Strafrecht-Experten zum Fall Vincenz: Erstaunlich hartes Urteil

In ihrem Podcast haben sich die Anwälte Duri Bonin und Gregor Münch seit Monaten intensiv mit dem Prozess gegen den früheren Raiffeisen-Chef befasst. Dass dabei keine Zeugen auftreten konnten, sehen sie kritisch.

Pierin Vincenz hat den Raiffeisen-Prozess in erster Instanz mehrheitlich verloren; die Härte des Urteils hat manche Strafrechtler überrascht.

Michael Buholzer / Keystone

Herr Münch, Herr Bonin, das Gericht verurteilte Pierin Vincenz zu einer Freiheitsstrafe von fast vier Jahren. Überraschte Sie das Urteil?

Münch: Es kommt in der Schweiz nicht alle Tage vor, dass Prominente derart hart bestraft werden und ins Gefängnis müssen. Das kennt man eher aus den USA, wo schwere Strafen auch gegen bekannte Personen üblicher sind.

Bonin: Vorliegend ist es mit dem Schaden so eine Sache, wenn wir uns etwa den Kauf der Commtrain durch die Aduno anschauen. Die ursprüngliche Hypothese der Staatsanwaltschaft war, dass der Kaufpreis zu hoch gewesen sei. Das hat sich aber in der Strafuntersuchung nicht erhärtet, der Übernahmepreis war in Ordnung.

Wenn es nicht am Kaufpreis lag: Woran richtet sich das Urteil aus?

Eingeklagt wurde, dass Vincenz als Aduno-Verwaltungsratspräsident und Stocker als Verwaltungsratsmitglied auf die Akquisition der Commtrain hingewirkt und sie dabei arglistig ihre «Schattenbeteiligungen» an der Commtrain verschwiegen hätten. Hätten Vincenz und Stocker offenlegen müssen, dass sie auf beiden Seiten des Verhandlungstischs sitzen? Und hätten sie ihren Gewinn aus dieser Transaktion abgeben müssen? Das Gericht bejaht nun beide Fragen und sagt, das Verheimlichen habe ihnen ermöglicht, über den erhaltenen Betrag zu verfügen, obwohl sie keinen Anspruch darauf gehabt hätten. Für den Fall, dass man diese Fragen bejaht, haben Gregor Münch und ich in unserem Podcast ein etwas milderes Urteil von drei Jahren prognostiziert, was noch eine teilbedingte Strafe ermöglicht hätte: beispielsweise 12 Monate in Halbgefangenschaft, 24 Monate aufgeschoben mit Probezeit.

Die Verteidigung wird Berufung einlegen. Wo sehen Sie mögliche Angriffspunkte?

Münch: Die Verteidiger werden das Rad nicht neu erfinden. Das Obergericht Zürich muss sich erneut über alle Akten beugen und kann die Beweise nochmals völlig frei würdigen. Es könnte den Fall also anders beurteilen, selbst wenn die Verteidigung keinen entscheidenden neuen Spin gibt. Oft tritt man mit denselben Argumenten an, greift aber gewisse Begründungen der ersten Instanz auf, um der eigenen Position zum Durchbruch zu verhelfen.

Zeugen wurden während des Prozesses keine vorgeladen, obwohl die Verteidigungen das beantragten. Ist das normal?

Münch: Es ist von Kanton zu Kanton verschieden, es gibt insofern 26 eidgenössische Strafprozessordnungen. In Zürich ist es vollkommen üblich. Es gibt hier eine Aversion gegen die direkte Beweisabnahme. Im Aargau oder in Bern werden auch an kleineren Verhandlungen mit Einzelrichtern drei oder vier Auskunftspersonen an einem Morgen befragt, auch wenn es nur um eine bedingte Geldstrafe geht.

Bonin: Und in der Militärjustiz wird jeder Beweis abgenommen, alle Aussagen werden vor Gericht reproduziert. In wenigen Tagen sehen Sie einen Zeugen nach dem anderen, hören die Gutachter und die Beschuldigten. Da ergibt sich ein viel kompletteres Bild, als wenn man sein Urteil nur anhand der Akten fällt.

Wie lässt sich diese Zürcher Eigenart erklären?

Bonin: Die Zürcher «Praxis» kommt wohl aus der alten Strafprozessordnung. Bis 2011 hatte jeder Kanton seine eigenen Prozessregeln. In Zürich wurden im Gros der Fälle, an den Bezirksgerichten, die Beweise nicht abgenommen. Es gab parallel ein Geschworenengericht für schwerwiegende Fälle, wo es war wie heute bei der Militärjustiz. Das Geschworenengericht wurde abgeschafft, und die Bezirksgerichte behielten ihre «Praxis» bei.

Was macht es für einen Unterschied, wenn keine Zeugen im Gerichtssaal auftreten?

Bonin: Das Strafrecht nötigt dem Richter eine binäre Entscheidung ab: schuldig oder nicht. Das basiert letztlich auf einer Plausibilitätsprüfung, die eng an das Vorverständnis des Richters gebunden ist. Daher ist es so wichtig, nicht bloss das Papier mit den Aussagen zu sehen, weil alles Nonverbale verschwindet. Der Interpretationsspielraum weitet sich durch Aktenprozesse.

