Wie die russisch-orthodoxe Kirche mit dem Krieg umgeht

Kann man von den russisch-orthodoxen Kirchgemeinden in der Schweiz erwarten, dass sie Putins Angriffskrieg verurteilen? Erkundungen in einer Parallelwelt.

In einer Seitengasse in der Berner Altstadt gibt es eine schwere Holztür. Wer sie öffnet und die Stufen in den Keller hinuntersteigt, findet sich in einer anderen Welt wieder. Das mittelalterliche Gewölbe erstrahlt in goldenem Licht, von der Decke hängen Kronleuchter, die Wände sind über und über mit Ikonen bedeckt. Das Herzstück der kleinen Kirche bildet die Ikonostase, eine reich verzierte Holzwand mit drei Türen. Gemäss orthodoxem Glauben trennt sie den Raum in einen irdischen und einen himmlischen Teil.

Es ist Donnerstagmorgen, und trotzdem sind rund fünfzig Gläubige zum Gottesdienst in die russisch-orthodoxe Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit gekommen. Es sind mehrheitlich Frauen aus Russland und der Ukraine, fast alle tragen ein Kopftuch.

Heute wird das Hochfest Mariä Verkündigung gefeiert, also jener Tag, an dem Maria von ihrer Empfängnis erfährt. Ein wichtiges Fest, wie Pfarrer Ioan Ciurin sagt: «Wir feiern heute die Menschwerdung Gottes. Es ist ein Moment der Liebe und der Hoffnung.»

Gläubige aus allen Ecken der Orthodoxie

Wird hier auch über den Krieg in der Ukraine gesprochen? Ioan Ciurin sagt: «Wir tun das, was die Kirche tun muss: Wir beten für den Frieden und die Versöhnung. Aber mit Politik haben wir nichts zu tun, also sprechen wir nicht darüber.» Die Gläubigen verstünden das, auch wenn der Krieg natürlich alle sehr beschäftige.

Rund fünfzig Gläubige sind am Donnerstagmorgen zum Gottesdienst in die Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit gekommen. Die meisten von ihnen sind Frauen.

Rund fünfzig Gläubige sind am Donnerstagmorgen zum Gottesdienst in die Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit gekommen. Die meisten von ihnen sind Frauen.

Über allem wachen die goldenen Ikonen.

Über allem wachen die goldenen Ikonen.

Die Gläubigen sind ins Gebet vertieft.

Die Gläubigen sind ins Gebet vertieft.

Heiligenschein und Kopftuch: Religiöse Symbolik spielt eine wichtige Rolle in der orthodoxen Kirche.

Auch die russisch-orthodoxen Kirchgemeinden in Basel und Zürich lassen auf Anfrage Ähnliches verlauten: Natürlich sei man gegen den Krieg, gegen das Töten. Aber zu politischen Zusammenhängen wolle man sich nicht äussern. Selbst im persönlichen Gespräch lassen sich die Geistlichen keine Kommentare zum russischen Präsidenten oder zur Kirchenführung in Moskau entlocken. Das Thema ist offensichtlich heikel.

Die Frage drängt sich auf: Kann man von den russisch-orthodoxen Kirchen in der Schweiz überhaupt erwarten, dass sie Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine als solchen benennen, ihn verurteilen?

Wirklich «russisch» sind die orthodoxen Kirchen in der Schweiz nicht. Sie sind ein Begegnungsort von Menschen unterschiedlichster Herkunft, die in erster, zweiter oder dritter Generation in der Schweiz leben. Die Gläubigen stammen aus Russland, Weissrussland, der Ukraine, Georgien, Serbien, Bulgarien, Kasachstan – aus allen Ecken der Orthodoxie. Dazu kommen einige Schweizer Konvertiten. Die Meinungen zum Krieg dürften fast so vielfältig sein wie die Nationalitäten der Kirchgänger.

