicht ausschliesslich für deutsche Haushalte reserviert ist; es kann von Händlern jederzeit ins EU-Ausland verkauft werden. Wie viel von dem eingelagerten Gas im Land verbleibt, und wie viel exportiert wird, ist der Bundesregierung nicht bekannt.

Durch Nord Stream 1 fliesst kein Gas mehr

Über Nord Stream 1 liefert Russland inzwischen gar kein Gas mehr. Ursprünglich hatte Gazprom einen nur dreitägigen Lieferstopp ab dem 31. August verkündet. Doch der Stopp blieb bestehen, angeblich wegen eines technischen Problems.

Nach Deutschland fliesst kein russisches Gas mehr

Tägliche Gasflüsse aus Russland über Nord Stream 1, Jamal und Transgas, in Mio. m³

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Russischer Überfall auf die Ukraine Ende Februar.

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Gazprom drosselt erstmals die Gaslieferungen durch Nord Stream 1.

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Routinemässige Wartungsarbeiten an Nord Stream 1.

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Kompletter Lieferstopp über Nord Stream 1.

Ohne entsprechende Massnahmen könnte das Gas nun knapp werden. Eine EU-Verordnung sieht daher vor, dass Industrie und private Haushalte ihren Gasverbrauch freiwillig um insgesamt 15 Prozent senken. In der vergangenen Woche ist er stark zurückgegangen. Das Wetter spielte dabei eine Rolle, vermutlich aber auch die steigende Zahl der Firmenpleiten.

Gasverbrauch unter dem Soll

Wöchentlicher Gasverbrauch in Deutschland (Schätzung), in GWh

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Ungewöhnlich kühle Temperaturen führen Ende September zu einem steigenden Verbrauch.

Sollte der Winter überdurchschnittlich kalt werden und Russland weiterhin kein Gas über Nord Stream 1 liefern – was nach dem mutmasslichen Sabotageakt an der Pipeline wahrscheinlich ist –, müsste Deutschland wohl auch seine Gasexporte weiter einschränken.

Deutschland exportiert¹ derzeit 762 GWh Gas am Tag

7-Tage-Schnitt der täglichen Gasflüsse aus Deutschland in angrenzende Staaten, in GWh

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Gazprom drosselt erstmals die Gaslieferungen durch Nord Stream 1.

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Kompletter Lieferstopp über Nord Stream 1.

Die Zeiten von billigem Gas sind vorbei

Andernfalls droht ein erneuter Preissprung, weil noch mehr Gasversorger kurzfristig Ersatz einkaufen müssten. Doch am europäischen Gasmarkt sind die Preise immer noch hoch; im Falle eines dauerhaften Lieferstopps würden sie wieder steigen.

Gas kostet an der Börse 108 Euro je MWh

Gaspreis¹ am Referenzmarkt Dutch TTF Natural Gas, in Euro je MWh

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Preisexplosion wegen historisch niedriger Füllstände in den Gasspeichern im Winter 2021/22.

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Russischer Überfall auf die Ukraine Ende Februar 2022.

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Die Bundesnetzagentur kauft im grossen Stil Gas an den Börsen ein.

Wurde beim Gas-Einkauf Steuergeld verschwendet?

Die Netzbetreiberkooperation Trading Hub Europe (THE) hat im Auftrag der Bundesnetzagentur bereits mehrere Milliarden Kubikmeter Gas an den Energiebörsen geordert. 15 Milliarden Euro bekam das Unternehmen dafür von der Staatsbank KfW. Das sorgte kurzfristig für volle Speicher, dürfte für die Verbraucher aber noch teuer werden – zumal das Vorgehen des Unternehmens den Gaspreis laut einem «Spiegel»-Bericht unnötig in die Höhe trieb.

Grosshändler, die sich auf dem deutschen Markt kurzfristig Strom besorgen müssen, zahlen ebenfalls mehr als vor dem Ukraine-Krieg.

