Vanuatu setzt auf Internationalen Gerichtshof

Die Klimaziele des Pariser Abkommens werden längst nicht erreicht. Besorgte Regierungen und Aktivisten suchen nach neuen Druckmittel. Klimaklagen sind hoch im Kurs. Vanuatu will nun vom Internationalen Gerichtshof (IGH) hören, welche Verpflichtung zum Schutz der Bevölkerung Regierungen angesichts des Klimawandels haben.

Vanuatu ist in Gefahr: Die Folgen des Klimawandels betreffen und bedrohen den Inselstaat besonders.

Mario Tama / Getty

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In Shorts und bis zum Bauchnabel stand Simon Kofe, der Aussenminister von Tuvalu, im vergangenen November in seiner Heimat im Wasser. Er demonstrierte damit: Der Klimawandel bedroht seine Heimat im Pazifischen Ozean schon heute. Und die kleinen Inselstaaten selbst haben dazu kaum beigetragen. Deshalb sind finanzielle Unterstützung und politisches Handeln weltweit dringend notwendig.

«Wir können nicht auf Reden warten, wenn der Meeresspiegel um uns herum steigt», sagte er vor laufenden Kameras. Die Botschaft des Medien-Stunts war an die zig Tausende Diplomaten, Politiker, Unternehmer und Aktivisten gerichtet, die zu jener Zeit in Glasgow auf der COP26-Klimakonferenz über zusätzliche klimapolitische Verpflichtungen verhandelten.

Knapp ein Jahr später zieht eine weitere pazifische Inselnation in der klimapolitischen Debatte die Aufmerksamkeit auf sich. Weil der politische Prozess stockt, will Vanuatu nun vom Internationalen Gerichtshof (IGH) hören, welche Verpflichtung zum Schutz der Bevölkerung Regierungen angesichts des Klimawandels haben. Das soll helfen, weltweit Emissionsreduktionen zu beschleunigen. Der Inselstaat arbeitet seit Monaten daran, genügend politische Unterstützung für das Anliegen zu mobilisieren. Und das mit zunehmendem Erfolg.

Von Paris bis Den Haag: Das Gericht soll bei der Klimapolitik mitreden

Die Kampagne nimmt Fahrt auf. Das konnte man in der vergangenen Woche im Rahmen der Uno-Vollversammlung beobachten. Vanuatu braucht deren Zustimmung, jedenfalls eine einfache Mehrheit, um sein Anliegen vor den Internationalen Gerichtshof zu bringen.

«Wir glauben, dass rechtliche Klarheit durch das höchste Gericht der Welt dazu beitragen wird, noch mehr Klimaschutzmassnahmen anzustossen und das Pariser Abkommen zu stärken», sagte Nikenike Vurobaravu, Vanuatus Präsident, am Freitag in New York. «Beginnen wir, den Klimawandel nicht mehr in Grad Celsius oder Tonnen von Kohlenstoff zu messen, sondern in Form von Menschenleben, sehen wir: Die grundlegenden Menschenrechte werden verletzt.»

Der holzgetäfelte Saal des Uno-Hauptquartiers in New York ist als Kulisse weit weniger beeindruckend als die Meereswogen des Pazifischen Ozeans. Die Botschaft hat es dennoch in sich. Es wäre das erste Mal, dass der höchste Gerichtshof der Weltgemeinschaft sich dazu äussern würde, welche Verantwortung Regierungen in Zeiten steigender Temperaturen haben.

Jurastudenten fordern mehr Klimaschutz

Dabei hatte alles als eine Initiative von 27 Jurastudenten der University of the South Pacific, die auf verschiedene Inseln in der Region verstreut ist, im Jahr 2019 angefangen. Sie riefen eine Kampagne ins Leben, um regionale Politiker im Rahmen des Pazifik-Insel-Forums davon zu überzeugen, die Fragen des Klimawandels und seiner Auswirkungen auf die Menschenrechte vor den Internationalen Gerichtshof zu bringen. Dieser solle ein Gutachten darüber verfassen, welche rechtlichen Verpflichtungen Regierungen durch internationale Umweltverträge hätten, so die Idee. Sie zündete, Vanuatu führt nun die Kampagne an.

Der Inselstaat, mit einer Bevölkerung von rund 300 000 Einwohnern, ist eines der anfälligsten Länder der Welt. Seit mindestens dreissig Jahren stünden die Pazifischen Inseln an vorderster Front des Klimawandels, seien von existenziellen Bedrohungen betroffen, sagt etwa Christopher Bartlett. Er ist für die klimapolitische Strategie der Regierung von Vanuatu zuständig. Dabei gehe es nicht nur um den Anstieg des Meeresspiegels, sondern auch um Wirbelstürme und um Ernährungs- und Trinkwassersicherheit. Lokale Industrien und Einkommen – in Landwirtschaft, Fischerei und Tourismus – sind betroffen. «Wir verlieren unser Korallenriff und unser Ökosystem. Wir haben Krankheitsausbrüche bei Menschen, auch bei Pflanzen», erzählt Bartlett am Telefon.