Pfarrer Ioan Ciurin sieht darin kein Problem, sondern eine Chance: «Der Krieg spaltet die Menschen. Wir können gegen diese Spaltung vorgehen, die Einheit bewahren, indem wir eine Insel der Liebe und der Hoffnung sind.» Ciurin stammt ursprünglich aus der Moldau. Mit seinem vollen Bart und dem weiten, blau-goldenen Gewand ist er eine imposante Erscheinung. Er hat in Freiburg doktoriert und wurde 2012 zum Priester geweiht. Seit zehn Jahren leitet er hauptberuflich die russisch-orthodoxe Gemeinde in Bern, finanziert durch Mitgliederbeiträge und Spenden. Aus dem Ausland fliesse kein Geld an seine Kirche, betont er.

Pfarrer Ioan Ciurin steht der Berner Gemeinde vor. «Wir sind eine Insel der Liebe und der Hoffnung», sagt er.

Pfarrer Ioan Ciurin steht der Berner Gemeinde vor. «Wir sind eine Insel der Liebe und der Hoffnung», sagt er.

«Wir haben auf die gute Art und Weise dafür gesorgt, dass keine Diskussionen entstehen»

In einem schlichten Kellerraum eines Wohnhauses in Basel befindet sich die russisch-orthodoxe Kirche St. Nikolai. Der Geruch von Weihrauch hängt in der Luft, unzählige Ikonen und goldene Ornamente verleihen auch diesem Raum eine sakrale Note. Es ist das Reich von Pfarrer Pavel Golinski. Der kleine Mann mit dunklem Haar und gütigem Blick trägt ein graues Priestergewand, um seinen Hals hängt ein schlichtes Holzkreuz.

Golinski ist hier seit sechs Jahren ehrenamtlich tätig, seinen Lebensunterhalt verdient er mit einem Vollzeitjob in einer deutschen Firma. Am Abend und am Wochenende kümmert er sich um seine Gemeinde, die etwa zwei Dutzend Mitglieder umfasst.

Pfarrer Golinski ist Ukrainer, er stammt aus Odessa. Sein Bruder und seine Mutter sind immer noch in der Heimat. «Ich mache mir Sorgen.»

Pavel Golinski.

Pavel Golinski.

Jonas Roth

Und trotzdem gilt auch in dieser Gemeinde: Der Krieg bleibt an der Türschwelle zurück. «Natürlich waren alle schockiert, dass so etwas passieren kann», sagt Golinski. «Aber wir haben auf die gute Art und Weise dafür gesorgt, dass keine Diskussionen entstehen.» Der Pfarrer erklärt, was er damit meint: Mit seinen Predigten, mit Gebeten und Gesprächen habe er die Gemeindemitglieder beruhigt.

«Unsere Aufgabe ist es, zu beten, nicht Stellung zu nehmen. Wir ergreifen keine Partei, weil wir den Leuten Frieden bringen wollen. Damit vermeiden wir, dass in der Gemeinde Konflikte entstehen. Das war schon immer unser Ziel, auch in der Corona-Zeit.»

Zur Basler Gemeinde gehört seit kurzem auch eine Flüchtlingsfamilie aus der Ukraine. Zwei randvoll gefüllte Einkaufstaschen stehen in einem Nebenraum für sie bereit; es sind Lebensmittel, die andere Kirchgänger gespendet haben. «Unsere Nächstenliebe basiert nicht auf politischen oder nationalen Interessen», erklärt Pfarrer Golinski. «Wenn wir vor Gott stehen, fragt er auch nicht nach unserem Pass.»

Die Gläubigen wissen, wann sie sich bekreuzigen und wann sie sich hinknien sollen. Für den Aussenstehenden ist es schwierig, dem orthodoxen Gottesdienst zu folgen.

Die Gläubigen wissen, wann sie sich bekreuzigen und wann sie sich hinknien sollen. Für den Aussenstehenden ist es schwierig, dem orthodoxen Gottesdienst zu folgen.

«Molitwoslow» – ein Gebetbuch, das schon durch viele Hände gegangen ist.

«Molitwoslow» – ein Gebetbuch, das schon durch viele Hände gegangen ist.