Pierin Vincenz sagte vor Gericht aus, er habe mit dem Raiffeisen-Präsidenten Johannes Rüegg-Stürm eine Vereinbarung gehabt, dass er in Stripklubs habe gehen dürfen. Rüegg-Stürm hatte in den Einvernahmen während der Strafuntersuchung ausgesagt, keine Ahnung davon gehabt zu haben.

Bonin: Das ist ein gutes Beispiel. Das Gericht bewertet für sein Urteil diese Aussagen. Wem glaubt es mehr, Vincenz’ späterer Aussage vor Gericht oder derjenigen von Rüegg-Stürm in der Untersuchung vor dem Staatsanwalt? Diese Wertung erfolgt nun, ohne dass sich das Gericht selbst ein Bild von Rüegg-Stürm gemacht hat. Wie überzeugend ist dieser aufgetreten? Das Gericht weiss es nicht, weil alles Nonverbale bei der Protokollierung verlorengegangen ist. Eine seriöse Wertung ist dadurch eigentlich nicht möglich.

Die Aussage ist vier Jahre her, und damals waren ja die Vorwürfe in der Anklage nicht bekannt.

Bonin: Ein Grund mehr, Rüegg-Stürm nochmals auf den Zahn zu fühlen.

Münch: Das Bundesgericht «zwingt» die Gerichte nur bei sogenannten Vier-Augen-Delikten zur Anhörung von Zeugen, weil es keine anderen Beweismittel gibt. Hier muss sich das Gericht vom einzigen Belastungszeugen selbst einen Eindruck verschaffen. Oft ist das aber eine Alibiübung, es stellt vier, fünf Fragen, um diese lästige Pflicht zu erfüllen. Dabei kann diese Befragung vor Gericht ein anderes Bild ergeben, zu einer anderen Dynamik führen. Das hilft übrigens nicht immer der Verteidigung.

Allerdings befragten die Richter die Beschuldigten. Hatten deren Auftritte einen Einfluss auf das Urteil?

Münch: Im Fall von Beat Stocker offenbar nicht. Duri Bonin und ich waren damals im Gerichtssaal und schätzten seinen Auftritt als sehr souverän ein. Er hat seine Position auf sympathische und nachvollziehbare Art dargelegt. Aber in Wirtschaftsprozessen sind die Aussagen der Beschuldigten und der Zeugen oft weniger relevant als das, was man zuvor in ihrer schriftlichen Kommunikation gefunden hat.

Konnten Beobachter in den acht Prozesstagen überhaupt das volle Bild erhalten, wenn wichtige Beweise nicht mehr vorgelegt und besprochen werden mussten?

Bonin: Man hat nur gehört, was die Staatsanwaltschaft den Beschuldigten vorwirft und was die Verteidigung entgegenhält. Die Beweise stecken in diesen Hunderten von Ordnern, die das Gericht studieren konnte, wir aber sahen sie nicht. Also nein, unser Bild ist alles andere als vollständig.

. . . und wir sind vielleicht auch deswegen überrascht?

Bonin: Genau.

Münch: Man muss einen Beweis nicht im Plädoyer erwähnen, damit das Gericht darauf abstellen kann. Dennoch denke ich nicht, dass die Staatsanwaltschaft und die Privatkläger in ihren Plädoyers relevante Dinge weggelassen haben.

Also wurden die sogenannten «smoking guns», die am stärksten belastenden Beweise, im Prozess präsentiert?

Münch: Ja, davon gehe ich aus.

Bonin: Das gilt auch für die relevanten Indizienketten, die sich wie bei einem Puzzle aus zahlreichen Teilen zusammensetzen. Auch daraus kann sich eine «smoking gun» ergeben. Aber um einen Beweis würdigen zu können, muss man diesen selbst sehen. Das Entscheidende liegt im Detail. Es reicht nicht, nur zu hören, was andere darüber sagen.

Im Raiffeisen-Prozess war mitentscheidend, welche Seite besser mit dem sehr umfangreichen Material umgehen konnte. Verändern sich solche Wirtschaftsfälle mit der Digitalisierung?

Münch: Bei Wirtschaftsstrafprozessen kann es zu einer zusätzlichen Verzerrung führen, wenn die Verteidiger nicht über ausreichende Mittel verfügen. Man stellt ihnen ein Gesamt-PDF mit den Akten zur Verfügung, das sie bestenfalls nach Stichworten durchsuchen können. Aber der Adobe Reader braucht für einen Suchlauf in grossen Dateien rasch einmal 15 oder 30 Minuten. Der Staatsanwaltschaft stehen dagegen kostenpflichtige, schnellere, ausgeklügelte Systeme zur Verfügung. Im Vincenz-Prozess konnten offenbar aber auch die Beschuldigten auf E-Discovery-Tools zurückgreifen, die sie teilweise sogar selbst entwickeln liessen.

Was leisten solche Systeme?