Menschenrechte stünden auf dem Spiel. Die Klimaverhandlungen seien jedoch «festgefahren, ihre Auswirkungen sind sehr bescheiden», sagt Bartlett. Darum möchte Vanuatu rechtliche Klarheit schaffen und ein weiteres Instrument in der Hand halten, um den Klimaschutz weltweit zu beschleunigen – vor allem indem Länder dazu gebracht werden, ihre Emissionen schneller zu reduzieren.

Ein Gutachten hätte keine bindende Wirkung, es gäbe vorerst keine zwingenden Auswirkungen. Es könnte aber dennoch juristische Bedeutung und moralische Autorität haben, meint Bartlett. Diese Einschätzung wird von manchen Rechtsexperten geteilt; Regierungen könnten ein solches Gutachten nur schwer ignorieren.

Sollte die Kampagne erfolgreich sein und das Gericht sagen, dass Regierungen eine Verantwortung trügen, hätte sie enorme Auswirkungen auf Klimaklagen weltweit, sagt etwa Maria Antonia Tigre vom Sabin Center for Climate Change Law an der Columbia-Universität in New York.

«Sollte anerkannt werden, dass Menschenrechte durch den Klimawandel verletzt werden – wie auch immer der Gerichtshof das formulieren mag –, wird die Zahl von Klimaklagen in die Höhe schiessen», sagt sie. «Das ist eine riesige Sache.» Schon heute fordern Aktivisten über Klagen Schadenersatz für die Folgen des Klimawandels oder erzwingen zunehmend erfolgreich weitere Emissionsminderungen.

Hinter den Kulissen wächst die Unterstützung

In den vergangenen Monaten ist die Kampagne weit über Vanuatu, den Pazifischen Ozean und den Kreis der Jurastudenten hinausgewachsen. Allein in New York gab es viele Treffen mit Politikern, Diplomaten und Aktivisten aus der ganzen Welt, um diese von dem Unterfangen zu überzeugen.

Rund 83 Regierungen unterstützten heute die Initiative, sagt Christopher Bartlett. Das sei nicht mehr weit entfernt von einer einfachen Mehrheit in der Uno-Generalversammlung. Sie rechneten mit ungefähr 87 bis 89 Stimmen, die es braucht, um die nötige Zustimmung zu erhalten. «Es kommt immer darauf an, wer im Saal ist», sagt Bartlett.

Neben den pazifischen Inseln sei die Allianz durch die Unterstützung von Regierungen aus der Karibik und Afrika gewachsen. Im Sommer gab es einen weiteren Durchbruch: Australien und Neuseeland haben sich hinter die Initiative gestellt. Jacinda Ardern, die neuseeländische Premierministerin, nahm in New York auch bei einer Nebenveranstaltung der «Freunde und Champions» der Initiative teil.

Vanuatu hoffe nun, dass die Uno-Vollversammlung nach den COP27-Klimaverhandlungen, die im November in Sharm al-Sheikh stattfinden, Ende des Jahres über einen solchen Antrag abstimmen könne, sagt Bartlett, spätestens im kommenden Frühjahr.

Und was sagt der Westen?

In der Zwischenzeit geht die Arbeit hinter den Kulissen weiter. Auch mit der deutschen Staatssekretärin Jennifer Morgan, der Sonderbeauftragten für Klimafragen im Aussenamt, gab es in New York ein Treffen. Auf Nachfrage sagte Morgan, dass man sich noch intern zu einer Position berate. Aber: «Es ist ganz klar, dass sich die Inselstaaten in einer unhaltbaren Situation befinden.»

In Gesprächen mit weiteren Diplomaten aus Westeuropa taucht derweil die Frage auf, wie zielführend eine solche Kampagne überhaupt sein könne. Wer ist verantwortlich für den Klimawandel und seine Schäden? Wer muss was tun, wie viel Emissionen reduzieren – und zahlen? Diese Fragen, welche die internationale Klimapolitik seit Jahren strapazieren, müssten politisch gelöst werden, nicht rechtlich, sagt der Umweltbotschafter Franz Perrez vom Bundesamt für Umwelt. Er verhandelt für die Schweiz an den Klimakonferenzen. Eine rechtliche Interpretation dieser Fragen durch den Gerichtshof würde wohl nicht von allen Staaten geteilt.