Orthodoxe Gemeinden sagen sich von Moskau los

Auch wenn es in den beiden Kirchen in Bern und Basel kaum spürbar ist, hat der Ukraine-Krieg in der Welt der russischen Orthodoxie für Aufruhr gesorgt. Im Zentrum der Kontroverse steht Kirill, der Patriarch von Moskau und Vorsteher der russisch-orthodoxen Kirche. Kirill ist ein enger Vertrauter Putins und hat sich mehrfach unterstützend zur russischen Invasion in der Ukraine geäussert. Er sieht darin einen Kampf von «metaphysischer Bedeutung», um Russland vor westlichen Einflüssen wie «Gay-Paraden» zu schützen.

Orthodoxe, aber auch andere christliche Kirchenvertreter auf der ganzen Welt kritisierten Kirill für seine Äusserungen und forderten ihn dazu auf, den Krieg zu verurteilen. Ihre Rufe verhallten ungehört. In der Folge strichen mehrere orthodoxe Kirchen in der Ukraine und in der Diaspora Kirill aus ihren Gebeten. Einige Gemeinden, zum Beispiel in den Niederlanden und Deutschland, sagten sich gar vom Moskauer Patriarchat los und schlossen sich dem Patriarchat von Konstantinopel in Istanbul an.

In den russisch-orthodoxen Kirchen in Bern und Basel ist Patriarch Kirill weiterhin Teil des Gebets. «Das ist eine rein liturgische Tradition», sagt der Berner Pfarrer Ioan Ciurin. Er betont, dass seine Gemeinde nicht dem Moskauer Patriarchat unterstehe, sondern der russisch-orthodoxen Kirche im Ausland (Roka) mit Sitz in New York.

Auch die Gemeinde St. Nikolai in Basel gehört der Auslandkirche an. Die Roka war nach den Wirren der Oktoberrevolution von 1917 entstanden. Während Jahrzehnten distanzierte sie sich deutlich von der russischen Kirche in der Sowjetunion, die durch das kommunistische Regime gegängelt wurde. Erst 2007 kam es zur «kanonischen Wiedervereinigung» mit dem Moskauer Patriarchat. Ciurin sagt dazu: «Wir sind zwar liturgisch mit Moskau vereint, aber administrativ völlig autonom.»

Mehr als zweieinhalb Stunden dauert der Gottesdienst. Da darf man sich zwischendurch auch einmal hinsetzen.

Mehr als zweieinhalb Stunden dauert der Gottesdienst. Da darf man sich zwischendurch auch einmal hinsetzen.

Eine der unzähligen Ikonen, die an den Wänden hängen.

Eine der unzähligen Ikonen, die an den Wänden hängen.

Das orthodoxe Kreuz hat zwei gerade und einen schrägen Querbalken.

Das orthodoxe Kreuz hat zwei gerade und einen schrägen Querbalken.

Wo man in der Berner Kirche auch hinblickt – überall sieht man Gold.

Der Krieg stellt die Gemeinden vor ein Dilemma

Im Gespräch betont Pfarrer Ciurin, dass es nicht die Aufgabe jeder einzelnen Pfarrei sein könne, sich zum Krieg zu äussern. Das sei die Aufgabe des obersten Hierarchen. Tatsächlich hat dieser am 24. Februar, am ersten Tag der russischen Invasion, eine Erklärung abgegeben.

Darin nimmt Hilarion Kapral, der Vorsteher der Auslandkirche, Bezug auf die «Geschehnisse im ukrainischen Land». Er ruft die Gläubigen dazu auf, auf übermässigen Nachrichtenkonsum zu verzichten, um «unsere Herzen vor den von den Massenmedien entfachten Leidenschaften zu verschliessen und gleichzeitig unsere inbrünstigen Gebete für den Frieden in der Welt zu verdoppeln». Auch diese Äusserungen sorgten für Misstöne – Hilarion habe es versäumt, den Krieg als solchen anzuerkennen und unterstütze damit die russische Propaganda, schrieben Kritiker.

Der Krieg in der Ukraine scheint sowohl die kirchlichen Würdenträger als auch die Gemeinden vor ein Dilemma zu stellen. Der Ostkirchen-Experte Stefan Kube von der ökumenischen Fachstelle G2W in Zürich kann die zögerliche Haltung der Kleriker nachvollziehen: «Sie versuchen, ihre Gemeinden vor der Spaltung zu bewahren. Ob sie sich politisch positionieren oder nicht – sie müssen mit Kritik rechnen. Also konzentrieren sie sich auf die Liturgie und beten für den Frieden.»

