Kann sich Deutschland von russischem Gas lösen und dennoch bis November die Speicher füllen? Wie wirkt sich die Krise auf die Strom-, Sprit- und Gaspreise aus? Alle Zahlen, täglich aktualisiert.
Wer heute einen Gas- oder Stromvertrag abschliesst, zahlt je nach Haushaltsgrösse Hunderte, zum Teil Tausende Euro mehr als im vergangenen September. Die folgende interaktive Karte zeigt die tagesaktuellen Strom- und Gaspreise für eine vierköpfige Familie in Ihrem Ort sowie einen Vergleich zum Vorkrisenniveau.
Der Grund für den Anstieg: massive Preissprünge an den Beschaffungsmärkten, ausgelöst durch den Ukraine-Krieg und die Sanktionspolitik von Russland und der EU.
Energiepreise steigen stark an
Die höheren Beschaffungskosten der Gasversorger machen sich derzeit in erster Linie bei Neukunden-Tarifen bemerkbar, in der Grundversorgung zahlen private Haushalte inzwischen deutlich weniger. Ursprünglich sollten die gestiegenen Kosten über eine Umlage an alle Endverbraucher weitergegeben werden, nun könnte diese einer Preisbremse weichen.
In Deutschland wird jede zweite Wohnung von einer Gasheizung versorgt; hinzu kommen 6 Prozent, die über Fernwärme mit Erdgas beheizt werden. Der grösste Verbraucher ist allerdings die Industrie.
Auch Strom wird teurer
Dass die Energiekrise nun auf einen weiteren Höhepunkt zusteuert, hat mehrere Gründe. Bereits im Winter 2021/22 führten historisch niedrige Füllstände in den Gasspeichern – insbesondere in Anlagen von Gazprom Germania – zu einem starken Anstieg der Energiekosten. Die Unruhe am Gasmarkt trieb auch den Strompreis nach oben. Auch der Wegfall der EEG-Umlage zum 1. Juli änderte daran wenig.
Gasspeicher müssen zu 95 Prozent voll sein
Die Bundesregierung schreibt den Betreibern von Gasspeichern deshalb nun Mindestfüllstände vor: Am 1. Oktober müssen sie zu 85 Prozent gefüllt sein, am 1. November zu 95 Prozent. Zum Vergleich: In Polen waren die Speicher schon seit Ende Mai zu 95 Prozent gefüllt.
Die Speicher füllen sich allerdings immer seltener mit russischem Erdgas, weil Gazprom die Lieferungen über Nord Stream 1 Mitte Juni zunächst auf 40, im August dann auf 20 Prozent der ursprünglichen Menge reduzierte. Selbst wenn die Gasspeicher im November komplett voll sein sollten, könnten sie sich daher innert weniger Monate wieder leeren.
Durch Nord Stream 1 fliesst kein Gas mehr
Über Nord Stream 1 liefert Russland inzwischen gar kein Gas mehr. Ursprünglich hatte Gazprom einen nur dreitägigen Lieferstopp ab dem 31. August verkündet. Nun bleibt der Stopp bestehen, angeblich wegen eines technischen Problems.
Gasimporte decken nicht den Verbrauch
Ohne entsprechende Massnahmen könnte das Gas nun knapp werden. Der Notfallplan der EU sieht eine Reduktion des Gasverbrauchs um 15 Prozent vor. Zumindest in der deutschen Industrie ging der Verbrauch in den vergangenen Wochen stark zurück.
Sollte Russland weiterhin kein Gas über Nord Stream 1 liefern und der Winter überdurchschnittlich kalt werden, müsste Deutschland wohl auch seine Gasexporte stark einschränken.
Die Zeiten von billigem Gas sind vorbei
Andernfalls droht ein erneuter Preissprung, weil noch mehr Gasversorger kurzfristig Ersatz einkaufen müssten. Doch am europäischen Gasmarkt sind die Preise ohnehin schon hoch; im Falle eines dauerhaften Lieferstopps würden sie weiter steigen.
Deutschland kauft teures Gas an der Börse
Die Netzbetreiberkooperation Trading Hub Europe hat im Auftrag der Bundesnetzagentur bereits mehrere Milliarden Kubikmeter Gas an den Energiebörsen geordert. 15 Milliarden Euro bekam das Unternehmen dafür von der Staatsbank KfW. Das sorgte kurzfristig für volle Speicher, dürfte für die Verbraucher aber noch teuer werden.
Grosshändler, die sich auf dem deutschen Markt kurzfristig Strom besorgen müssen, zahlen ebenfalls deutlich mehr als vor dem Ukraine-Krieg.
Geht es nach dem Wunsch der EU-Kommission, sollen die russischen Gaslieferungen aber ohnehin reduziert werden: bis Ende 2022 um zwei Drittel im Vergleich zum Vorjahr. Dieses Ziel hat die EU nun früher als gedacht erreicht – allerdings eher unfreiwillig.