Münch: Sie erlauben es, das Material deutlich schneller zu durchsuchen und zu ordnen. Zum Teil sind die Systeme Cloud-basiert und verfügen dadurch über eine viel höhere Rechenleistung. Wir sind aber noch nicht so weit, dass künstliche Intelligenz das alles in den richtigen Kontext setzen könnte.

Braucht denn künftig jedes Verhandlungsteam seinen eigenen Daten-Analytiker?

Bonin: In den grossen Fällen sicher. Aber selbst bei kleinen Fällen kann die Datenmenge gross sein. Es gibt ja keinen Straffall mehr ohne Smartphone, das durchforstet wird.

Und sind die Gerichte schon in dieser digitalen Welt angekommen?

Bonin: Die Staatsanwaltschaft hat die Akten im Fall Vincenz, diese rund 500 Ordner, dem Gericht auch digital eingereicht. Die anderen Parteien wollten diese digitalen Akten, das Gericht lehnte das zunächst aber ab, man könne diese vor Ort kopieren kommen. Und anstatt eine digitale Videoübertragung fürs Publikum aufzusetzen, wurde das Publikum von all jenen Verhandlungstagen ausgeschlossen, an welchen das Gericht nicht im Theatersaal des Volkshauses tagen konnte. Die Grundeinstellung ist also noch immer: Wir haben unseren Gerichtssaal und unser Papier.

Pierin Vincenz erhielt einen Strafrabatt von 9 Monaten wegen der medialen Vorverurteilung. Die Medien berichteten längere Zeit aus der Anklageschrift, über die Spesenvorfälle von Vincenz wurde breit diskutiert, aber die Beschuldigten durften sich nicht dazu äussern. Wie kann man diese Asymmetrie verhindern?

Bonin: Von diesem Maulkorb hat mir Professor Niggli in meinem Podcast berichtet. Aus dem Gesetzestext käme mir gar nicht in den Sinn, dass ein solcher Maulkorb für die Beschuldigten zulässig ist. Ich habe auch noch nie davon gehört. Bei Zeugen und Auskunftspersonen ergibt das aber Sinn.

Münch: Apropos Vorverurteilung: Am ersten Verhandlungstag öffnete das Gericht am Nachmittag die Tür für die Angeklagten zunächst nicht. Vincenz musste für lange Minuten vor einer Vielzahl von Fotografen draussen warten. Das war ein trauriges Bild, er tat mir leid. Ein besseres Bild für einen Pranger kann man nicht zeichnen.

Die Unterlagen zur Transaktion über 2,9 Millionen Franken, die im Fall Vincenz eine zentrale Rolle spielte, beruhen auf einer Bankgeheimnisverletzung.

Münch: Zum Einzelfall kann ich mich mangels Aktenkenntnissen nicht äussern. Aber generell wird der Grundsatz der Formstrenge aufgeweicht, wenn es um schwerere Straftaten geht. Man will dann nicht, dass Täter bloss wegen Formfehlern davonkommen. Aber das ist problematisch: Wenn eine Person für vier Jahre ins Gefängnis muss, hat sie doch umso mehr Anspruch darauf, dass man sich an die Regeln des Strafverfahrens hält; an die Regeln, wie ein Beweis erhoben wird.

Gregor Münch.

Wird ein solches Urteil eine Wirkung auf Wirtschaftsführer haben?

Münch: Ich denke schon, dass dies ins Dispositiv von Wirtschaftskapitänen aufgenommen wird. Es wird den einen oder anderen aufschrecken. Man muss sich möglicher Interessenkonflikte viel bewusster werden.

Wird ein Gerichtsurteil von heutigen Moralvorstellungen beeinflusst, oder beeinflusst es diese selbst?

Münch: In einer idealen Welt sollte Moral ja nichts mit dem Strafrecht zu tun haben. Nur schon wenn diese Frage aufkommt, entwickelt sich das Strafrecht in eine falsche Richtung. Der Wertewandel hat in diesem Fall allerdings schon früher stattgefunden. In den letzten fünf, acht Jahren ging man nicht mehr mit den Kunden ins Cabaret. Diese Kultur liegt 15 oder 20 Jahre zurück.

Sie haben den Prozess am Bezirksgericht in Ihrem Podcast eng verfolgt. Werden Sie auch am Obergericht wieder vor Ort sein?

Münch: Das haben wir noch nicht besprochen. Im Moment ist bei mir die Luft aber komplett draussen. Ich bin ähnlich erschöpft, wie wenn ich selbst einen grossen Prozess bestritten hätte.

Bonin: Uns ist es nicht primär darum gegangen, ob die Beschuldigten jetzt tatsächlich schuldig sind oder nicht. Wir wollten in unserem Podcast anhand eines Beispiels aufzeigen, wie ein Strafprozess funktioniert – aus Sicht des Verteidigers, der Staatsanwaltschaft und des Gerichts. Für ein nächstes Mal müssten wir das besser mit unserer eigenen Anwaltstätigkeit koordinieren. Wir rechneten mit vier Prozesstagen, und daraus wurde ein dreimonatiges, intensives Podcasten. Ich bin sehr froh, dass jetzt Ostern ist.

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