Strom kostet an der Börse 181 Euro je MWh

7-Tages-Schnitt des Strompreises am Spotmarkt¹, in Euro je MWh

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Wegen historisch niedriger Füllstände in den Gasspeichern kommt es im Winter 2021/2022 zu einer Preisexplosion.

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Russischer Überfall auf die Ukraine Ende Februar 2022.

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Gazprom drosselt erstmals die Gaslieferungen durch Nord Stream 1.

Geht es nach dem Wunsch der EU-Kommission, sollen die russischen Gaslieferungen aber ohnehin reduziert werden: bis Ende 2022 um zwei Drittel im Vergleich zum Vorjahr. Dieses Ziel hat die EU nun früher als gedacht erreicht – allerdings eher unfreiwillig.

Bis Ende 2022 sollen russische Gasimporte in die EU um zwei Drittel sinken

Wöchentliche Gaslieferungen aus Russland in die EU, in Mio. m³

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Russischer Überfall auf die Ukraine Ende Februar.

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Gazprom drosselt erstmals die Gaslieferungen durch Nord Stream 1.

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Kompletter Lieferstopp über Nord Stream 1.

Bis Ende des Jahrzehnts will die EU dann komplett unabhängig sein von russischem Gas. Dabei setzt sie langfristig auf erneuerbare Energien, kurz- und mittelfristig auf vergleichsweise teures verflüssigtes Erdgas (LNG), zum Beispiel aus Katar und den USA, wo es vor allem durch Fracking gewonnen wird.

LNG soll Gas aus Russland ersetzen

Die deutsche Bundesregierung plant deshalb den Bau mehrerer LNG-Terminals. Zwei schwimmende Terminals gehen frühestens zum Jahreswechsel ans Netz. Um die ausgefallenen russischen Lieferungen zu ersetzen, braucht Deutschland aber rund 30 dieser Flüssiggas-Tanker. Wegen der hohen internationalen Nachfrage werden die Schiffe immer teurer.

Die EU importiert inzwischen mehr Flüssiggas als russisches Gas

Wöchentliche LNG-Lieferungen in die EU, in Mio. m³

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Russischer Überfall auf die Ukraine Ende Februar.

Wegen der angespannten Lage am Gasmarkt empfehlen viele Experten, so viel Gas wie möglich in die Gasspeicher zu leiten, statt es für die Stromerzeugung zu nutzen.

Mehr Strom aus Gas erzeugt als im Vorjahr

Der Grossteil des Erdgases wird in deutschen Haushalten zwar für das Heizen verbraucht, sein Anteil an der Stromerzeugung ist aber immer noch vergleichsweise hoch. Seit Mitte Juli hat Deutschland fast durchgängig mehr Strom aus Erdgas erzeugt als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.

12 Prozent des Stroms stammen derzeit aus Erdgas

Wöchentliche Stromerzeugung, in TWh

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Deutschland schaltet Ende 2021 drei weitere Kernkraftwerke ab.

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Russischer Überfall auf die Ukraine Ende Februar 2022.

Um den Anteil zu verringern, müsste der von Gaskraftwerken erzeugte Strom kurzfristig ersetzt werden durch Strom aus Kohlekraftwerken, die vor der Stilllegung stehen oder sich in der Reserve befinden. Mit der zweiten Stufe des Notfallplans und einer entsprechenden Verordnung sind nun die formellen Voraussetzungen erfüllt. Seit 1. Oktober wird neben der bereits aktivierten Steinkohle auch die Braunkohlereserve wieder hochgefahren.

Bald auch kein Atom-Strom mehr

Ende April 2023 dürfte sich die Lage weiter zuspitzen: Dann schaltet Deutschland die noch verbliebenen Kernkraftwerke ab. Einer weiteren Laufzeitverlängerung sowie einer Reaktivierung der bereits stillgelegten Kraftwerke haben alle Regierungsparteien ausser der FDP eine Absage erteilt.