Bis Ende des Jahrzehnts will die EU dann komplett unabhängig sein von russischem Gas. Dabei setzt sie langfristig auf erneuerbare Energien, kurz- und mittelfristig auf vergleichsweise teures verflüssigtes Erdgas (LNG), zum Beispiel aus Katar und den USA, wo es vor allem durch Fracking gewonnen wird.
LNG soll Gas aus Russland ersetzen
Die deutsche Bundesregierung plant deshalb den Bau mehrerer LNG-Terminals. Zwei schwimmende Terminals gehen frühestens zum Jahreswechsel ans Netz. Um die ausgefallenen russischen Lieferungen zu ersetzen, braucht Deutschland aber rund 30 dieser Flüssiggas-Tanker. Wegen der hohen internationalen Nachfrage werden die Schiffe immer teurer.
Wegen der angespannten Lage am Gasmarkt empfehlen Experten, so viel Gas wie möglich in die Gasspeicher zu leiten, statt es für die Stromerzeugung zu nutzen.
Deutschland erzeugt mehr Strom aus Gas als im Vorjahr
Der Grossteil des Erdgases wird in Deutschland zwar für das Heizen von Gebäuden verbraucht, sein Anteil an der Stromerzeugung ist aber immer noch vergleichsweise hoch. Seit Mitte Juli hat Deutschland fast durchgängig mehr Strom aus Erdgas erzeugt als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.
Um den Anteil zu verringern, müsste der von Gaskraftwerken erzeugte Strom kurzfristig ersetzt werden durch Strom aus Kohlekraftwerken, die vor der Stilllegung stehen oder sich in der Reserve befinden. Mit der zweiten Stufe des Notfallplans und einer entsprechenden Verordnung sind nun die formellen Voraussetzungen erfüllt. Am 1. Oktober soll neben der bereits aktivierten Steinkohle auch die Braunkohlereserve aktiviert werden.
Bald auch kein Atomstrom mehr
Ende 2022 dürfte sich die Lage weiter zuspitzen: Dann schaltet Deutschland die noch verbliebenen Kernkraftwerke ab. Einer Laufzeitverlängerung oder gar einer Reaktivierung der stillgelegten Kraftwerke haben alle Regierungsparteien ausser der FDP eine Absage erteilt. Lediglich zwei Kernkraftwerke will Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) bis April 2023 weiterlaufen lassen.
Habeck hält am Fracking-Verbot fest
Auch die Förderung von Fracking-Gas leistet laut Habeck in der gegenwärtigen Situation keinen sinnvollen Beitrag zu einer sicheren Energieversorgung in Deutschland. Gleichzeitig will Habeck auf die Verstromung von Erdgas nicht komplett verzichten, um Blackouts zu verhindern. Mit den deutschen Schiefergas-Vorkommen könnte das Land den Eigenbedarf an Gas laut Umweltbundesamt mehr als ein Jahrzehnt lang vollständig decken und wäre in dieser Zeit nicht mehr auf Importe angewiesen. Im Jahr 2021 schätzte eine mit Umweltschützern besetzte Expertenkommission das Risiko von Fracking für das deutsche Trinkwasser als «gering» ein.
Diesel teurer als vor der Tankrabatt-Einführung
Ein steigender Gaspreis macht auch Industrieprodukte teurer, etwa Düngemittel, was sich wiederum auf die Weizen- und Lebensmittelpreise auswirkt. Die Sanktionspolitik Russlands und der EU trieb auch die Preise für Rohöl und Benzin nach oben.
Ein Liter Diesel kostete in Deutschland zeitweise mehr als vor der Einführung des Tankrabatts. In vielen Nachbarländern ist der Kraftstoff deutlich billiger, etwa in Polen, Tschechien oder Österreich. Frankreich hat zum 1. September ausserdem seinen Tankrabatt erhöht, von 18 auf 30 Cent je Liter.
Zu den Preissprüngen am Gas- und Strommarkt kommen regionale Unterschiede hinzu. Diese lassen sich in der Regel auf unterschiedlich hohe Netzentgelte zurückführen: Beim Strom sind sie im Norden sehr hoch, beim Gas vor allem im Osten. Deshalb ist in Mecklenburg-Vorpommern das Erdgas teurer und in Schleswig-Holstein der Strom.
Darum ist Gas im Osten teurer, Strom im Norden
Für die unterschiedlich hohen Netzentgelte gibt es im Wesentlichen zwei Gründe: Je mehr in einer Region in Netzausbau und Versorgungssicherheit investiert werden muss, etwa für die Integration erneuerbarer Energien, und je ländlicher diese Region ist, desto höher ist das Netzentgelt. Die Kosten für die Integration erneuerbarer Energien umfassen auch den Unterhalt von fossilen Ersatzkraftwerken.
Haushalte in Grossstädten hingegen profitieren in der Regel von günstigeren Tarifen. Dort sind die Netze gut ausgelastet, und die Kosten verteilen sich auf mehr Verbraucher.
Datenanalyse, Grafiken, Text: Simon Haas. Karte: Nicolas Staub. Dashboard: Michel Grautstück. Mitarbeit: Roland Shaw, Charlotte Eckstein, Rico Klatte.