Dennoch geht Franz Perrez im Gespräch davon aus, dass der Vorstoss eine Mehrheit in der Uno-Vollversammlung finden dürfte. Das Ergebnis werde dann davon abhängen, wie mutig oder vorsichtig der Gerichtshof in seinen Aussagen sein werde.

Vertretern aus Vanuatu ist klar, dass die Kampagne eine Gratwanderung meistern muss. An der genauen Formulierung der Frage, die dem IGH vorgelegt werden solle, werde noch getüftelt, heisst es in Gesprächen. Christopher Bartlett sagt beschwichtigend, dass die Resolution nicht von finanzieller Wiedergutmachung und Entschädigung spreche, sondern von bestehenden Verpflichtungen, Emissionen zu reduzieren. Davon gehen auch andere Gesprächspartner aus. Das heisst freilich nicht, dass eine erfolgreiche Kampagne und ein entsprechendes Gutachten des IGH keine Klimaklagen und Schadenersatzforderungen lostreten könnte. Diese Fragen sorgen schon im Vorlauf der COP27-Klimakonferenz für hitzige Verhandlungen und gegenseitige Anschuldigungen. Denn das Thema der klimabedingten Verluste und Schäden steht ganz weit oben auf der Agenda des Treffens.

Es könnte tatsächlich hilfreich sein, wenn ein internationales Gericht entschiede, dass alle Länder eine Verantwortung hätten, schreibt derweil ein anderer Diplomat vertraulich, vor allem die grossen und aufstrebenden Verschmutzer. Länder wie China, Indien, Saudiarabien und die USA hätten das Pariser Abkommen auch deswegen unterzeichnet, weil es nicht bindend sei. «Das würde den Druck erhöhen, mehr Anstrengungen zur Eindämmung des Klimawandels zu unternehmen.» In Europa würden Regierungen bereits verklagt und für schuldig befunden, ihre Emissionen nicht genügend zu verringern.

Das Problem ist doch: Die Klimaziele des Pariser Abkommens werden längst nicht erreicht. Die Emissionen steigen weiter, statt zurückzugehen. Aktivisten und betroffene Regierungen sehen sich deshalb nach neuen Druckmitteln um. «Ich kann durchaus verstehen, dass viele in der Zivilgesellschaft das Warten satthaben und andere Wege suchen, um die Regierungen zu stärkeren Klimaschutzmassnahmen zu zwingen», so der Diplomat.

NZZ Planet A

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Ist das Zeitalter der Inseln angebrochen?

In den internationalen Klimaverhandlungen spielen die kleinen Inselstaaten eine wichtige Rolle. So war das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens vor allem eine politische Geste von Industriestaaten, etwa der EU, an die Inselstaaten. Ihre Diplomaten wissen um ihre symbolische Schlagkraft.

Dabei wird nicht nur tief in die rhetorische Trickkiste gegriffen, um den Forderungen nach grösserer Unterstützung mehr Nachdruck zu verleihen. Die prekäre Existenz der Inselstaaten macht die Bedrohung durch den Klimawandel konkret und seine Risiken leichter vorstellbar. Das sei vor allem beim Klimawandel, der als Thema doch oft sehr abstrakt sein könne, wichtig, sagen Beteiligte. «Die Inselstaaten haben das Klima zu einer Frage von Leben und Tod gemacht», sagt Wendel Trio, der ehemalige Direktor des NGO-Netzwerkes Climate Action Network Europe.

Dass die Agenda der Inselstaaten zunehmend die internationalen Verhandlungen bestimmt, zeigt sich auch daran, dass der neue Hüter der Klimarahmenkonvention selbst aus einem kleinen Inselstaat kommt. Simon Stiell, der vor rund einem Monat seine Funktion übernahm, kämpfte seit Jahren für die Interessen von Grenada und ähnlichen kleinen Inselstaaten.

«Wie ihr habe ich die Realitäten des Klimawandels erlebt», sagte Stiell vor wenigen Tagen in New York und sicherte den Inselnationen seine Unterstützung zu – und die der Uno. «Ich verstehe, wie es ist, sich vorzustellen, dass das eigene Zuhause im Wasser verschwinden könnte.»

Die kommenden Jahre werden zunehmend im Zeichen der Inselstaaten stehen. Das stärkt ihre Stellung, ist aber auch ein zweischneidiges Schwert. Denn mit der steigenden Prominenz werden die politischen Forderungen wohl auch pragmatischer und gemässigter werden müssen. Die Zeiten, in denen aus dem Off heraus forsche Forderungen aufgestellt wurden, sind vorbei. Für Vanuatu ist die grössere Aufmerksamkeit aber wohl erst einmal nur von Vorteil.


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