Wie der Ukraine-Krieg Familien zerreisst

Witali Sacharenko und Lidia Sesenko führten ein glückliches Mittelklasse-Leben in Charkiw: eine Eigentumswohnung, zwei Autos und Badeferien in Ägypten. Nun leben Frau und Tochter in einer Flüchtlingsunterkunft in Lugano, und der Vater kämpft allein gegen die Verzweiflung an.

Jeden Morgen, wenn Witali Sacharenko aufwacht, herrscht in der Wohnung totale Finsternis. In der Dunkelheit ertastet der 37-Jährige dann sein Telefon. Meist hat er bereits eine Nachricht bekommen. Ein Foto von seiner Frau und seiner Tochter. Witali klickt dann auf das Bild, um eine Empfangsbestätigung zu senden. So wissen seine Liebsten, dass er noch am Leben ist.

Raketen und Einsamkeit

Witali lebt allein am Rande von Charkiw. Die zweitgrösste Stadt der Ukraine war monatelang schwer umkämpft. Inzwischen ist es den Ukrainern gelungen, den Feind zurückzudrängen. Trotzdem gehen jede Nacht noch immer Raketen auf sein Viertel nieder.

Witali hält deshalb Nachts die Rollos und die Vorhänge geschlossen, damit die Scheiben nicht durch den Druck einer Explosion zu Bruch gehen. Schon einmal hatten die Schrapnellkugeln einer Granate die Scheiben durchschlagen. Doch es ist nicht die Finsternis oder der Beschuss, was Witali am meisten zu schaffen macht. Es ist die Einsamkeit.

Witali in seinem Haus in Charkiw. Er ist fast der einzige Bewohner im ganzen Block.

Witali in seinem Haus in Charkiw. Er ist fast der einzige Bewohner im ganzen Block.

Moderne Wohnblöcke in Charkiw. Einst kauften Witali und Lidia hier ihre Traumwohnung. Heute ist die Siedlung verlassen und wird manchmal sogar beschossen.

Moderne Wohnblöcke in Charkiw. Einst kauften Witali und Lidia hier ihre Traumwohnung. Heute ist die Siedlung verlassen und wird manchmal sogar beschossen.

Seit über drei Monaten leben seine Frau Lidia und seine fünfjährige Tochter Tiffany nun schon in der Schweiz. «Es ist besser so», sagt Witali bei einem Treffen in seiner Wohnung. «Auch wenn ich mir jeden Tag wünsche, dass sie zurückkommen. Aber hier ist es gefährlich. Sie sollen dort bleiben, selbst wenn es mir das Herz zerreisst.»

Das letzte Mal gesehen hat Witali seine kleine Familie am 12. März. «Ich habe mich an der rumänischen Grenze von ihnen verabschiedet. Als sie weg waren, habe ich geweint.»

Die Familie war kurz nach Kriegsausbruch aus Charkiw geflohen. «Wir sahen russische Soldaten in den Strassen vor unserem Haus, die auf Ukrainer schossen, da wussten wir, wir müssen weg», erzählt Witali. Freunde haben sie nach Kiew mitgenommen, wo sie eine Zeitlang bei Bekannten unterkamen.

Dann flüchtete Lidia mit Tiffany nach Lugano. Dort lebt eine alte Studienfreundin, die ihnen anbot, sie eine Weile bei sich aufzunehmen. Witali konnte nicht mit ausreisen. Für Männer bis 60 Jahre ist es derzeit verboten, die Ukraine zu verlassen. Er kehrte nach Charkiw zurück. Seither fühlt er sich wie der einsamste Mensch auf dem Planeten.

Lidia und Tiffany haben nach einem Monat in der Wohnung der Freundin einen Platz in einer Flüchtlingsunterkunft in einem ehemaligen Kloster im Herzen von Lugano bekommen. Es stammt aus dem 17. Jahrhundert, Lidia gefällt vor allem die dazugehörige Kirche.

Im Kloster schläft sie zum ersten Mal seit Monaten wieder einigermassen gut. Sie ist dankbar für die Ruhe und den Frieden. Wäre da nicht die ständige Sorge um ihren Mann. «Ich habe solche Angst um ihn, mir wird oft richtig übel davon», sagt sie bei einem Gespräch auf einer Bank am Ufer des Luganersees.

Lidia und ihre Tochter Tiffany verbringen in diesem Sommer viel Zeit im Parco Ciani, einem Park am Ufer des Luganersees.

Lidia und ihre Tochter Tiffany verbringen in diesem Sommer viel Zeit im Parco Ciani, einem Park am Ufer des Luganersees.

Lidia liebt den Park in Lugano, er erinnert sie an ihren Lieblingspark in ihrer Heimatstadt Charkiw.

