Kann sich Deutschland von russischem Gas lösen? Wie wirkt sich die Energiekrise auf die Strom-, Sprit- und Gaspreise aus? Alle Zahlen, täglich aktualisiert.
Wer heute einen Gas- oder Stromvertrag abschliesst, zahlt je nach Haushaltsgrösse Hunderte, zum Teil Tausende Euro mehr als im vergangenen September. Die folgende interaktive Karte zeigt die tagesaktuellen Strom- und Gaspreise für eine vierköpfige Familie in Ihrem Ort sowie einen Vergleich zum Vorkrisenniveau.
Der Grund für den Anstieg: massive Preissprünge an den Beschaffungsmärkten, ausgelöst durch den Ukraine-Krieg und die Sanktionspolitik von Russland und der EU.
Steigende Kosten für Gas und Strom
Die höheren Beschaffungskosten der Gasversorger machen sich derzeit in erster Linie bei Neukunden-Tarifen bemerkbar. In Deutschland wird jede zweite Wohnung von einer Gasheizung versorgt; hinzu kommen 6 Prozent, die über Fernwärme mit Erdgas beheizt werden. Der grösste Verbraucher ist allerdings die Industrie.
Dass die Energiekrise nun auf einen weiteren Höhepunkt zusteuert, hat mehrere Gründe. Bereits im Winter 2021/22 führten historisch niedrige Füllstände in den Gasspeichern – insbesondere in Anlagen von Gazprom Germania – zu einem starken Anstieg der Energiekosten. Die Unruhe am Gasmarkt trieb auch den Strompreis nach oben. Der Wegfall der EEG-Umlage zum 1. Juli 2022 änderte daran wenig.
Gas-Speicher müssen zu 95 Prozent voll sein
Die Bundesregierung schreibt den Betreibern von Gasspeichern deshalb nun Mindestfüllstände vor: Am 1. November müssen sie zu 95 Prozent gefüllt sein. Dieses Ziel hat Deutschland am 12. Oktober erreicht. Zum Vergleich: In Polen waren die Speicher schon seit Ende Mai zu 95 Prozent gefüllt.
Die Speicher füllen sich allerdings immer seltener mit russischem Erdgas, weil Gazprom die Lieferungen über Nord Stream 1 Mitte Juni zunächst auf 40, im August dann auf 20 Prozent der ursprünglichen Menge reduzierte.
Gas-Speicher können sich schnell wieder leeren
Selbst wenn die Gasspeicher im November komplett voll sein sollten, könnten sie sich daher innert weniger Monate wieder leeren, zumal das Gas nicht ausschliesslich für deutsche Haushalte reserviert ist; es kann von Händlern jederzeit ins EU-Ausland verkauft werden. Wie viel von dem eingelagerten Gas im Land verbleibt, und wie viel exportiert wird, ist der Bundesregierung nicht bekannt.
Durch Nord Stream 1 fliesst kein Gas mehr
Über Nord Stream 1 liefert Russland inzwischen gar kein Gas mehr. Ursprünglich hatte Gazprom einen nur dreitägigen Lieferstopp ab dem 31. August verkündet. Doch der Stopp blieb bestehen, angeblich wegen eines technischen Problems.
Ohne entsprechende Massnahmen könnte das Gas nun knapp werden. Eine EU-Verordnung sieht daher vor, dass Industrie und private Haushalte ihren Gasverbrauch freiwillig um insgesamt 15 Prozent senken. In der vergangenen Woche ist er stark zurückgegangen. Das Wetter spielte dabei eine Rolle, vermutlich aber auch die steigende Zahl der Firmenpleiten.
Sollte der Winter überdurchschnittlich kalt werden und Russland weiterhin kein Gas über Nord Stream 1 liefern – was nach dem mutmasslichen Sabotageakt an der Pipeline wahrscheinlich ist –, müsste Deutschland wohl auch seine Gasexporte weiter einschränken.
Die Zeiten von billigem Gas sind vorbei
Andernfalls droht ein erneuter Preissprung, weil noch mehr Gasversorger kurzfristig Ersatz einkaufen müssten. Doch am europäischen Gasmarkt sind die Preise immer noch hoch; im Falle eines dauerhaften Lieferstopps würden sie wieder steigen.
Wurde beim Gas-Einkauf Steuergeld verschwendet?
Die Netzbetreiberkooperation Trading Hub Europe (THE) hat im Auftrag der Bundesnetzagentur bereits mehrere Milliarden Kubikmeter Gas an den Energiebörsen geordert. 15 Milliarden Euro bekam das Unternehmen dafür von der Staatsbank KfW. Das sorgte kurzfristig für volle Speicher, dürfte für die Verbraucher aber noch teuer werden – zumal das Vorgehen des Unternehmens den Gaspreis laut einem «Spiegel»-Bericht unnötig in die Höhe trieb.
Grosshändler, die sich auf dem deutschen Markt kurzfristig Strom besorgen müssen, zahlen ebenfalls mehr als vor dem Ukraine-Krieg.