Strommix von Deutschlands Nachbarn ist klimafreundlicher

Anteil der Energieträger an der Stromerzeugung im Jahr 2021, in Prozent

Habeck hält am Fracking-Verbot fest

Auch die Förderung von Fracking-Gas leistet laut Robert Habeck (Grüne) in der gegenwärtigen Situation keinen sinnvollen Beitrag zu einer sicheren Energieversorgung in Deutschland. Gleichzeitig will Habeck auf die Verstromung von Erdgas nicht komplett verzichten, um Blackouts zu verhindern. Mit den deutschen Schiefergas-Vorkommen könnte das Land den Eigenbedarf an Gas laut Umweltbundesamt mehr als ein Jahrzehnt lang vollständig decken und wäre in dieser Zeit nicht mehr auf Importe angewiesen. Im Jahr 2021 schätzte eine mit Umweltschützern besetzte Expertenkommission das Risiko von Fracking für das deutsche Trinkwasser als «gering» ein.

Diesel teurer als vor der Tankrabatt-Einführung

Ein steigender Gaspreis macht auch Industrieprodukte teurer, etwa Düngemittel, was sich wiederum auf die Weizen- und Lebensmittelpreise auswirkt. Die Sanktionspolitik Russlands und der EU trieb auch die Preise für Rohöl und Benzin nach oben.

Benzin kostet im Schnitt 2,01 Euro je Liter

Tagesdurchschnitts-Preis in Deutschland für 1 Liter Super E5 im Jahr 2022, in Euro

Höchster/niedrigster Preis¹

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Russischer Überfall auf die Ukraine Ende Februar.

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Zwischen 1. Juni und 31. August gilt der Tankrabatt (35 Cent).

Ein Liter Diesel kostet in Deutschland nun mehr als vor der Einführung des Tankrabatts. In fast allen Nachbarländern ist der Kraftstoff billiger, etwa in Frankreich, Polen, Tschechien oder Österreich.

Diesel kostet im Schnitt 2,17 Euro je Liter

Tagesdurchschnitts-Preis in Deutschland für 1 Liter Diesel im Jahr 2022, in Euro

Höchster/niedrigster Preis¹

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Russischer Überfall auf die Ukraine Ende Februar.

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Zwischen 1. Juni und 31. August gilt der Tankrabatt (17 Cent).

Darum ist Gas im Osten teurer, Strom im Norden

Zu den Preissprüngen am Gas- und Strommarkt kommen regionale Unterschiede hinzu. Diese lassen sich in der Regel auf unterschiedlich hohe Netzentgelte zurückführen: Beim Strom sind sie im Norden sehr hoch, beim Gas vor allem im Osten. Deshalb ist in Mecklenburg-Vorpommern das Erdgas teurer und in Schleswig-Holstein der Strom.

Für die unterschiedlich hohen Netzentgelte gibt es im Wesentlichen zwei Gründe: Je mehr in einer Region in Netzausbau und Versorgungssicherheit investiert werden muss, etwa für die Integration erneuerbarer Energien, und je ländlicher diese Region ist, desto höher ist das Netzentgelt. Die Kosten für die Integration erneuerbarer Energien umfassen auch den Unterhalt von fossilen Ersatzkraftwerken.

Das Netzentgelt macht nur einen kleinen Teil des Gaspreises aus

Zusammensetzung des Gaspreises bei einem Verbrauch von 20 MWh, in Prozent

Haushalte in Grossstädten hingegen profitieren in der Regel von günstigeren Tarifen. Dort sind die Netze gut ausgelastet, und die Kosten verteilen sich auf mehr Verbraucher.

Datenanalyse, Grafiken, Text: Simon Haas. Karte: Nicolas Staub. Dashboard: Michel Grautstück. Mitarbeit: Roland Shaw, Charlotte Eckstein, Rico Klatte.

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