Lidia liebt den Park in Lugano, er erinnert sie an ihren Lieblingspark in ihrer Heimatstadt Charkiw.

Lidia spürt, dass es Witali schlecht geht. Sie versucht ihn aufzumuntern. Jeden Tag schickt sie ihm Fotos und Videos. Ununterbrochen ist sie an ihrem Mobiltelefon, um das Leben für Witali zu dokumentieren. Sie filmt Tiffany tanzend im Park am See oder grinsend mit einem von Schokolade-Glace verschmierten Gesicht. Der Vater soll sehen, dass es ihr gut geht. Lidia ruft Witali auch jeden Tag an und versucht dabei, nicht über den Krieg zu reden. Einfach ist das nicht.

Bis vor wenigen Monaten waren sie eine privilegierte Mittelstandsfamilie. Sie führten ein Leben wie viele in der Schweiz. Witali hatte einen gutbezahlten Bürojob, Lidia führte ein hippes Geschäft für Unterwäsche und Bademode. Sie besassen zwei Autos und eine neue Eigentumswohnung. Die Tochter besuchte Tanzstunden, die Familie machte Ferien im Ausland.

Noch im Dezember waren sie zusammen im ägyptischen Badeort Sharm el-Sheikh. Schon damals gab es zwar Gerüchte über einen bevorstehenden Angriff der Russen. Doch Witali und Lidia glaubten – wie alle in ihrem Umfeld – nicht, dass es so weit kommen würde. «Wir hatten das perfekte Leben und waren so naiv», sagt Lidia traurig.

Nun lebt sie mit fünfzig anderen ukrainischen Frauen, Kindern und älteren Männern in der Flüchtlingsunterkunft in dem früheren Kloster. Ihr Zimmer ist winzig, es passt gerade einmal ein Kajütenbett hinein, doch Lidia ist froh, dass sie mit Tiffany ein eigenes Zimmer hat und nicht in einem Schlafsaal untergebracht ist.

Erinnerung an bessere Zeiten. Witali hat ein altes Bild seiner Tochter auf dem Handy.

Erinnerung an bessere Zeiten. Witali hat ein altes Bild seiner Tochter auf dem Handy.

Witali arbeitet von zu Hause aus. Seine Wohnung verlässt er nur für die Einkäufe.

Witali arbeitet von zu Hause aus. Seine Wohnung verlässt er nur für die Einkäufe.

Einsamkeit und Erinnerung: Witalis Leben besteht nur noch aus Arbeit und der Sehnsucht nach seiner Tochter.

Dankbar für die Hilfe, beschämt über die Abhängigkeit

Immer wieder sagt sie, wie dankbar sie sei über die Aufnahme in der Schweiz. «Die Menschen hier in Lugano sind unglaublich nett und grosszügig», erzählt sie begeistert. «Fremde Leute haben uns Kleider und Spielzeuge für Tiffany gebracht, eine Frau hat mir ihren alten Laptop geschenkt, in einem Coiffure-Salon haben sie mir gratis die Haare geschnitten. Wir sind Fremde für die Menschen hier. Sie müssten uns nicht helfen, dennoch tun sie es! Das hat mich nachdenklich gestimmt. Wären wir auch so grosszügig gewesen an ihrer Stelle?»

Einfach ist es für die 37-Jährige nicht, ein Kriegsflüchtling zu sein. Es ist ein krasser sozialer Abstieg. «Ich war immer unabhängig und selbständig. Es fällt mir schwer, auf die Hilfe von anderen angewiesen zu sein. Es beschämt mich», sagt sie.

Ausserdem ist es nicht einfach, sich in der Schweiz über Wasser zu halten. Da Lidia und Tiffany in einer Flüchtlingsunterkunft leben und dort verpflegt werden, bekommen sie keine finanzielle Unterstützung vom Staat. Wenn sie mit dem Bus fahren oder in die Badi wollen, müssen sie selber dafür zahlen, und die Preise in der Schweiz sind für sie schwindelerregend.

Lidia würde gerne arbeiten. Sie hat sich als Putzfrau, Verkäuferin, Babysitterin, Pöstlerin und Gärtnerin beworben. Sie würde jede Arbeit annehmen. Doch bisher hat sie nichts gefunden, weil sie wegen Tiffany nur Teilzeit arbeiten könnte und noch kaum Italienisch spricht.

Märchen für die fünfjährige Tochter

Ihr Horizont ist eng geworden. Ihr Leben dreht sich fast nur noch um das Wohl der Tochter. Morgens bringt sie Tiffany mit dem Bus in den Kindergarten, am Nachmittag holt sie sie wieder ab. In der Zeit bis zum Abendessen versucht sie die Fünfjährige zu unterhalten. Sie spaziert mit ihr hinunter an den See und dann entweder rechts bis zum Springbrunnen oder links bis zum Spielplatz oder zur Badi.