Die Kirche engagiert sich für Flüchtlinge

So macht es auch die russisch-orthodoxe Auferstehungskirche in Zürich; mit mehr als zweihundert regelmässigen Kirchgängern gehört sie zu den grössten Gemeinden der Schweiz. Daniel Schärer ist vor 32 Jahren zur Orthodoxie konvertiert und waltet heute als Diakon. Er ist gewissermassen die rechte Hand des Pfarrers.

Auf Anfrage der NZZ schreibt er: «Die Leute sind wütend, verzweifelt, desorientiert und brauchen geistlichen Beistand.» In der Gemeinde äussere man sich aber bewusst vorsichtig, weil die Meinungen weit auseinandergingen. «Es geht uns um den inneren Frieden der Gemeinde und darum, wirklich für alle offen zu bleiben.»

Daniel Schärer.

Daniel Schärer.

Annick Ramp / NZZ

Die Auferstehungskirche in Zürich ist, anders als die Gemeinden in Bern und Basel, dem Moskauer Patriarchat unterstellt. Auch hier wird Patriarch Kirill im Gebet kommemoriert. Die Zürcher Kirchgemeinde habe auch im Kalten Krieg zum Patriarchat gehalten. Wäre nun eine Lossagung von Moskau denkbar? «Das sehe ich eher nicht. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die Mitglieder der Kirchgemeinde dahinterstehen würden», schreibt Daniel Schärer.

Schärer betont, dass man in der Auferstehungskirche nicht nur für den Frieden bete, sondern auch aktiv Flüchtlinge aus der Ukraine unterstütze. Mitglieder der Gemeinde würden sich als freiwillige Übersetzer engagieren. Der kirchliche Sozialdienst vermittle Wohnungen an Geflüchtete, sammle Spenden und übernehme die Kosten für Ernährung und Kleider.

Immer wieder werden während des Gottesdienstes Kerzen angezündet, um der Verstorbenen zu gedenken.

Immer wieder werden während des Gottesdienstes Kerzen angezündet, um der Verstorbenen zu gedenken.

Je grösser, desto teurer: Beim Eingang der Kirche kann man Kerzen erstehen.

Je grösser, desto teurer: Beim Eingang der Kirche kann man Kerzen erstehen.

Die Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit in Bern finanziert sich über Mitgliederbeiträge und Spenden.

Die Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit in Bern finanziert sich über Mitgliederbeiträge und Spenden.

Beim Eingang kann man Kerzen kaufen oder Spenden abgeben – damit finanziert sich die russisch-orthodoxe Kirche in Bern.

Eine Umarmung für die Flüchtlinge

Zurück in Bern, wo der Gottesdienst zu Ehren Marias nach über zweieinhalb Stunden zu Ende geht. Langsam leert sich der Raum, die Kerzen werden gelöscht. Einige Frauen bleiben zurück, um mit Pfarrer Ioan Ciurin das Gespräch zu suchen. Sie sind sichtlich aufgewühlt. Der Priester nimmt sich Zeit für sie, hört den Frauen zu, während ihnen die Tränen über das Gesicht laufen. Zum Abschied bekreuzigt und umarmt er sie.

«Das waren Flüchtlinge aus der Ukraine», erklärt Ciurin kurz darauf; sein prunkvolles Priestergewand hat er mittlerweile ausgezogen. Mindestens ein Viertel der Gläubigen an diesem Morgen seien ukrainische Geflüchtete gewesen, sagt der Pfarrer. «Sie kommen in unsere Kirche, weil sie hier in dieser schweren Zeit Trost finden. Selbstverständlich unterstützen wir sie, wo wir können.»

Und was hat Ciurin zu den weinenden Frauen gesagt? «Dass sie hier willkommen sind. Dass sie hier ein Zuhause, Brüder und Schwestern gefunden haben.»

source site-111