Geht es nach dem Wunsch der EU-Kommission, sollen die russischen Gaslieferungen aber ohnehin reduziert werden: bis Ende 2022 um zwei Drittel im Vergleich zum Vorjahr. Dieses Ziel hat die EU nun früher als gedacht erreicht – allerdings eher unfreiwillig.
Bis Ende des Jahrzehnts will die EU dann komplett unabhängig sein von russischem Gas. Dabei setzt sie langfristig auf erneuerbare Energien, kurz- und mittelfristig auf vergleichsweise teures verflüssigtes Erdgas (LNG), zum Beispiel aus Katar und den USA, wo es vor allem durch Fracking gewonnen wird.
LNG soll Gas aus Russland ersetzen
Die deutsche Bundesregierung plant deshalb den Bau mehrerer LNG-Terminals. Zwei schwimmende Terminals gehen frühestens zum Jahreswechsel ans Netz. Um die ausgefallenen russischen Lieferungen zu ersetzen, braucht Deutschland aber rund 30 dieser Flüssiggas-Tanker. Wegen der hohen internationalen Nachfrage werden die Schiffe immer teurer.
Wegen der angespannten Lage am Gasmarkt empfehlen viele Experten, so viel Gas wie möglich in die Gasspeicher zu leiten, statt es für die Stromerzeugung zu nutzen.
Mehr Strom aus Gas erzeugt als im Vorjahr
Der Grossteil des Erdgases wird in deutschen Haushalten zwar für das Heizen verbraucht, sein Anteil an der Stromerzeugung ist aber immer noch vergleichsweise hoch. Seit Mitte Juli hat Deutschland fast durchgängig mehr Strom aus Erdgas erzeugt als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.
Um den Anteil zu verringern, müsste der von Gaskraftwerken erzeugte Strom kurzfristig ersetzt werden durch Strom aus Kohlekraftwerken, die vor der Stilllegung stehen oder sich in der Reserve befinden. Mit der zweiten Stufe des Notfallplans und einer entsprechenden Verordnung sind nun die formellen Voraussetzungen erfüllt. Seit 1. Oktober wird neben der bereits aktivierten Steinkohle auch die Braunkohlereserve wieder hochgefahren.
Bald auch kein Atom-Strom mehr
Ende April 2023 dürfte sich die Lage weiter zuspitzen: Dann schaltet Deutschland die noch verbliebenen Kernkraftwerke ab. Einer weiteren Laufzeitverlängerung sowie einer Reaktivierung der bereits stillgelegten Kraftwerke haben alle Regierungsparteien ausser der FDP eine Absage erteilt.
Habeck hält am Fracking-Verbot fest
Auch die Förderung von Fracking-Gas leistet laut Robert Habeck (Grüne) in der gegenwärtigen Situation keinen sinnvollen Beitrag zu einer sicheren Energieversorgung in Deutschland. Gleichzeitig will Habeck auf die Verstromung von Erdgas nicht komplett verzichten, um Blackouts zu verhindern. Mit den deutschen Schiefergas-Vorkommen könnte das Land den Eigenbedarf an Gas laut Umweltbundesamt mehr als ein Jahrzehnt lang vollständig decken und wäre in dieser Zeit nicht mehr auf Importe angewiesen. Im Jahr 2021 schätzte eine mit Umweltschützern besetzte Expertenkommission das Risiko von Fracking für das deutsche Trinkwasser als «gering» ein.
Diesel teurer als vor der Tankrabatt-Einführung
Ein steigender Gaspreis macht auch Industrieprodukte teurer, etwa Düngemittel, was sich wiederum auf die Weizen- und Lebensmittelpreise auswirkt. Die Sanktionspolitik Russlands und der EU trieb auch die Preise für Rohöl und Benzin nach oben.
Ein Liter Diesel kostet in Deutschland nun mehr als vor der Einführung des Tankrabatts. In fast allen Nachbarländern ist der Kraftstoff billiger, etwa in Frankreich, Polen, Tschechien oder Österreich.
Darum ist Gas im Osten teurer, Strom im Norden
Zu den Preissprüngen am Gas- und Strommarkt kommen regionale Unterschiede hinzu. Diese lassen sich in der Regel auf unterschiedlich hohe Netzentgelte zurückführen: Beim Strom sind sie im Norden sehr hoch, beim Gas vor allem im Osten. Deshalb ist in Mecklenburg-Vorpommern das Erdgas teurer und in Schleswig-Holstein der Strom.
Für die unterschiedlich hohen Netzentgelte gibt es im Wesentlichen zwei Gründe: Je mehr in einer Region in Netzausbau und Versorgungssicherheit investiert werden muss, etwa für die Integration erneuerbarer Energien, und je ländlicher diese Region ist, desto höher ist das Netzentgelt. Die Kosten für die Integration erneuerbarer Energien umfassen auch den Unterhalt von fossilen Ersatzkraftwerken.
Haushalte in Grossstädten hingegen profitieren in der Regel von günstigeren Tarifen. Dort sind die Netze gut ausgelastet, und die Kosten verteilen sich auf mehr Verbraucher.
Datenanalyse, Grafiken, Text: Simon Haas. Karte: Nicolas Staub. Dashboard: Michel Grautstück. Mitarbeit: Roland Shaw, Charlotte Eckstein, Rico Klatte.