Das Mädchen fährt zufrieden neben ihr auf einem rosa-violetten Roller, den die Mutter im Internet für wenig Geld erstanden hat. Sie scheint als Einzige in der Familie einigermassen zufrieden mit der aktuellen Situation. Von aussen wirkt es zumindest so.

«Um es für sie einfacher zu machen, erzähle ich ihr Märchen», erklärt Lidia. «Ich sage ihr, dass wir hier in den Ferien sind, dass es ihrem Vater gut geht, dass der Krieg vorbei ist und die bösen Männer eingesperrt sind. Sie scheint die traumatischen letzten Tage in Charkiw vergessen zu haben.»

Auch sich selbst hatte Lidia am Anfang etwas vorgemacht: Sie glaubte, nur kurz in der Schweiz zu bleiben. Mittlerweile hat sie realisiert, dass es noch einige Zeit dauern wird, bis sie zurückkehren können.

Lidia und Tiffany sind in einer Flüchtlingsunterkunft in einem leerstehenden Kloster im Herzen von Lugano untergekommen.

Lidia und Tiffany sind in einer Flüchtlingsunterkunft in einem leerstehenden Kloster im Herzen von Lugano untergekommen.

Tiffany gefällt es in der Schweiz. Die Fünfjährige scheint den Kriegshorror, den sie und ihre Mutter während den letzten Tagen in Charkiw erlebten, vergessen zu haben.

Tiffany gefällt es in der Schweiz. Die Fünfjährige scheint den Kriegshorror, den sie und ihre Mutter während den letzten Tagen in Charkiw erlebten, vergessen zu haben.

Für Witali gibt es derweil nur noch die Arbeit. Er sitzt den ganzen Tag in der leeren Wohnung vor seinem Laptop. Als Vertreter einer Firma, die Baumaterial vertreibt, kann er online arbeiten und bekommt zum Glück noch einen Lohn. Aber die immer gleiche Routine macht ihn fertig. «Ich gehe nur noch nach draussen, um Einkäufe zu machen», sagt er.

Mit seinem kahl rasierten Schädel und seinem Kinnbart sieht Witali ein bisschen aus wie ein Mönch. Und so lebt er auch: wie in einer Kartause, allein. Jeden Morgen meditiert er und hört dazu beruhigende Musik. «Es ist wie in einem Gefängnis, man braucht Routine und darf sich nicht gehen lassen. Sonst ist es vorbei.» An das alte Leben oder die Zukunft denkt er dabei so wenig wie möglich. Doch die Realität holt ihn schnell wieder ein.

Witali und seine Frau hatten sich 2019 die Eigentumswohnung in einer Neubausiedlung gekauft, erst kurz vor dem Krieg sind sie eingezogen. «Es war ideal gelegen, am Rande der Stadt, rundum Natur», sagt Witali.

Doch mit dem Krieg wurde die tolle Wohnlage plötzlich zum Nachteil. Die Front war zwischendurch nur noch sieben Kilometer entfernt. In dem Wäldchen hinter den Blöcken versteckten sich russische Saboteure. Das Viertel wurde konstant mit Raketen beschossen.

«Die meisten sind erst gar nicht mehr eingezogen. Andere sind wieder gegangen. Heute ist so gut wie niemand mehr da», sagt Witali. Noch immer liegt in den Fluren Baumaterial herum. Draussen herrscht ebenso Leere wie drinnen. Zwischen den Wohnsilos wächst Gras.

Er fühle sich wie Robinson Crusoe, sagt Witali. «Morgens rede ich mit mir selbst, frage mich, wie es mir geht, und rätsle, wie der Tag wohl sein wird.» Doch selbst die Ungewissheit liesse sich aushalten, wäre da nicht diese Sehnsucht nach seiner Frau und seiner Tochter. «Das ist mit Abstand das Schlimmste.»

Auch Lidia quält die Trennung. Wenn sie in Lugano auf der Strasse ein Kind mit Vater und Mutter sieht, könnte sie jedes Mal losheulen. Und wenn wir auf Witali zu sprechen kommen, füllen sich ihre Augen mit Tränen, und sie ringt um Fassung. Lidia will nicht, dass Tiffany sie so sieht. «Ich versuche, immer zu lächeln. Sie soll nicht sehen, wie düster es in mir aussieht. Ich bin oft sehr deprimiert. Ich fühle mich so verletzlich und unsicher. Die Schweizer können uns ja jederzeit zurückschicken, wenn sie wollen.»

Erinnerungen an eine unbeschwerte Zeit

«Witali ist meine grosse Liebe», sagt Lidia, und zum ersten Mal an diesem Sommertag strahlen ihre Augen. Sie hatten sich am Silvesterabend 2008 in einer Disco in Charkiw kennenlernt. Sie waren damals beide 23 Jahre alt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie zogen zusammen und lebten erst im 400 Kilometer südlich gelegenen Saporischja, Lidias Heimatstadt. 2016 heirateten sie, im gleichen Jahr kam Tiffany zur Welt.

Kurz darauf zogen sie nach Charkiw, in Witalis Heimatstadt. Schon damals herrschte im benachbarten Donbass Krieg – aber das Leben ging weiter. Sie besuchten zusammen Restaurants und Vergnügungsparks, genossen die umliegende Natur.

Witali sei ein toller Vater, sagt Lidia. Er habe sehr viel Zeit mit Tiffany verbracht. Die beiden seien sich sehr nahe gewesen. «Sie entfernt sich langsam von ihm. Sie vermisst seine Berührungen, will aber nicht mehr mit ihm reden am Telefon. Das macht mich sehr traurig.»

Lidia hat für ihre Tochter im Internet für wenig Geld ein rosa-violettes Trottinette ergattern können.

Lidia hat für ihre Tochter im Internet für wenig Geld ein rosa-violettes Trottinette ergattern können.

Witali im leeren Kinderzimmer seiner Tochter. Obwohl er aus Gesundheitsgründen nicht ins Militär muss, darf er die Ukraine nicht verlassen.

Witali im leeren Kinderzimmer seiner Tochter. Obwohl er aus Gesundheitsgründen nicht ins Militär muss, darf er die Ukraine nicht verlassen.

Für Witali ist der Familienalltag nur noch eine ferne Erinnerung. Manchmal geht er ins Zimmer von Tiffany, wo eine Kiste mit ein paar Spielsachen steht. An der Wand hängt rosa Dekoration. Mit seinem jetzigen Leben hat das nichts mehr zu tun. «Es wirkt alles fremd, wie aus einem anderen Jahrhundert», sagt er, als er auf seinem Mobiltelefon Ferienfotos aus Ägypten betrachtet.

Vom früheren Leben ist kaum mehr etwas übrig. Der Krieg hat die Familie nicht nur auseinandergerissen, er bedroht auch ihre Existenz. «Um die Wohnung zu kaufen, mussten wir Kredite aufnehmen. Ich schulde drei Banken je 10 000 Euro. Ich weiss nicht, wie ich das je zurückzahlen soll», sagt Witali besorgt. Zurzeit sind die Zahlungen gestundet, erlassen werden sie aber nicht.

Ungewisse Zukunft

Seit über drei Monaten haben sich Witali und Lidia nicht mehr gesehen. Lidia sagt, das Wichtigste sei, dass Witali überlebe und der Krieg zu Ende gehe. Auch wenn sie nochmals ganz von vorne anfangen müssten, Hauptsache, sie seien wieder zusammen. So unbeschwert und glücklich wie früher werde das Leben aber nie mehr sein. «Ich bin nicht mehr die Gleiche, und er auch nicht. So etwas verändert einen für immer.»

«Die Ukraine muss diesen Krieg unbedingt gewinnen», sagt Witali. Er selber war einst aus gesundheitlichen Gründen ausgemustert worden und wurde deshalb bisher nicht eingezogen. Doch Lidia hat grosse Angst, dass er plötzlich doch noch ein Aufgebot bekommt. Sie hat ihn mehrmals davon abgehalten, sich freiwillig zu melden. Ihre Tochter soll nicht ohne Vater aufwachsen.

Aber wäre es denn nicht wichtig, das Vaterland zu verteidigen? «In der Ukraine sterben täglich so viele Menschen. Das ist es nicht wert. Mit Maschinenpistolen werden wir die Russen sowieso nicht aufhalten können. Dazu wären mehr militärische Hilfe und mehr Druck auf Putin nötig», sagt Lidia entschieden.

Witali versucht nun, irgendwie ins Ausland zu kommen. Aber das ist wegen des Ausreiseverbots für Männer nicht einfach. Er denkt darüber nach, als Lastwagenfahrer zu arbeiten. «Für Lastwagenfahrer gibt es Ausnahmen, wenn sie etwa Hilfstransporte machen. Dann könnte ich wenigstens für ein paar Tage über die Grenze und meine Familie in den Arm nehmen. Den Führerschein habe ich schon.»

Früher war der Gorki Park ein beliebtes Ausflugsziel für die ganze Familie. Jetzt geht Witali allein durch den leeren, von Granaten beschädigten Park.

Früher war der Gorki Park ein beliebtes Ausflugsziel für die ganze Familie. Jetzt geht Witali allein durch den leeren, von Granaten beschädigten Park.

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